Es geht auch so.

Humoreske von Freiherr von Schlicht.
in: „Die Fürstengondel”


Das Infanterieregiment Franz Peter hatte einen neuen Oberst bekommen, dem eine ganz große militärische Zukunft gewiß war, denn er hatte den größten Teil seines bisherigen militärischen Lebens in der höheren Adjutantur, im Kriegsministerium und im Generalstab verbracht.

Der neue Oberst verfügte über ein wirklich eminentes militärisches Wissen, in der Theorie war ihm so leicht keiner gewachsen, aber vom praktischen Dienst hatte er nicht die allerleiseste Ahnung, da besaß er nicht einmal den Schimmer einer Idee. Das zeigte sich schon wenige Tage nach seiner Ankunft, als er auf dem Kasernenhof dem Exerzieren der neu eingestellten Rekruten zusah. Eine ganze Weile spielte er seine Rolle als stummer Zuschauer zur höchsten Zufriedenheit aller seiner Untergebenen, dann aber berief er die vollzählig anwesenden Offiziere zu sich. „Meine Herren,” begann er, „ich habe Sie zu mir gebeten, um mit Ihnen eine Sache von der allergrößten Wichtigkeit zu besprechen. Es handelt sich um den langsamen Schritt, den vorhin die Rekruten aller Kompagnien übten. Meine Herren, das Reglement kennt einen Marsch und einen Parademarsch, aber es kennt keinen langsamen Schritt, der wird in der Dienst­vorschrift mit keiner Silbe erwähnt. Und Übungen, die nicht vorgeschrieben sind, dürfen auch nicht gemacht werden. Ich weiß sehr wohl, daß in der ganzen Armee der langsame Schritt als Vorbereitung für den Geschwindmarsch gang und gäbe ist, aber ich weiß auch, daß er dem Reglement widerspricht. Und deshalb wird er, wenigstens in meinem Regiment, von heute ab spurlos verschwinden, ich verbiete ihn auf das strengste und wünsche ihn unter keinen Umständen jemals wiederzusehen. Und wenn Sie mir darauf erwidern sollten es ginge nicht ohne den langsamen Schritt, dann sage ich Ihnen: ,Es geht auch so.'”

Gleich darauf verabschiedete sich der Kommandeur, aber die anderen Offiziere standen noch zusammen und alle gaben sich die größte Mühe, die soeben vernommenen Rede geistig zu verdauen. Aber es gelang ihnen nicht. Was sie da zu hören bekommen hatten, war so unerhört, daß sie es nicht zu begreifen vermochten. Der langsame Schritt ist so alt wie die preußische Armee selbst und der sollte nun mit einem Male völlig spurlos von der Erdoberfläche verschwinden?

Die Leutnants, die in erster Linie die Ausbildung der Rekruten zu leiten hatten, sahen fragend ihre Hauptleute an, was denn nun werden solle, und die Hauptleute, die das auch nicht wußten, sahen fragend die Herren Bataillons­kommandeure an, und da die das auch nicht wußten, sahen sie fragend auf den Herrn Oberstleutnant. Der aber wußte es auch nicht und er war Gott sei Dank in der glücklichen Lage, es auch nicht wissen zu müssen, denn in seiner dienstlichen Stellung gingen ihn die Rekruten gar nichts an. Sagen aber mußte er etwas, denn aller Blicke waren auf ihn gerichtet, und kraft der ihm innewohnenden Weisheit tat er das Klügste, was er tun konnte, er sagte ganz einfach: „Guten Morgen, meine Herren,” und ging stolzerhobenen Hauptes in das Kasino, um da zu frühstücken.

Und gleich darauf sagten die Bataillons­kommandeure ebenfalls: „Guten Morgen, meine Herren,” und gingen frühstücken, und die Hauptleute, die da absolut nicht einsahen, warum sie nicht auch frühstücken sollten, sagten plötzlich auch: „Guten Morgen, meine Herren,” und ließen die Leutnants allein stehen. Mochten die selbst zusehen, wie sie ohne den langsamen Schritt ihren Kerls den Parademarsch beibrachten.

Die Leutnants waren allein und sahen einander fragend an. Jeder erwartete von den anderen, daß sie sich zu der Rede des Herrn Oberst äußern sollten. Aber wenn schon der Verstand der Vorgesetzten nicht ausreichte, um sich über diesen schwierigen Punkt zu Protokoll zu erklären, so reichte ihr Wissen, das nach Ansicht der Höheren überhaupt doch nicht vorhanden war, dazu natürlich erst recht nicht aus und so taten sie das Klügste, was sie tun konnten. Wie auf Kommando sagten plötzlich alle gleichzeitig: „Guten Morgen,” und gingen dann ebenfalls frühstücken.

Und vielleicht wären sie von diesem Frühstück nie wieder aufgestanden, wenn sie nicht wieder zum Dienst gemußt hätten und da zeigte es sich nicht nur sofort am Nachmittag des ersten Tages, sondern auch am Vor- und Nachmittag aller folgenden Tage, daß es ohne den langsamen Schritt einfach nicht ging, obgleich ein Kerl nach dem andern an ihnen vorüberging. Aber das war nur ein Gang und kein Marsch und gerade auf den Parademarsch legten die hohen Exzellenzen bei der Besichtigung den größten Wert.

Die Unteroffiziere klagten den Leutnants ihr Leid, die Leutnants schütteten ihr Herz den Hauptleuten aus, die Hauptleute liefen zum Major und die Bataillons­kommandeure baten den Herrn Oberstleutnant, den Oberst dahin zu bringen, daß der sein Verbot des langsamen Schritts zurücknähme. Der Oberstleutnant sprach denn auch wirklich mit dem Kommandeur, aber der schüttelte sein Haupt: „Was ich gesagt habe, habe ich nach reiflichster Überlegung gesagt, und ich nehme davon kein Wort und keinen Buchstaben zurück, das werde ich den Herren heute nochmals mit aller Deutlichkeit zu verstehen geben.”

Am Mittag war eine neue Offizier­versammlug. „Meine Herren,” begann der Kommandeur, „der Herr Oberstleutnant hat mir Ihre Wünsche vorgetragen, aber es ist mir nicht möglich, sie zu erfüllen. Der langsame Schritt ist und bleibt verboten. Glauben Sie mir, meine Herren, es geht auch so, es muß ganz einfach so gehen, wenngleich ich natürlich gern zugeben will, daß er of unentbehrlich erscheint und daß es namentlich bei ganz krummen Leuten ohne ihn wirklich nicht geht. Sollte daher einer von Ihnen ganz ausnahmsweise gezwungen sein, den einen oder den anderen krummen Kerl vorübergehend wenige Augenblicke den langsamen Schritt üben zu lassen, so will ich das ausnahmsweise erlauben. Aber seien Sie sicher, daß ich Sie alle auf das strengste kontrollieren werde und wenn meine für ausnahmsweise Fälle ausnahmsweise erteilte Erlaubnis mißbraucht wird, dann werde ich mit meiner Meinung und mit den Strafen nicht zurückhalten.”

Viel war es ja nicht, was die Offiziere da erreicht hatten, aber es war doch schon wenigstens etwas, denn „ausnahmsweise”, „vorübergehend” und „ganz krumme Kerls” waren drei sehr dehnbare Begriffe. Ausnahmsweise hieß zwar eigentlich „nur ausnahmsweise”, aber man konnte es doch auch „nur ausnahmsweise” nennen und „vorübergehend” konnte man dahin übersetzen, daß man sagte: natürlich nicht den ganzen Tag, sondern eben nur vorübergehend. Und darüber, wer beim Militär von den Untergebenen ganz krumm, noch krummer oder etwas weniger krumm ist, gehen die Ansichten der Beteiligten sehr auseinander. Nur darüber sind sie sich alle einig: krumm sind sie alle.

So kam, was kommen mußte, der langsame Schritt war und blieb offiziell von der Bildfläche verschwunden, aber vom Morgen bis zum Abend wurde er ausnahmsweise, vorübergehend bei den ganz Krummen und weniger Krummen angewandt, um ihnen den schweren Parademarsch beizubringen.

Es war alles wieder so, wie es früher vor Abschaffung des langsamen Schrittes gewesen war. Nur eins trübte die Freude, das war die Angst vor der Kontrolle durch den Herrn Oberst. Aber die Angst schlief bald ein, denn der Kommandeur kam nicht, der ließ sich überhaupt nicht mehr auf dem Kasernenhof sehen und das hatte seinen guten Grund. Er hatte inzwischen doch eingesehen, daß er sein Verbot des langsamen Schrittes nicht aufrechterhalten könne. Zurücknehmen aber wollte und konnte er es unter keinen Umständen, wenn er nicht in den Augen seiner Untergebenen als ein Quasselkopf dastehen wollte, der heute so redet und morgen so.

Da er aber nicht so konnte wie er wollte, und nicht so wollte wie er konnte, tat er das, was er konnte und wollte. Er kümmerte sich den Teufel um die Ausbildung seiner Rekruten. Mochten die Hauptleute und die Leutnants zusehen, wie sie den Kerls den Parademarsch beibrachten. Er hatte ihnen ausführlich erklärt, daß es auch so gehen müsse, und da seine Ansicht, als die des Herrn Oberst, die einzig richtige und einzig maßgebende war, mußte es auch so gehen.

Und eines Tages war dann die große Stunde der Rekrutenbesichtigung da. Die ganzen hohen Exzellenzen waren erschienen und während sonst bei solchen Gelegenheiten nur den Untergebenen das Herz in den für diesen Zweck besonders weit gearbeiteten Hosenboden fällt, hatte dieses Mal auch den Herrn Oberst eine gewisse Unruhe befallen. Wenn es seinen Offizieren an der nötigen Klugheit und Erfahrung gefehlt hatte, um den von ihm erlassenen Befehl bei der Einübung des Parademarsches zu befolgen, dann war er der Blamierte.

Denn wenn die höheren Vorgesetzten auch oft selbst nicht wissen, wie ihre Anordnungen ausgeführt werden können, so verlangen sie trotzdem oder gerade deshalb von ihren Untergebenen, daß deren Befehle kurz, klar und präzise sind.

Aber die Befürchtungen des Herrn Oberst erwiesen sich als grundlos. Der Parademarsch klappte vorzüglich und während die Truppen vorbeimarschierten, merkte der Herr Oberst ganz deutlich, wie sein Herz wieder aus dem Hosenboden emporstieg, immer höher und immer höher, bis es wieder an der richtigen Stelle saß.

Bei der Kritik erntete der Herr Oberst das höchste Lob, und als die hohen Exzellenzen fort waren, beeilte er sich, dieses Lob an die richtige Adresse weiterzugeben. „Meine Herren, ich habe mich über die hohe Anerkennung unserer höchsten Vorgesetzten für Sie alle um so mehr gefreut, als ich ja weiß, mit welchen großen und Ihnen neuen Schwierigkeiten Sie dieses Mal bei der Ausbildung der Rekruten zu kämpfen hatten. Ich gebe es offen zu, daß es Ihnen nicht leicht gewesen sein mag, ohne den langsamen Schritt dieses hervorragende Resultat zu erzielen. Nun aber freue ich mich doppelt, daß ich damals Ihren Bitten gegenüber taub blieb, denn nun, meine Herren, werden auch Sie einsehen, was ich von Anfang an wußte: ,Es geht auch so!'”

Und da hatte der Herr Oberst recht, denn da es so gegangen war, wie es gegangen war, war es wirklich „auch so” gegangen.


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