Manöver-Humoreske von Freiherr von Schlicht,
in: „Zeitung für Stadt und Land”, (Riga), vom 10.9.1894,
in: „Prager Tagblatt” vom 14.9.1894,
in: „Dortmunder Zeitung” vom 16.9.1894,
in: „Gladbacher Volkszeitung” vom 20.9.1894,
in: „New Orleans Deutsche Zeitung” vom 23.9.1894,
in: „Trierische Landeszeitung” vom 14.5.1900 und
in: „Militaria”
Es gab auf der ganzen Welt und in der ganzen preußischen Armee keinen tüchtigeren Offizier als den Lieutenant Briening: er war der beste Schütze, der tüchtigste Zugführer, der hervorragendste Marschierer, der tadelloseste Reiter, kurz, es gab nichts, was der Lieutenant Briening nicht konnte — allerdings nur nach seiner eigenen Meinung, denn die Ansicht seiner Vorgesetzten und seiner Kameraden ging dahin, daß er, besonders in der Taktik oder, wie es bei den Soldaten heißt, im Tiktak, so gut wie gar nichts, vielleicht noch etwas weniger leiste. Aber während die meisten Offiziere sich um das Urteil ihrer Vorgesetzten kümmern und aus der Kritik, die ihrem Thun und Treiben zu teil wird, zu lernen suchen, war Briening über dergleichen Kleinigkeiten erhaben. Ihm imponierte nichts und niemand, er war so groß, daß die älteren Kameraden vergebens versuchten, ihn durch ihre Strafreden einmal „klein zu kriegen”; doch es gelang ihnen nie. Geduldig hörte Brniening alle Reden an, wenn aber der Tadelnde seinen Wortschwall erschöpft hatte und dachte: „Nun, dieses Mal hast du es ihm tüchtig gegeben,” dann erhob Briening stolz sein Haupt und sagte: „Was Sie mir da soeben auseinandergesetzt haben, ist ja alles ganz gut und schön — aber recht habe ich doch.”
So begann allmählich sich eine gewisse feindliche Stimmung gegen ihn zu bilden, man fing an, seinen Verkehr zu meiden, weil er niemanden als sich selbst zu Worte kommen ließ, und alles, was die anderen sagten, „als leeren Unsinn estimierte”, und alle hatten nur den einen, allerdings etwas unkameradschaftlichen Wunsch, daß Briening einmal etwas gehöriges auf den Chapeau-Hut bekäme.
So kam das Manöver heran. Mit klingendem Spiel, gefolgt von einer unzähligen Menschenmenge, verließen die Truppen am frühen Morgen die Stadt. Stolz und siegesbewußt ging Briening neben seinem Flügelmann und ließ seine Blicke forschend umherschweifen, und wo immer hinter den halb zugezogenen Gardinen sich ein blonder Mädchenkopf zeigte, salutierte er mit einer Würde und süßlichen Vertrautheit, als wenn die jungen Damen alle nur seinetwegen aufgestanden wären; denn bescheiden, wie er war, hielt er sich nicht nur für den tüchtigsten, sondern auch für den schönsten Offizier der Armee.
„Bitte, Herr Lieutenant, bleiben Sie mit Ihrer Sektion weiter ab, ein alter Offizier wie Sie, könnte es nachgerade auch wissen, daß Sie von dem Pferde sechs Schritt Abstand halten müssen,” hauchte ihn sein Compagniechef an, dem er die reine Dornhecke im Auge war.
„Zu Befehl, Herr Hauptmann.” Aber unbekümmert um die zornigen Blicke seines Vorgesetzten zog er die Felddienstordnung aus der Tasche, schlug die Seite auf, in der die Tiefengliederungen angegeben sind und bewies seinem Vorgesetzten schwarz auf weiß, daß er doch recht gehabt hätte. Das war auch eine niederträchtige Angewohnheit von ihm, daß er sämtliche gedruckten Vorschriften stets in der unergründlich tiefen Tasche seines Waffenrocks bei sich trug und sie bei der geringsten Veranlassung herausholte. Hatte er zufällig einmal recht, so hatte er natürlich immer recht, war er dagegen im Unrecht, so hatte er versehentlich die alte Ausgabe jenes Buches bei sich, in der neuen stand es anders, selbstverständlich so wie er es gesagt hatte.
Seit drei Wochen war man nun schon im Manöver und Briening wurde immer unausstehlicher, jedes Mißgeschick war ihm bisher fern geblieben, ja er hatte sogar einmal das Glück gehabt, daß bei dem Parademarsch sein Zug als besonders stramm und schneidig gelobt worden war, und das hatte natürlich nur dazu beigetragen, seinen Eigendünkel um mindestens 999/10 Prozent zu erhöhen.
So kam der vorletzte Manövertag heran. Bis zum Mittag hatte die heiße Schlacht getobt, und dann waren die Truppen in das Bivouac gerückt. Während die Mannschften mit dem Graben der Kochlöcher beschäftigt waren, standen die Offiziere zu einer Gruppe vereinigt bei einander und unterhielten sich über die am nächsten Tage bevorstehende Heimfahrt in die Garnison.
Da kam auf schaumbedecktem Pferd ein Adjutant herangesprengt: „Brigadebefehl: Alle Anzeichen deuten darauf hin, daß der Feind heute im Laufe des Abends einen Vorstoß machen wird. Das Regiment hat daher eine Feldwache auszustellen und für die Sicherung der ruhenden Abteilung Sorge zu tragen.”
Allen Offizieren erstarrte das Blut. Das fehlte gerade noch, heute am letzten Tage auf Feldwache zu ziehen, heute bei dem sogenannten Freudentrunk, wo der Schlummerpunsch, den man abends mit seinen Kameraden trinkt, die Hauptsache ist, wo die Mannschaften, die am nächsten Tag zur Entlassung kommen, im Lager ihren Humbug treiben, wo die Regimentsmusik spielt und die Dorfschönen aus der ganzen Umgebung zusammenströmen — heute auf Feldwache? Lieber sterben! Wen würde das Geschick ereilen?
Da erklang die helle, scharfe Stimme des Kommandeurs. „Herr Lieutenant Briening, darf ich Sie bitten, mit Ihrem Zuge auf Feldwache zu ziehen?”
„Zu Befehl, Herr Oberst.”
Militärisch legte er die Hand an den Helm, machte seine stramme Kehrtwendung und einen Augenblick später hörte man sein Kommando: „Der dritte Zug der achten Compagnie — an die Gewehre!”
Erleichtert atmeten die Zurückbleibenden auf, dann aber fühlten sie Mitleid mit dem Kameraden, der „ungegessen und ungetrunken” wieder von dannen mußte, er war schließlich doch auch ein Mensch und mußte ebensogut wie sie selbst todmüde sein von dem ewigen Herumlaufen und von dem Gekletter über Stock und Stein. Ja wahrhaftig, der arme Kerl that ihnen leid — und einer nach dem andern trennte sich von dem Kreise, um dem armen Kameraden noch ein Wort des Trostes und einen Schluck aus der Feldflasche mit auf den Weg zu geben. Erstaunt blickte Briening auf, als sich die Freunde ihm näherten.
„Dürfen wir Ihnen irgend etwas mitgeben, etwas zu essen oder zu trinken oder zu rauchen? Fassen Sie Ihr Geschick nicht zu traurig auf.”
Verwundert sah der Angeredete die Freunde an: „Ich sollte traurig sein? Worüber? Eine Feldwache wird doch nur ausgestellt, und daß der Kommandeur dieselbe gerade mir überträgt, ist eine Auszeichnung, für die ich nicht dankbar genug sein kann; ist es mir doch ein neuer Beweis, daß der Oberst Vertrauen zu mir hat, und daß er davon überzeugt ist, daß ich die Aufgabe besser lösen werde, als irgend ein anderer. Was sollte ihn sonst wohl veranlassen, gerade mich zu schicken?”
„Der leidet an Größenwahnsinn,” sagte einer der Kameraden, als sie wieder fortgingen.
„Ganz recht,” bestätigte ein anderer, „heute Morgen erzählte er mir, er habe kürzlich gelesen, daß einer unserer tüchtigsten Generale einmal geäußert, er verdanke seine geistige und körperliche Frische nur dem Umstand, daß er sich schon von dem ersten Tage seines Dienstantritts an täglich über Mittag zwei Stunden in das Bett gelegt habe. Nun ahmt er der alten Excellenz nach und schnarcht des Mittags, daß die Wände zittern.”
„Na, dann ist ihm ja der Kommandierende sicher,” lautete die Entgegnung, „jetzt wollen wir uns aber um unser Essen kümmern.”
Unterdessen marschierte Seiner Majestät schönster Offizier mit seiner Feldwache durch das Gelände. Der Punkt, auf dem er sich ungefähr aufzustellen hatte, war ihm von seinem Compagniechef auf der Karte gezeigt worden.
„Heute gegen Abend, wenn mein Pferd sich etwas erholt hat, komme ich zu Ihnen herausgeritten, ich bin fest davon überzeugt, daß wir nicht angegriffen werden, aber schicken Sie vorsichtshalber einige Patrouillen ab und suchen Sie Fühlung mit dem Feinde zu gewinnen.”
Hinter einer Anhöhe, in einer Sandkuhle, machte er mit seiner Schar Halt, stellte seine Posten aus, entsandte seine Patrouillen und verglich das, was er gethan, mit dem, was die Felddienstordnung verlangte. Wohlgefällig betrachtete er sein Werk: die Posten standen so, daß sie das ganze Vorgelände übersehen konnten, ohne selbst vom Feinde bemerkt zu werden, der Auftrag, den er den Patrouillen gegeben hatte, war klar und deutlich und schloß jedes Mißverständnis aus, er war, wie schon so oft in seinem Leben, wieder einmal mit sich zufrieden. Ihm fehlte zu einem vollständigen Glück weiter nichts, als daß seine Vorgesetzten erschienen, um seine Anordnungen zu loben. Aber die kamen nicht, die lagen in ihren Zelten, die die Burschen ihnen aufgeschlagen hatten, und schliefen den Schlaf des Gerechten.
Und Stunde auf Stunde verrann: wenn Briening sich die Sache richtig überlegte, so war es doch auf Feldwache eigentlich entsetzlich langweilig. Das Sandloch, in dem er lag, entbehrte jeglichen Reizes, kein Baum, kein Strauch war zu entdecken, nur vereinzelt lagen einige Tannenäpfel herum, die wenigstens doch den Gedanken an einen Baum aufkommen ließen, wenn sie auch nicht selbst aufkamen. Mit dem Fernrohr bewaffnet, besah er sich das Gelände, vom Gegner war nichts zu sehen, nur in weiter Ferne erblickte er seine Patrouillen, die dort herumliefen.
„Ich begreife es gar nicht,” sagte Briening zu dem Gefreiten, als die vierte Patrouille unverrichteter Sache zurükkam, „wir müssen Fühlung mit dem Feinde gewinnen, verstehen Sie, wir müssen! Ruhen Sie sich eine kleine halbe Stunde aus und dann machen Sie sich von neuem auf den Weg. Was soll der Hauptmann von uns denken, wenn er heute Abend hierherkommt und uns über den Gegner so im Unklaren findet!”
Nicht gerade freudigen Antlitzes vernahm der Gefreite diesen Befehl; aber nach einer halben Stunde zog er mit seinen zwei Mann wieder von dannen, fest entschlossen, selbst wenn er nicht das Geringste vom Feinde sähe, dennoch die glaubwürdigsten Mitteilungen über die Aufstellung des Gegners zu bringen, das Laufen hatte er nachgerade satt.
Die Dunkelheit brach herein und noch immer lag Briening einsam und verlassen in seiner Sandkuhle. Kein Vorgesetzter ließ sich sehen. Was sollten sie auch schließlich hier, zu verdenken war es ihnen wahrlich nicht, wenn sie nach des Tages Mühen und Lasten sich nicht von ihrem Strohlager loszureißen vermochten. Nur er wachte, er ganz allein von dem ganzen Regiment; ein Gefühl des Stolzes durchdrang ihn von neuem und verscheuchte für einen Augenblick die Unruhe, die ihn seit einer Stunde ergriffen hatte. Wo war der Feind? Er stand vor einem Rätsel. Auf seine Patrouillenführer konnte er sich verlassen, das waren tüchtige, pflichttreue Soldaten, die keine Anstrengung scheuten, um den ihnen gewordenen Auftrag auszuführen. Aber wo war der Feind?
Schon neun Uhr und noch immer keine Meldung. Von dem Bivouacplatz her erklangen die Töne des Zapfenstreichs, dem das Lied „Wir beten an die Macht der Liebe” folgte. Eine feierliche Stimmung ergriff ihn und überwältigt von der Gewalt der Töne vergaß er alles um sich herum.
Jetzt schwieg die Musik; im Geiste hörte er das Kommando „Weggetreten” und sah die Leute sich niederlegen, während die Offiziere sich vor dem Zelte des Kommandeurs zu einer neuen, aber nicht zu der letzten Bowle vereinigten; die kam erst viel, viel später. Er kannte das Bivouacleben, so manchesmal hatte er es schon durchgemacht und er lächelte glückselig in der Erinnerung an die froh verlebten Stunden. Aber plötzlich erstarb das Lächeln auf seinen Lippen.
„Legt an! Feuer! Geladen!”
Eine Salve krachte nach der anderen.Was war das?
Eine Sekunde saß er regungslos, ohne daß er es vermocht hätte, sich zu rühren, dann aber sprang er auf: „An die Gewehre!” — und einen Augenblick später hatte er seine Verteidigungsstellung eingenommen!
Noch immer krachten die Salven, dann ein gellendes „Hurra” und das Signal „das Ganze Halt!”
Briening faßte sich an die Stirn, wachte oder träumte er? Wie war es möglich, daß der Feind anrücken konnte, ohne von ihm bemerkt und beschossen zu werden?
Da hörte er einen Reiter im Galopp auf sich zukommen, es war der Adjutant, der ihm den Befehl brachte, sich bei dem Kommandeur einzustellen.
Als er das Zelt betrat, fand er dort bereits alle Offiziere zur Kritik versammelt, und es entging ihm nicht, daß bei seinem Eintritt die Kameraden lächelten, während sich auf der Stirn des Vorgesetzten finstere Falten zeigten.
„Herr Lieutenant Briening, darf ich Sie bitten, mir zu sagen, welche Anordnungen Sie auf Feldwache getroffen haben?”
„Zu Befehl, Herr Oberst!” — und klar und deutlich meldete er, was er zur Sicherung der ruhenden Abteilung gethan habe.
„Herr,” donnerte ihn plötzlich der Kommandeur an, „wissen Sie, was Sie gemacht haben? Sie haben dem Feinde den Rücken zugekehrt und haben Ihre Patrouillen nach einer Richtung gesandt, in der der Gegner sich nie und nimmer befinden konnte — es hätte denn schon sein müssen, daß der feindliche Führer ein ebenso unbedeutender Stratege gewesen wäre, wie Sie, Herr Lieutenant. Ich bestrafe Sie mit drei Tagen Stubenarrest und gebe Ihnen Gelegenheit, sich etwas mit dem Kartenlesen anzufreunden.”
„Wenn das nicht zieht, zieht gar nichts mehr,” flüsterte ein Kamerad heimlich dem anderen zu, und gebrochen an Leib und Seele wankte der Getadelte aus dem Zelt.
„Seien Sie nicht so traurig,” tröstete ihn ein Kamerad, der Briening gar nicht leiden konnte, „jede Sache hat auch ihr Gutes. Denken Sie, wie schön Sie jetzt im Bett schlafen können; wenn der Mittagsschlaf schon den kommandierenden General macht, so bringen drei Tage und drei Nächte im Bett Sie doch sicher zum Kriegsminister.”
Einen Augenblick schien es, als wenn Briening sich auf den Kameraden stürzen wollte, dann aber machte er Kehrt und verschwand in der Dunkelheit.
Wenn Briening auch nicht Kriegsminister geworden ist und es wahrscheinklich auch nie werden wird, so hatte die Sache wenigstens das Gute, daß er um 999/10 Prozent „kleiner” wurde.