Humoreske von Freiherr von Schlicht.
in: „Humoresken und
in: „Humoresken und Erinnerungen”
„Und wo treffe ich dich morgen?” fragte der Assessor von Bernau seinen Freund, als sie abends Arm in Arm aus dem Restaurant fortgingen.
„Morgen wirst du dir die Zeit schon ohne mich vertreiben müssen,” erwiderte sein Kollege Blankenburg, „eine Einladung, ein Familiendiner —”
„Um Gottes willen,” unterbrach ihn derandere, „sprich das Wort nicht aus in meiner Nähe, ich mag es nicht hören.”
„Aber ich verstehe dich nicht, was kann es Schöneres geben, als bei einem guten Diner einmal wieder mit allen Familienmitgliedern zusammen zu sein, Jugenderinnerungen auszutauschen und die vielen gemeinschaftlichen Interessen zu besprechen?”
„Du hast recht, aber nur in der Theorie, in der Praxis verhält sich die Sache leider oft anders. Auch ich liebe den Familienverkehr, und welcher halbwegs vernünftige Europäer täte das nicht! Aber ein Familiendiner? Mich schaudert's, wenn ich nur daran denke. Du weißt, ich bin ohne jeglichen Familienanhang groß geworden; ob meine früh verstorbenen Eltern Geschwister besaßen, kann ich nicht sagen, auf jeden Fall haben sie sich nie um mich gekümmert. Was Verwandte sind, erfuhr ich erst, als ich mich verlobte, da aber auch gründlich. Meine Braut, einem alten Patrizierhause entstammend, zählte fast die Hälfte der ganzen Einwohnerschaft zu ihren Verwandten. Man weiß ja, wie das so geht, es wird immer in der Familie geheiratet, der Vetter erwählt die Cousine zur Lebensgefährtin und umgekehrt, und wenn dann schließlich einmal einer oder eine sagt: ,Die Sache wird auf die Dauer langweilig, warum soll nicht auch einmal ein fremder Mensch, ein neues, frisches Element in die Familie hineinheiraten,' dann sind sämtliche Onkel und Tanten, nebst den dazu gehörigen Vettern, Cousinen, Neffe, Nichten und Enkeln vollständig außer sich und betrachten die oder den also Sprechenden als einen Abtrünnigen. So auch bei meiner Braut. Seit fünfunfzwanzig Jahren war es das erstemal, daß ein Mädchen der Familie nicht einen ihrer Vettern heiraten wollte, und du kannst dir das Entsetzen vorstellen, das ich mit meinem Antrage heraufbeschwor. Verwundert, erstarrt, gleich Lots Frau in eine Salzsäule verwandelt, hörte meine Schwiegermutter in spe meine Werbung an und entschied schließlich dahin, daß, wenn die Verwandten nichts dagegen einzuwenden hätten, auch sie dem Glück ihrer Tochter nicht entgegenstehen wolle. Nun begann meine Brautwerbung. Jeder vernünftige Mensch hält doch nur bei den Eltern um die Hand der Tochter an, aber so billig kam ich nicht davon. Ich bestellte mir einen hocheleganten Wagen nebst weißbehandschuhtem Kutscher und Diener und fuhr von Haus zu Haus, zuerst zu einem alten, pensionierten Major. Infolge seiner großen Kurzsichtigkeit hatte er vor langen Jahren seinen Abschied nehmen müssen und lebte nun als Familienoberhaupt, damit beschäftigt, die bei einer so großen Verwandtschaft unvermeidlichen Reibereien und Feindseligkeiten zu schlichten. In wohlgesetzter Rede bat ich ihn, als den Ältesten der Familie, um die Hand seiner Nichte. „Ja, wenn die anderen nichts dagegen haben,” lautete die nach einigem Zögern erteilte Antwort. Ich stand auf und fuhr zu dem nächsten, um dasselbe zu sagen und dieselbe Antwort zu erhalten. Alle waren auf mein Kommen vorbereitet, alle wußten ganz genau, was ich wollte, aber niemand schenkte mir meine Rede, die ich wohl an fünfundsiebzig mal hielt, und alle gaben dieselbe Antwort: „Ja, wenn die anderen nichts dagegen haben,” Nun, selbst das schrecklichste Leiden nimmt, wenn auch manchmal spät, sein Ende, und nachdem ich endlich die Einwilligung sämtlicher Verwandten hatte, fiel ich in meinem Hotel in einen tiefen Schlaf. Am nächsten Tag mußte ich die Stadt wieder verlassen, um hierher zurückzukehren, vorher aber natürlich noch dem alten Major meinen Abschiedsbesuch machen. „Ich hoffe, daß ich das Vergnügen haben werde, Sie wieder bei mir zu sehen; ein einfaches Familiendiner, das ich Ihrer Braut, meiner lieben Nichte, und Ihnen zu Ehren zu geben gedenke, wird uns hoffentlich bald alle vereinen.” Gerührt dankte ich dem alten Herrn für seine Einladung, denn ich wußte nicht, was mir bevorstand.
Werde nicht ungeduldig, lieber Freund, nun bin ich bei dem Kern der Sache angelangt, und der ist bekanntlich immer kleiner als alles, was drum und dran hängt. Ich fuhr also ab und hatte dienstlich so viel zu tun, daß ich die Worte des alten Majors längst vergessen hatte, als mich eines Morgens ein von ihm diktierter und von ihm selbst mit seinen Krähenfüßen unterzeichneter Brief wieder daran erinnerte. „Aus den Mitteilungen unserer lieben Nichte wissen wir, wie sehr Sie dienstlich und außerdienstlich beschäftigt sind; bestimmen Sie selbst, ob das kleine Diner, von dem ich Ihnen sprach, an einem Sonnabend oder Sonntag sein soll,” lautete der Schlußsatz des Schreibens. Mir war dieses Anheimstellen sehr unangenehm, was sollte ich darauf antwoten, wußte ich doch gar nicht, an welchem Sonnabend oder Sonntag des Jahres das Essen stattfinden sollte. Ich konnte doch unmöglich zu unserem Vorgesetzten, der sowieso jedesmal bei dem Worte ,Urlaub' Krämpfe bekommt, hingehen und ihm sagen: „Ich werde voraussichtlich nächstens zu einer Gesellschaft eingeladen werden, kann ich darauf rechnen, dann auf Reisen gehen zu dürfen?” Bevor ich ihm daher antwortete, schrieb ich zunächst an meine Braut und teilte ihr mit, daß ich eine bestimmte Antwort erst dann geben könnte, wenn ich genau den Tag des Festes wüßte; manchmal hätte ich am Sonnabend zu tun und manchmal auch am Sonntag vormittag. Im allgemeinen passe mir der Sonnabend besser, da ich am Sonntag, um am nächsten Morgen rechtzeitig im Dienst zu sein, schon mit dem Nachmittagszuge wieder fortfahren müsse. Aber ich hatte nicht daran gedacht, daß der alte Major als früherer Offizier an militärische Pünktlichkeit gewöhnt sei. Schon am nächsten Tage erhielt ich eine Postkarte: „Sie werden meinen Brief erhalten haben, soll ich das Diner zum Sonnabend oder Sonntag rüsten? Eventuelle Essenszeit fünf Uhr.” Nun hatte er aber in der Ungeduld seines Herzens anscheinend nicht abwarten können, bis seine Frau, die ihm wegen seiner Kurzsichtigkeit die Korrespondenz besorgte, Zeit zum Schreiben fand, sondern mit seiner unglaublichen Handschrift die Karte selbst verfaßt. Mit Mühe entzifferte ich die Hieroglyphen, aber ein Wort vermochte ich selbst mit der Lupe nicht klar und deutlich zu lesen, hieß es ,zu' oder ,zum' Sonnabend. Ersteres hätte den Tag genau bezeichnet, während letzteres ebensowohl diesen wie jeden anderen Sonnabend bedeuten konnte. Nach einigem Überlegen, da die erbetene Antwort meiner Braut gerade da, wo sie nötig war, ausblieb, entschied ich mich für das erstere und ging zu meinem Vorgesetzten, der mir mit Rücksicht auf die außergewöhnlichen Umstände noch einmal ganz ausnahmsweise Urlaub gab. Dann schrieb ich den Brief, dankte für die liebenswürdige Rücksichtnahme auf meine Person und teilte ihm mit, daß mir der Sonnabend lieber wäre. Mit dem Schnellzug fuhr ich hinüber und hatte mein Kommen, als etwas ganz Selbstverständliches, in meinen Briefen nicht erwähnt. Ich fand meine Braut in der Laube, mit der Lektüre des neuesten Romans beschäftigt. Zu meiner Verwunderung bemerkte ich, daß sie eine halbe Stunde vor der festgesetzten Zeit noch nicht in Toilette sei. „Aber Kind,” rief ich vorwurfsvoll, „beeile dich, das Familiendiner —”
„Aber Bruno,” entgegnete sie, „das Diner ist doch erst heute über acht Tage. Heute morgen war Onkel hier, und wir haben den Tag mit Rücksicht auf dich festgesetzt.”
Nun war meine Geduld aber zu Ende, und ich schalt in unparlamentarischen Ausdrücken. Das kam von dem vielen Hin- und Herschreiben; nun war ich da, hatte Urlaub, kein Gedanke, daß ich in acht Tagen wiederkommen konnte; die einzige Lösung der schwebenden Frage wäre, daß der alte Major von meiner Ankunft benachrichtigt würde und umgehend das Diner rüste. Es müsse doch eine Kleinigkeit sein, in einer Stunde das Essen herbeizuschaffen.” Da kam ich aber schön an! Ja, wenn es nur nicht ein Familiendiner wäre, und noch dazu das erste, an dem ich teilnehmen sollte! Da mußte das Menü erst in feierlicher Familiensitzung beraten und besprochen werden, und wenn man zufällig oder unglücklicherweise das eine oder andere nicht bekommen konnte, mußte doch ein ganz neues Menü aufgestellt werden. Es sollte bei diesem Diner Steinbutt und Hamburger Küken geben, wenn aber kein Steinbutt zu haben wäre, müßte es einen anderen Fisch, vielleicht Lachs, geben, und auf Lachs könne doch unmöglich helles Fleisch folgen, daher müßte auch das Geflügel anders bestimmt werden. „Halt' ein,” bat ich, „du bringst mich zur Verzweiflung, auch so glaube ich dir, daß du eine gute Hausfrau bist, meinetwegen aber eßt rotes, grünes und gelbes Fleisch in, durch- und hintereinander, aber ohne mich, denn mich bekommt ihr bei dem Fest nicht zu sehen.”
Jetzt aber erhob sich ein Sturm, um nicht zu sagen ein Taifun der Entrüstung. „Was, ein Familiendiner ohne mich, die Hauptperson? Undenkbar. Das ganze Diner ausfallen lassen? Unmöglich. Nie und nimmermehr dürfte ich ihm die Freude verderben, denn er liebe nichts so sehr, als sich bei passender Gelegenheit als Oberhaupt aufzuspielen und in salbungsvollem Ton eine feierliche Rede zu halten. Außerdem dürfte ich ihn unter keinen Umständen erzürnen, ich wüßte doch ganz genau, daß er ein alter Erbonkel sei, den man sich bekanntlich warm halten müsse, und fernerhin müßte ich bedenken, daß ich mein Glück, falls dieses wirklich, wie ich täglich in meinen Briefen, die hoffentlich nicht erlogen seien, schreibe, in meiner Verlobung bestände, lediglich doch nur ihm zu verdanken hätte, denn wenn er gegen unsere Verlobung gewesen wäre, so hätte sich unser Wunsch nie erfüllt.” So ging das wohl eine halbe Stunde. Ich kann in mehr als einer Hinsicht viel ertragen, aber was ich jetzt alles zu hören bekam, ging denn doch über meine Kräfte. Um das Ende des Streites herbeizuführen, gelobte ich alles. Ich wollte am nächsten Sonnabend noch einmal, wenn es sein müßte ohne Urlaub, wieder kommen und dann dem alten Major gegenüber mit keinem Wort die heutige Reise erwähnen. Zur Belohnung für meine Bereitwilligkeit wurde ich auch für dieses Mal von sämtlichen Besuchen bei den Verwandten entbunden und erhielt die Erlaubnis, mich verstecken zu dürfen, falls etwa eine alte Tante oder eine Cousine auf den Gedanken kommen sollte, sich nach dem Befinden meiner Braut, die einige Tage leidend gewesen war, zu erkundigen. Am Sonntag nachmittag fuhr ich wieder ab. „Auf Wiedersehen am Sonnabend bei dem Familiendiner” rief meine Braut mir nach, als der Zug sich in Bewegung setzte. „Auf Wiedersehen,” wiederholte ich.
Pünktlich stellte ich mich am Sonnabend wieder zu dem Familiendiner ein. Ich hatte natürlich gar nicht erst den Versuch unternommen, Urlaub zu erhalten, sondern mich heimlich aus dem Staub gemacht. Als ich in Frack und weißer Binde das Haus meiner Schwiegermutter betrat, um die Damen abzuholen, hörte ich aus dem Musikzimmer die Känge des Mikadowalzers. „Aha,” sprach ich zu mir selbst, „ich habe es ja immer gesagt, meine Braut ist ganz anders als alle anderen jungen Mädchen; die ist nun schon fix und fertig angezogen, um noch vorher einen Augenblick mit mir allein sein zu können.” Ich öffnete die Tür und sah meine Braut im Hauskleid am Klavier sitzen: „Nanu,” sagte ich, „noch nicht angezogen, das Familiendiner —”
„Fällt aus.”
Ich glaubte nicht richtig gehört zu haben, aber als ich das Furchtbare begriffen hatte, schleuderte ich, um mir Luft zu machen, meinen tadellos neuen Zylinderin ohnmächtiger Wut in die Ecke. Das war doch geradezu unerhört, mich zweimal vergeblich die Reise machen zu lassen; das ging denn doch über den Spaß. „Und warum fällt es denn zur Abwechslung auch heute wieder aus?” fragte ich.
„Denk' dir nur,” antwortete meine Braut, „Muus hat in der letzten Minute abgesagt.”
Ich dachte nach; wer kann bei einer so ausgebreiteten Verwandtschaft gleich alle Namen kennen!
„Muus,” wiederholte ich, „hilf mir, wer ist Muus, Onkel, Vetter oder Schwager!”
„Nichts von alledem, der Lohndiener.”
„Da hört denn aber doch Verschiedenes auf!” entgegnete ich, „ihr seid trotz der Großstadt solche Kleinstädter, daß ihr in euren Mauern nur einen einzigen Lohndiener beherbergt?”
„Keineswegs,” antwortete meine Braut, „wir haben deren wenigstens fünfundzwanzig.”
„Dann begreife ich aber erst recht nicht,” fuhr ich fort, „warum nimmt der Major denn nicht einfach einen anderen?”
„Das verstehst du nicht,” erklärte meine Braut, „ohne Muus ist bei uns ein Familiendiner undenkbar; kein anderer weiß in den verschiedenen Häusern so genau Bescheid wie er, kein anderer deckt die Tafel mit solchem Geschmack und serviert mit solcher Eleganz. Aber davon ganz abgesehen. Keine Verlobung ist bisher in unserer Familie gefeiert worden, bei der Muus nicht serviert hätte; würde er bei dem Feste fehlen, so wäre das ganze Diner ohne die echte Feier, ohne die rechte Würde. Gerade da du, bisher ein Fremder, zum erstenmal an einem Familienessen teilnehmen sollst, darf in der Form auch nicht das geringste versehen werden, du weißt ja, wie Onkel ist.”
„Ich wußte es bisher nicht,” entgegnete ich, „aber ich lerne ihn allmählich kennen als furchtbaren Pedanten und Kleinigkeitskrämer. Nun, mir soll alles recht sein, feiert das Fest, wann, wo und wie ihr wollt, ich erlebe es doch nicht mehr.”
„Rede dich nicht unnötig in Zorn,” unterbrach mich meine Braut, „morgen mittag um fünf Uhr ist die Gesellschaft ganz bestimmt, Muus hat bei allem, was ihm heilig ist, geschworen, uns morgen nicht wieder im Stich zu lassen.”
„Morgen mittag um fünf?” wiederholte ich, „du weißt, um sechs Uhr zwanzig Minuten geht mein Zug, konntet ihr die Essensstunde denn nicht früher legen?”
„Aber Bruno, ich begreife dich gar nicht, man kann doch ein Diner nicht mittags um zwei Uhr geben! Um Gottes willen, sage es aber Onkel nicht vorher, daß du so früh fort mußt, das verdirbt ihm seine gute Laune, und der Gedanke, seine Rede, die er seit vierzehn Tagen wachend und träumend vor sich hersagt, nicht halten zu können, würde ihn rasend machen. Er setzt es als selbstverständlich voraus, daß du mir und ihm zuliebe bleibst. Mußt du denn wirklich schon so früh weg?”
Ich erklärte, daß ich in des Teufels Küche käme, wenn jemand merkte, daß ich eigenmächtig fortgefahren sei. Mit äußerster Spannung sahen wir dem Familiendiner entgegen. Mit militärischer Pünktlichkeit fuhren wir am nächsten Mittag vor und wurden von dem Festgeber, der uns zu Ehren große Uniform angelegt hatte, an der Schwelle des Hauses empfangen. Feierlichst wurden wir in das Empfangszimmer geführt, wo wir bereits eine große Gesellschaft vorfanden, und es begann ein Begrüßen, Guten Tag sagen und Händeschütteln, das gar kein Ende nehmen wollte. Ich bemerkte, daß der alte Major unruhig hin- und herging und zuweilen mit den Anzeichen der höchsten Ungeduld zum Fenster hinausblickte; es dauerte nicht lange, da wurde von der ganzen Versammlung die Frage erörtert: Wo bleibt Tante Hanna? Sie war die älteste von den weiblichen Verwandten, bekleidete als solche ebenfalls die Stelle eines Oberhauptes und war von ihren Untergebenen ebenso gefürchtet wie der alte Major. Die Unruhe und der Hunger waren aufs höchste gestiegen, als plötzlich ihr Wagen vorfuhr. Ich sah nach der Uhr, es war dreiviertel sechs. „Kinder, seid mir nicht böse,” bat sie, „aber ich hatte meine Ringe verlegt, und ich konnte doch unmöglich mit nackten Händen kommen.” Niemand wagte ihr zu widersprechen, und gleich darauf meldete Muus: „Es ist angerichtet.” In feierlichem Zuge gingen wir in das Eßzimmer und fanden nach langem Suchen die für uns bestimmten Plätze. Plötzlich, wir hatten gerade den ersten Löffel Suppe gegessen, merkte der alte Major, daß wir falsch säßen, d.h. in einer anderen Reihenfolge, als er es sich in schlummerlosen Nächten ausgedacht hatte. Alle Versicherungen, daß es auch so prachtvoll sei, waren vergebens; ein allgemeiner Aufstand wurde unternommen, und mit dem Teller in der Hand rückten wir alle zwei Plätze nach links. Endlich saßen wir, im Nebenzimmer schlug die Uhr sechs. Die Suppe war gut und der Pommery auch. Das erste Glas weihte der Major seinem Kaiser, er tat es nun mal nicht anders, das war er von seinen Liebesmählern her noch so gewohnt und hielt den schönen Brauch bei, als er statt der Soldaten nur noch Frauenzimmer kommandierte. Dann kam der Fisch, Hummer — Steinbutt war also nirgends zu kaufen gewesen. Hummer ist mein Lieblingsgericht, aber was nützt es mir, wenn ich keine Zeit habe, ihn zu essen? Die Uhr war zehn Minuten nach sechs, da meldete Muus mir leise, daß ein Wagen für mich da sei. Ich saß wie auf Kohlen. Wenn der Major nur rasch reden möchte, dachte ich, aber er rührte sich nicht. Es wurde die höchste Zeit für mich, der Kutscher durfte sowieso nur Galopp fahren, wenn ich den Zug nicht versäumen wollte. Ich erhob mich: „Herr Major, ich muß fort. In zehn Minuten fährt mein Zug. Herzlichsten Dank für dieses reizende Familiendiner.” Dann war ich draußen und kam noch im letzten Augenblick auf dem Bahnhof an, stürzte in den Speisewagen und bestellte mir ein doppeltes Beefsteak. Wenn ich den Worten meiner Frau glauben darf, so ist nach meinem Fortgang ein Schrei der Wut und des Entsetzens durch das weite Haus gehallt, der Major ist rot und blau im Gesicht geworden, und Muus hatte sich kreideweiß gegen die Wand gelehnt. Das Urteil aller soll aber dahin gelautet haben, daß man von mir, einem Fremden, ein besseres Betragen und etwas mehr Rücksichtnahme erwartet hätte, man sähe wieder einmal klar und deutlich, wie verderblich es sei, von alten Traditionen abzuweichen und fremde, unbekannte Elemente aufzunehmen. Nie und nimmer würde man mich wieder einladen, denn man hätte keine Lust, sich zum zweitenmal einem solchen Eklat auszusetzen, was Muus wohl nur von mir denken müßte! Meine Braut hat ihre ganze, nicht unbedeutende Zungenfertigkeit aufgeboten, um mich zu verteidigen, vergebens; tränenden Auges ist sie vom Tisch aufgestanden und nach Hause gegangen. Der Major hat, wie Muus hinterher berichtete, getobt, daß er um seine Rede gekommen ist, und hat Tante Hanna die heftigsten Vorwürfe wegen ihres zu späten Kommens gemacht, aber Tante Hanna, nicht gewohnt, sich von einem „Kinde”, wie sie den sechzigjährigen Major genannt hat, etwas sagen zu lassen, ist ebenfalls aufgestanden und mit ihr alle diejenigen, die dereinst von ihr zu erben hoffen. Das feierliche Familiendiner hat mit einem großen allgemeinen Streit geendet, und Monate hat es gedauert, bis die Gemüter sich wieder beruhigten. Ich aber als unschuldig Schuldiger war und bin ausgestoßen für immer, nach wie vor bin ich das Entsetzen aller Verwandten, und wenn meine Frau, wie jetzt, auf einige Tage bei ihrer Mutter zum Besuch ist, so wird sie von allen Seiten beklagt, beweint und bejammert, „denn,” so sagen die Onkel, Tanten, Vettern und Cousinen nebst den dazugehörigen Kindern und Enkeln, „es muß doch furchtbar sein, mit einem Manne zusammenzuleben, der absolut gar keinen Familiensinn hat!”