Das Fernrohr.

Humoreske von Freiherrn v. Schlicht.
in: „Hamburger Fremdenblatt” vom 16.Mai 1896 und
in: „Deutsches Heim” Jahrgang 1895/96, Seite 717-719
(Sonntagsbeilage zur „Berliner Zeitung”), 9.8.1896


Mein Neffe Walther — er gibt viel darauf, daß sein Name richtig, d. h. mit einem „h” geschrieben wird, ist ein richtiger Junge. Groß und schlank gewachsen, glaubt er bei seinen vierzehn Jahren noch zu jung zu sein, um sich ernstlich mit den Wissenschaften befassen zu müssen; dafür treibt er sich den ganzen Tag auf der Straße herum, spielt Fußball und schießt mit seinem Catapult Katzen und Fensterscheiben und in der Tasche seines Beinkleides trägt er mehr Sachen, als ein Hausirer in seinem Bündel. Als ich meinen Herrn nun kürzlich nach einem Bindfaden fragte, zog er aus der Tasche Marmel, lose Cigaretten, Messer, Streichhölzer, Bleifeder, den Schülerfreund und endlich ein Stück Bindfaden hervor. Aber als ich dachte, nun wäre sein Reichthum erschöpft, griff er noch einmal in die Tasche: „Sieh' Onkel, ist Das nicht fein, die habe ich heute Mittag im Walde gefunden,” und er hielt vor meinen Augen eine todte Kreuzotter. Selbstverständlich ist er auch ein großer Sammler vor dem Herrn; er hat ein Album für Liebig-Bilder und für Postkarten mit Ansichten und endlich eins für Freimarken. Die letzteren darf ich ihm zum großen Theil liefern, und als er das letzte Mal bei mir war, um sich auszusuchen, was er nur immer gebrauchen konnte — und was können Jungen nicht gebrauchen? sagte er plötzlich zu mir:

„Es ist nur gut, Onkel, daß ich mir heute die Freimarken aussuchen darf — morgen Nachmittag hätte ich auch keine Zeit gehabt.”

„Mußt Du, Schlingel, morgen schon wieder nachsitzen?” fragte ich. Aber in seiner Würde als Oberquartaner gekränkt, richtete er sich stolz auf:

„Nein, Onkel, ich brauche nie mehr nachzusitzen, vorigen Sonnabend war es das letzte Mal.”

„Wollen es hoffen,” gab ich zurück, „aber was hast Du denn morgen vor?”

„Aber Onkel, Das weißt Du nicht mal? Morgen ist doch mein Geburtstag.”

Ach Gott ja — richtig, das hatte ich ganz vergessen, nur gut, daß der liebe Walther mich in so diplomatischer Weise daran erinnerte.

„Wie alt wirst Du denn?” fragte ich, um mein Interesse an dem bevorstehenden Feste zu bekunden.

„Fünfzehn, lieber Onkel.”

Das epitheton ornans „lieber”, mit dem Walther sehr sparsam umzugehen pflegt, hielt ich der Erwartung eines großartigen Geschenks meinerseits zu Gute

Zu meiner Schande muß ich gestehen, daß ich noch Nichts für ihn gekauft hatte, und schenken muß ein Onkel doch etwas, sonst ist er kein Onkel.

„Wünschest Du Dir denn auch etwas?” fragte ich in möglichst gleichgiltigem Ton. Aber kaum hatte ich dies Wort ausgesprochen, als Walther mit einem Sprung, der einem Circusclown einen dreimaligen Hervorruf eingetragen hätte, auf meinem Knie saß, seine Arme um meinen Hals schlang und sich zärtlich an mich schmiegte.

Meine Erwartungen waren hoch gespannt.

„Na, was ist es denn?”

„Ein Bicycle, mein lieber Onkel.”

Jetzt war ich sogar schon „mein lieber”.

„Na, bescheiden bist Du gerade auch nicht,” gab ich zurück. Aber er beeilte sich, mich eines Besseren zu belehren.

„Ach, Onkel, Du weißt gar nicht, wie lächerlich billig die Räder heutzutage sind. Für zweihundert Mark bekommst Du schon ein wunderschönes.”

„Aber ich will ja gar keins holen.”

„Doch Onkel,” versetzte er sehr ernsthaft, „doch willst Du eins holen und es mir dann schenken.”

„Nein, mein Junge,” erwiderte ich, „mache Dir keine Hoffnungen. Das übersteigt meine Mittel. Was sagt denn Dein Papa dazu?”

„Dem ist es auch zu theuer,” klagte er.

„Dann wirst Du Dich wohl bis zum nächsten Jahre gedulden müssen.”

„Aber Onkel, ich wünsche es mir doch so schrecklich,” klang es in weinerlichem Ton zurück.

„Fassung, Knabe,” tröstete ich ihn, „sieh', auch ich wünsche mir Manches „schrecklich”, z. B. einen Viererzug nebst dem nöthigen Kleingeld, um ihn unterhalten zu können, den Hauptgewinn in der Lotterie und vieles Andere; auch ich muß mich darin finden, daß ich es nicht bekomme.”

„Und ich krieg' es wirklich nicht von Dir?” fragte er traurig.

„Nein, mein lieber Junge, wirklich nicht. Wäre ich Vanderbilt, ich würde Dir sämmtliche Fahrräder Europas schenken, so aber mußt Du Dich mit einer geringeren Gabe begnügen.”

Die Aussicht, wenigstens etwas geschenkt zu bekommen, ließ schnell die Thränen aus seinen Augen verschwinden.

„Ach, Onkel, dann schenk mir bitte ein Fernrohr.”

„Was für ein Ding?” fragte ich, denn ich glaubte nicht richtig gehört zu haben.

„Ein Fernrohr, Onkel, weißt Du, so eins zum Auseinanderziehen.”

„Aber was willst Du denn nur damit?” fragte ich.

„Haben, Onkel.”

Gegen diesen stichhaltigen Grund war schwer etwas einzuwenden, dennoch versuchte ich es:

„Warum in die Ferne schweifen — wenn auch nur mit den Augen,” — sprach ich zu ihm, — „sieh, das Gute liegt so nah. Willst Du mit dem Fernrohr die Entfernung zwischen Dir und Deinen Schulbüchern betrachten oder was willst Du sonst durch dasselbe beaugenscheinigen?”

„Die Natur, lieber Onkel.”

„Seit wann bist Du denn Naturschwärmer?” fragte ich, „ich habe bis zur Stunde immer geglaubt, Dich interessirten nur die Knicks, hinter denen Du Deine schauderhaften Cigaretten rauchst.”

„Ich botanisire jetzt sehr viel,” war sein indirecte Antwort auf meine Frage.

„Mit wem denn?” erkundigte ich mich näher.

„Mit Fritz Hannes und seiner Schwester.”

„Wie heißt die denn?”

„Dora — ach Onkel, Du kennst sie doch — die mit den beiden dicken braunen Zöpfen.”

„Nein, ich kenne sie nicht,” gab ich zurück, „aber Dich lerne ich leider Gottes immer mehr als einen großen Schlingel kennen. Als ich so alt war wie Du, wußte ich noch gar nicht, daß es Mädchen auf der Welt gäbe.”

„Hattest Du denn keine Schwester, Onkel?”

Der Bengel war zu frech — so brachte ich denn das Gespräch wieder auf Das, was seinem Herzen augenscheinlich noch näher stand als Dora Hannes.

„Sieh mal, mein Junge, es wäre ja immerhin möglich, wenn auch im höchsten Grade unwahrscheinlich, daß ich mich im Laufe der Jahre einmal entschließen könnte, Dir Deinen Wunsch zu erfüllen — wie gesagt, ich glaube es aber kaum — welcher Art sollte denn das Fernrohr sein?”

„Eins zum Ausziehen, Onkel.”

„Gewiß, alle Ferngläser lassen sich auseinanderziehen, es handelt sich nur darum, ob es ein einfaches oder ein doppeltes, d. h. für ein oder für beide Augen sein soll.”

„Für eins, Onkel!”

„Für welches, für das rechte oder für das linke Auge?”

Eine Augenblick war er durch meine Frage verwirrt, dann sagte er:

„Onkel, hälst Du mich für so dumm, daß ich darauf hineinfalle? Natürlich für das rechte Auge, Du weißt doch, daß ich links weitsichtig bin.”

Na, nun war ich ja genau orientirt und nachdem Walther, die Taschen voller Freimarken, mich verlassen hatte, ging auch ich zur Stadt, um das Fernrohr zu kaufen. Etwas mußte ich ihm ja so wie so schenken, und da konnte es mir nur lieb sein, daß er mir seine Wünsche anvertraut hatte.

Nach einigem Suchen und Handeln fand ich, was ich brauchte, ein Fernrohr, das sich auseinanderziehen ließ, und zwar bis zu einer Länge von einem Meter zehn Centimeter — somit würde es sicherlich nicht nur alle Anforderungen, die Walther an sein Fernrohr stellte, erfüllen, sondern dieselben noch weit übertreffen.

Am Abend packte ich das Geschenk fein säuberlich ein und schrieb auf den Begleitzettel:

„Möchte dieses Fernrohr Dich so erfreuen, daß Du aus Dankbarkeit fortan fleißig und artig bist, auf daß das Rohr Dir fern bleibt.”

Schön war dieser Spruch ja nun gerade nicht geworden,aber es war doch wenigstens einer, und so wanderte er denn am nächsten Morgen mitsammt der Gabe hin zu dem Geburtstagskinde. Ich selbst würde im Laufe des Tages noch hinkommen, um persönlich zu gratuliren, ließ ich durch den Diener sagen.

Als ich am Mittag gegen ein Uhr die Wohnung meines Bruders betrat, öffnete mir auf mein Klingeln hin das Mädchen die Etagenthür mit einem Gesicht, als wenn sie in den letzten vierundzwanzig Jahren nur saure Gurken und sauren Aal zu essen bekommen hätte.

„Nun, Christine, warum sind Sie denn heute so vergnügt?” wollte ich fragen.

Da hörte ich aus dem Arbeitszimmer meines Bruders ein gar seltsames Geräusch. In regelmäßigen, aber sehr kurzen Zwischenräumen hörte ich etwas durch die Luft pfeifen und auf irgend etwas klatschend niederfallen. Und diesem Niederfallen folgte jedes Mal ein lautes Aufschreien und die im kläglichsten Ton gegebene Versicherung: „Ich will's auch ganz gewiß nicht wieder thun.”

Wenn nicht alle Anzeichen trügten, so wurde da drinnen Jemand barbarisch durchgeprügelt. Noch dazu an seinem Geburtstage!

Hier war es nicht geheuer, und schon wollte ich mich aufmachen und von dannen fliehen, aber die Neugier ließ mich bleiben, und so trat ich denn, nachdem ich vergebens angeklopft hatte, in das gemeinschaftliche Wohnzimmer.

In einer Sophaecke, in Thränen aufgelöst, saß meine liebe Schwägerin. Vor ihr stand der Geburtstagstisch ihres Walthers, der, wie das Geschrei verrieth, noch immer über dem väterlichen linken Knie lag.

Als meine Schwägerin mich gewahrte, fuhr sie mit einem leisen Aufschrei zusammen.

„Kinder, warum schreit Ihr heute denn Alle so?” fragte ich, „dabei kann man ja ganz ängstlich werden.”

„Um Gottes willen,” klagte sie, „laß Dich nur nicht von Hermann sehen, er ist schrecklich böse auf Dich.”

„Auf mich? Aber warum denn?”

„Ach, Du allein bist doch an dem ganzen Unglück schuld.”

Eine Frage nach dem „wieso, warum, weshalb” lag mir schon auf den Lippen. Da öffnete sich die Thür, und mein Bruder trat herein. Ich kenne ihn nun schon fünfundvierzig Jahre, aber noch nie hatte ich solchen Ausdruck grenzenloser Wuth in seinen Zügen gesehen, wie in diesem Augenblick. Unwillkürlich trat ich einen Schritt zurück.

„Ah, da bist Du ja,” redete er mich an. „Das trifft sich sehr gut, ich wollte zu Dir gehen, um mit Dir zu sprechen. Wollen wir in mein Zimmer gehen?”

„Willst Du mich etwa auch überlegen?” versuchte ich zu scherzen, aber ein Blick aus den Augen meines Bruders ließ mich verstummen.

Er ging voran, ich folgte schweigend, und wir betraten sein Zimmer, in dem Walther, mit beiden Händen eine gewisse Körperstelle reibend, weinend und klagend auf- und ablief.

„Ich gratulire Dir auch vielmals,” rief ich ihm zu — da aber brach der gute Junge in ein solches convulsivisches Schluchzen aus, worauf ich ihn am Arm nahm und zu seiner Mutter führte. Die würde ihn am besten zu trösten vermögen.

„Und nun sag mir, bitte, endlich, was denn eigentlich los ist?” sagte ich, als ich meinem Bruder wieder gegenüberstand.

„Sage Du mir, bitte, zunächst mal, wie Du auf den wahnwitzigen Gedanken gekommen bist, dem Jungen den thörichsten aller Wünsche zu erfüllen, und ihm ein Fernrohr zu schenken.”

Hinc” sagt der Spatz, „hinc illae lacrimae, das heißt auf Deutsch: Da haben wir den Thee,” citirte ich unwillkürlich.

Wie hatte doch mein schöner, selbstverfaßter Spruch gelautet: „Möchte dieses Fernrohr Dich so erfreuen, daß Du aus Dankbarkeit fortan fleißig und artig bist, auf daß das Rohr Dir fern bleibt.” Was nützen unsere besten Wünsche, wenn das Schicksal es anders bestimmt hat?

„Du bist mir noch die Antwort schuldig auf meine Frage,” klang da meines Bruders Stimme.

„Allerdings,” gab ich zurück, „weil ich wirklich nicht weiß, was ich Dir erwidern soll.”

„Aber hast Du Dir die Folgen denn gar nicht klar gemacht?”

„Welche Folgen? Die Folgen eines Fernrohrs? Nimm es mir nicht übel, aber die kenne ich nicht. Die Folgen der Influenza, übermäßigens Trinkens und Rauchens habe ich an mir selber kennen gelernt, aber die Folgen eines Fernrohres —”

„Sind unberechenbar,” unterbrach mich mein Bruder, „ich zittere noch, wenn ich daran denke, geh' zu Walther und laß es Dir von ihm selbst erzählen.”

„Siehst Du, Onkel,” klagte Walther mir darauf gleich sein Leid, „ich hatte mich heute Morgen so schrecklich über das Fernrohr gefreut, und um es den Kameraden zu zeigen, nahm ich es mit zur Schule, und sie fanden es Alle so fein und Jeder wollte es besehen, und es ging von Hand zu Hand, und als ich es wiederkriegte, da war es entzwei, da hatten sie die Fenster eingestoßen —”

„Welche Fenster?” fragte ich neugierig.

„Na, die Guck-Scheiben — die waren alle entzwei und da —”

„Und da?” half ich weiter, da er schwieg und mich ängstlich ansah.

„Da haben wir ein Pusterohr daraus gemacht — ach, Onkel, es ging zu fein,” betheuerte er, als er mein erstauntes Gesicht sah. „Du ahnst gar nicht, wie fein; es war so schön lang, da mußte man ja mit treffen, und Fritz Hannes hatte so schöne kleine Erbsen, und da haben wir damit geschossen.”

„Was denn? Etwa gar auf Fensterscheiben?”

„Nein, Onkel, auf den lateinischen Lehrer; weißt Du, er ist so furchtbar kurzsichtig, da wollten wir mal probiren, ob er wohl was merkte.”

„Natürlich in der Pause?” fragte ich.

„Ach, Onkel, die Pausen sind so furchtbar kurz.” Das klang so tragikomisch, daß ich unwillkürlich lachen mußte.

„Und was nun?” forschte ich weiter.

Da war es mit der Fassung des Geburtstagskindes vorbei.

„Und nun wollen sie mich hinauswerfen,” schluchzte er, „der Lehrer hat den Director geholt, und der hat zu mir gesagt, ich solle man nach Hause gehen und brauche nicht wiederzukommen, er werde an Papa schon schreiben.”

„Ach, bitte, lieber Onkel, hilf mir,” flehte er da plötzlich, „Du hast mir doch das Fernrohr geschenkt, ich habe mir ja auch gar nichts Böses dabei gedacht, aber ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, ich mußte seine Nase treffen.”

„Du bist wirklich ein unglaublicher Schlingel,” herrschte ich ihn an, „wenn Du solche Dummheiten machst, dann sieh selbst zu, wie Du Dich aus der Schlinge befreist,” und trotz seines Bittens und Flehens, ihm beizustehen, ging ich fort.

In meiner Absicht, sofort zum Director zu gehen, um das Menschenmögliche zu versuchen, wurde ich bestärkt, als ich in der Thür mit dem Schuldiener zusammenstieß, der einen großen Brief in der Hand trug. Unter dem Vorwande, mein Bruder sei nicht zu Hause, ich werde das Schreiben besorgen, nahm ich den Brief an mich, und eine Viertelstunde später stand ich vor dem mir befreundeten Director. Wohl eine Stunde sprachen wir gegenseitig auf einander ein, dann hatten wir uns geeinigt. Rücknahme der Relegation, öffentliche Abbitte Seitens Walthers in Gegenwart sämmtlicher Schüler und öffentlicher strenger Verweis.

Als ich bald darauf mit der frohen Kunde das Haus meines Bruders wieder betrat, riefen meine Worte eitel Jubel und Sonnenschein hervor. Am glücklichsten war natürlich Walther, und in vollem Ingrimm schleuderte er das Fernrohr, das an Allem schuld war, in den Ofen, gleichsam alle Spuren und Erinnerungen seines Leichtsinns verwischend.

„Onkel,” flüsterte er mir zu, „ich schwöre es Dir, ich will mir auch nie wieder ein Fernrohr von Dir wünschen.”

„Das ist brav von Dir,” entgegnete ich, aber im Stillen dachte ich: „Glaubt der Junge wirklich, daß ich ihm nochmals ein Fernrohr schenken würde?”


Fußnote:
Ein Neffe von Wolf Graf von Baudissin, Hugo, Sohn von Walther, dem Bruder von Wolf, ist am 13.Aug. 1880 geboren, war also zur Zeit des Erscheinens der obigen Erzählung 15 Jahre alt.


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