Meine Etagenglocke.

Militärische Humoreske von Freiherr von Schlicht.
in: „Rostocker Zeitung” (Unterhaltungs-Beilage) vom 1.Mai 1898 und
in: „Ehestandshumoresken”


Hochgerötheten Antlitzes trat meine Frau zu mir in mein Zimmer, in dem ich, über den Anfang eines schwierigen Berichtes nachdenklich, an meinem Schreibtisch saß.

„Nein,” sprach sie, ohne meine Begrüßung abzuwarten oder mir selbst ein Wort der Begrüßung zu schenken, „nein, so geht das nicht weiter! Ich habe es Dir ja schon immer gesagt, Du bist ebenso wie alle Männer, mag die Welt um Dich herum zu Grunde gehen, wenn Du nur dadurch in Deiner Bequemlichkeit nicht gestört wirst.”

„Aber, liebes Kind,” erlaubte ich mir schüchtern zu bemerken, um die sowie so Erregte nicht unnöthig zu beunruhigen, „ich begreife absolut nicht, ich verstehe gar nicht —”

„Das ist es ja eben,” unterbrach mich meine Frau, „daß Du absolut nicht verstehen und begreifen kannst, daß dieser Glockenzug noch einmal mein Tod ist.”

„Aber liebes Kind,” bat ich beschwichtigend.

„Liebes Kind hin, liebes Kind her, das ist immer Eure beliebte Ausrede, wenn Ihr sonst nichts mehr zu sagen wißt.”

Mit erregten Schritten ging sie auf und ab und schlug die Hände nervös in einander. Ich wagte nicht, sie zu stören und das Gespräch auf unseren Glockenzug zu bringen, der einen großen Schatten auf unsere sonst so vorzügliche Wohnung warf. Eine elektrische Leitung hatten wir nicht. Der Knopf, an dem man vor unserer Etagenthür ziehen mußte, setzte eine Klingel in Bewegung, die sich auf dem Corridor befand. Die natürlich Folge dieser höchst geistreichen Erfindung war, daß die im Souterrain befindlichen Dienstboten das Klingeln unter hundertmal neunundneunzig Mal überhörten. Entweder gingen wir selbst, die Thür zu öffnen, oder wir ließen die Leute an der Etagenthür klingeln, bis endlich die Dienstboten etwas hörten, oder bis ihnen die Sache langweilig wurde und sie sich wieder entfernten. Wie viel Aerger hatten wir nicht schon wegen dieser Glocke gehabt, war doch selbst der Geldbriefträger zuweilen unverrichteter Sache an der Hausthür umgekehrt. Wer konnte denn immer wissen, wer die Glocke zog. Ging man hin, um nachzusehen, so war es ein kleiner, fünfzehnjähriger Bube, der Seife, Schuhwichse oder Streichhölzer feilbot(1), ging man nicht hin, fand man zwei Stunden später ein Eiltelegramm im Briefkasten.

„Nein, so geht es nicht weiter,” fuhr meine Frau fort, „soeben finde ich in dem Briefkasten die Visitenkarte meiner Schneiderin. Ich habe ihr eine Postkarte geschrieben und sie gebeten, sich heute Abend um acht Uhr zwecks näherer Rücksprache wegen des neuen Gesellschafts­kleides bei mir einzufinden. Was sie nur von mir denken und wie theuer sie sich wohl diesen Weg berechnen mag?”

„Das Erste ist mir unsagbar gleichgültig,” erwiderte ich, „aber das Zweite erfüllt auch mein Herz mit bitterem Weh. Du hast aber Recht, es soll anders werden, morgen in aller Frühe soll der Klempner kommen und sich die Glocke besehen.”

Pünktlich zur befohlenen Zeit stellte sich am nächsten Morgen der Klempnermeister(2) ein. Ich klagte ihm mein Leid und wohlwollend das Haupt schüttelnd, hörte er mich an.

„Sehen Sie 'mal, die Sache ist ja nämlich die,” begann er, als ich geendet, und setzte(3) mir die Nachtheile meines Glockenzuges auseinander.

„Lieber Meister,” unterbrach ich ihn, „die Nachtheile kenne ich ganz alleine. Sie sollen dieselben ja beseitigen.”

Da sah er mich mit einem unbeschreiblich stolzen, souveränen Blick an und sagte: „Ich denke, Sie haben mir als Autorität rufen lassen?”

Ich neigte mein Haupt und gab durch ein Nicken meines Kopfes eine Bestätigung seiner Frage. Nach einer weiteren halben Stunde hatte ich ihn so weit, wie ich ihn haben wollte.

„Ja, sehen Sie mal,” begann er, „die Sache ist ja furchtbar einfach. Wir verlängern den Draht, verlegen die Glocke in die Küche und der ganze Schaden ist beseitigt.”

Das leuchtete mir ein, der Meister ging nach Hause, um einen Gesellen zu schicken, die Arbeit begann und Abends durfte ich mit gebührendem Respect die Rechnung in Empfang nehmen. Gern gab ich ein kleines Goldstück dafür aus, mit zehn Mark schien mir die Arbeit nicht zu theuer bezahlt zu sein(4), die Hauptsache ist ja stets die, daß man in den eigenen vier Wänden Ruhe und Frieden hat, und die glaubte ich mir nun erkauft zu haben.

Aber merkwürdiger Weise ging die Glocke nun gar nicht. Durch die Verlängerung des Drahtes waren fast übermenschliche Kräfte nöthig, um die Glocke ertönen zu lassen, nur bei starkem Ziehen gab sie einen Ton von sich. Der Schaden war ja aber nun nicht so schlimm. Ich schrieb fein säuberlich ein Placat: „Es wird gebeten stark zu klingeln” und befestigte es mit einem(5) kleinen „Wanzen” an die Hausthür. Aber als ich am nächsten Morgen erwachte, war das Placat verschwunden und mit ihm die Zeitung, die der Postbote, weil ihm nicht geöffnet worden war, in den Briefkasten gesteckt hatte. Aber wozu war denn das Gummmiarabikum erfunden worden? Ich schrieb noch einmal einen Zettel und klebte ihn an die Wand: „Abreißen verboten”, hatte ich deutlich drübergeschrieben, aber trotz alledem oder vielleicht gerade deshalb war das Papier nach wenigen Stunden verschwunden.

„So,” sagte ich eines Tages zu meiner Frau, „nun ist es genug des Aergers, nun schaffen wir uns eine elektrische Glocke an, dann ist der Verdruß ein für alle Mal aus der Welt.”

Aber meine Frau protestirte, ihre angeborene Sparsamkeit empörte sich gegen diese unnütze Ausgabe. „Wozu soviel Geld ausgeben und noch dazu für eine Miethswohnung! Ja, wenn es noch für das eigene Haus wäre, aber so —”

Doch dieses Mal blieb ich Sieger, indem ich meiner Frau deutlich bewies, daß man sich für das Geld, das ich jeden Tag für gummi arabicum ausgab, drei elektrische Glockenzüge anschaffen könne. Noch an demselben Abend erschien der Klempner und Mechaniker. Wieder klagte ich ihm mein Leid und wieder hörte er, wohlwollend das Haupt schüttelnd, mir zu. „Sehen Sie mal,” begann er, nachdem ich geendet, „die ganze Sache ist nämlich die —”

Aber abwehrend erhob ich die Hände: „Was wird die Sache kosten?”

Forschend schaute er mich an, als wolle er mich auf meine Zahlungsfähigkeit hin prüfen: „Na sagen wir 'mal zwölf Mark.”

„Mehr nicht,” entgegnete ich erfreut, „dann kann die Sache beginnen. Und bis wann werden Sie fertig sein?”

„Na, in zwei bis drei Tagen.”

„Aber Meister, so lange —”

„Na, ist Ihnen das vielleicht zu lange?” Grollend sah er mich an und ich mußte ihm noch viele gute Worte geben, um sein Blut wieder zu beruhigen.

Früh am nächsten Morgen wurde ich durch lautes Klopfen und Hämmern aus meinen Träumen erweckt. Mit einem jähen Satz war ich aus dem Bett und steckte meinen Kopf zur Schlafstubenthür heraus: „Wer wagt es, mitten in der Nacht meinen Schlummer zu stören?”

Da fiel mein Blick auf die beiden Klempnergesellen und mit einem „ach so, die elektrische Leitung”, zog ich mich in meine Gemächer zurück. Aber mit dem Schlaf war es vorbei, mißmuthig stand ich auf und begab mich an die Arbeit. Aber das laute Hämmern, Pochen und Bohren ließ mich keinen vernünftigen Gedanken fassen. Ich legte die Feder bei Seite und ging in den Garten, aber selbst dahin verfolgte mich der Lärm der Handwerker.(6) Endlich, nach drei Tagen Arbeit, von denen wenigstens ein ganzer Tag der Erholung gewidmet war, tönte zum ersten Mal der Ton der elektrischen Glocke durch unsere Räume. Unwillkürlich faltete ich die Hände und dankte meinem Schöpfer: „So, nun war der Friede sicher.” Ich beeilte mich, dies freudige Ereigniß gebührend zu feiern und stellte mir eine Flasche Sect kalt, aber die Abkühlung besorgte der Klempnermeister, der mir mit freudigem Lächeln über sein gelungenes Werk eine Rechnung über siebenundvierzig Mark repräsentirte(7).

„Aber lieber, bester Meister,” rief ich, „Sie sprachen doch von zwölf Mark?”

„Ja, ja,” entgegnete er nachdenklich, „da haben Sie wohl Recht, aber wissen Sie, so genau kann man das selbst als Autorität nicht immer berechnen.”

Schweren Herzen griff ich in die Tasche und trennte mich von meinem Geld. Schließlich, Gold ist doch nur Chimäre, wenigstens hatten wir jetzt endlich einmal eine Hausglocke, die fin de siècle war. Was würden die Leute morgen für Augen machen, wenn sie statt des alten blanken Messingknopfes eine schöne elektrische Glocke vorfänden?

Vergebens wartete ich am nächsten Morgen auf meine Zeitung. „Ich begreife gar nicht,” sagte ich zu meiner Frau, „wo der Zeitungsjunge bleibt, ich will doch mal nachsehen.”

Ich öffnete die Etagenthür und blieb fast versteinert stehen. Auf dem Fußboden lag der kleine weiße Knopf zur elektrischen Glocke und groß prangten an der Wand die Worte: „Man bittet stark zu ziehen.” Ein Bindfaden, der um den weißen Knopf geschlungen war, bewies, wie genau man dem Wunsche nachgekommen war.

Gebrochen an Leib und Seele wankte ich in das Frühstückszimmer. „Laß uns ausziehen,” bat ich, „irgendwohin, ist mir ganz einerlei. Ueber der Glocke unserer Etage schwebt ein Unstern. Auf alles Mögliche war ich gefaßt: aber daß man uns den Drückerknopf herausreißt, ich glaube, das ist so lange die Welt steht, noch nicht dagewesen.”


Fußnoten:

(1) In der Buchfassung heißt es hier: „der ohne Gewerbeschein „Döhrings Seife mit der Eule” feilbot” (Zurück)

(2) In der Buchfassung heißt es hier: „der Herr Klempnermeister” (Zurück)

(3) In der Buchfassung heißt es hier: „und mit einer unglaublichen Zungenfertigekit setzte er mir” (Zurück)

(4) In der Buchfassung heißt es hier: „zehn Mark mehr oder weniger spielen im Leben bei den teuern Preisen doch keine Rolle,” (Zurück)

(5) In der Buchfassung heißt es hier: „mit kleinen ,Wanzen'” (Zurück)

(6) In der Buchfassung heißt es hier zusätzlich: „Es war zum Rasendwerden. Die ganze Etage geriet in Unordnung und sobald man zur Stubenthür hinausschritt, fiel man über ein Stück Draht.” (Zurück)

(7) In der Buchfassung heißt es hier. „präsentirte” (Zurück)


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