Die erste Meldung.

Militärische Humoreske von Freiherr von Schlicht.
in: „S. M. kommt!”


Der neu ernannte Herr Major hatte das Kommando über das ihm zugeteilte Bataillon am gestrigen Tage übernommen, und um sich davon zu überzeugen, was seine Kerls und seine Herren Kerls könnten, vor allen Dingen aber, damit die sich davon überzeugten, was und wieviel er könne, hatte er für heute sein Bataillon zu einer großen Felddienstübung mobil gemacht. Der markierte Feind war unter der Anführung eines berittenen Leutnants schon in frühester Stunde abmarschiert, um sich später an der ihm befohlenen Stelle im Gelände aufzubauen. Das Bataillon selbst trat anderthalb Stunden später auf dem Kasernenhof an, und als man noch mit dem Rangieren beschäftigt war, erschien schon der Herr Major hoch zu Roß. Sein Erscheinen erregte einiges Aufsehen, denn man war es von seinem Vorgänger her so gewohnt, daß die Truppe allein bis zu dem Rendezvousplatz marschierte und daß der höhere Vorgesetzte erst dort auftauchte. Aber der neue Herr Major schien über diesen Punkt strenger, militärischer zu denken. Das bewies er schon dadurch, daß er, als das Bataillon zum Abmarsch bereit war, sich selbst an die Spitze seiner vier Kompagnien setzte und diesen mit gezogenem Säbel vorausritt, als ginge es gegen einen Feind, der sich bis auf den letzten Blutstropfen seiner Haut wehren würde, und nicht gegen einen markierten Feind, der aus den krümmsten und ungeschicktesten Leuten des ganzen Bataillons bestand und die froh waren, wenn sie das Leben hatten.

Im strammen Tritt ging es durch die Stadt, dann ohne Tritt bis zu dem weit entfernt liegenden Rendezvousplatz, und dort versammelte der Herr Major seine berittenen und unberittenen Offiziere um sich, um die Idee auszugeben, die der heutigen Übung zugrunde lag. Aber vor der Idee kam noch der Befehl: „Die Generalstabskarte zur Hand, meine Herren!”

Die Karten wurden auseinandergebreitet, aber die Herren stießen sich gegenseitig an, als wollte einer dem anderen zurufen: „Was brauchen wir Karten, ausgerechnet in diesem Gelände, in dem wir seit Jahr und Tag jeden Weg, jeden Steg, jeden Stein und jeden Busch kennen, der Major soll sich man nur nicht aufspielen!”

Das aber tat der dennoch und zwar gewaltig. Der war so stolz darauf, Major geworden zu sein, und er mußte seinen Untergebenen doch zeigen, was er konnte. Wenn er nicht selbst an sich glaubte, taten es die anderen erst recht nicht.

Die Karten waren entfaltet und endlich gab der Major die Idee aus. Mit vielen Schmerzen hatte er die gestern zu Hause geboren, denn das geistige Kind, das er da auf die Welt brachte, war sein erstes Kind, das er als Major zeugte. Da mußte es etwas ganz Besonderes werden und das war es nach der Ansicht des glücklichen Vaters auch geworden.

Aber als er die Idee nun seinen Untergebenen mitteilte, hatten die dafür im stillen nur das eine Wort: Mist! Die Idee war weder neu noch originell, sie war schon tausendmal dagewesen. Wie schon so oft, galt es auch heute festzustellen, ob Adorf vom Feinde besetzt sei und in welcher Stärke der Gegener sich dort aufhielt. War der Feind da — — und natürlich war er da, denn sonst würde man im Frieden doch nicht erst dahin marschieren — — dann galt es, ihn zurückzuwerfen und unter allen Umständen zu verhüten, daß er das „angenommene” Regiment angriff, das auf der Chaussee im Vormarsch war, während man selbst als linke Seitendeckung den Vormarsch der Hauptmacht begleitete und schützte.

Die Sache war mehr als einfach, aber trotzdem fragte der Major immer wieder: „Haben Sie mich aber auch alle verstanden? Habe ich mich auch klar und deutlich genug ausgedrückt? Sonst will ich Ihnen die Idee gern noch einmal auseinandersetzen. Lieber jetzt zehn Fragen, als nachher ein einziger Fehler infolge eines augenblicklichen Mißverständnisses.”

„Und wenn einer fragt, kriegt er was auf den Hut, weil er nicht ordentlich aufpaßte,” dachten die frechen Leutnants. Und um dem zu entgehen, dann aber auch, weil in diesem Falle wirklich jede Frage überflüssig war, fragte keiner.

„Also schön, meine Herren,” rief der Herr Major glückstrahlend, „dann sind wir uns also über alle Punkte einig. Gehen Sie bitte jetzt zu Ihren Kompagnieen zurück, instruieren Sie die Unteroffiziere und Mannschaften auf das genaueste und nach einer Viertelstunde, genau nach fünfzehn Mnuten treten wir an. Die fünfte Kompagnie übernimmt die Avantgarde, die anderen Kompagnien folgen unter meinem Kommando in einem Abstand von siebenhundertundfünfzig Metern.”

„Warum siebenhundertundfünfzig?” dachte ein Frechdachs, „warum nicht siebenhundert oder achthundert? Glaubst du, daß ausgerechnet diese fünfzig Meter dazu beitragen, die Schlacht zu verlieren, oder zu gewinnen? Siegen tust du ja doch, denn du wirst den markierten Feind schon dahin instruiert haben, daß er zur rechten Zeit linksum kehrt macht. Aber was geht mich das an, meinetwegen können wir auch in einem Abstand von siebenhundertund­fünfundfünfzig Metern folgen.”

Mit der Uhr in der Hand wartete der Herr Major, daß die Viertelstunde verstreichen möge. Er wartete mit Ugeduld darauf, ein Bataillon in den Kampf zu führen, aus dem alle heil zurückkehren würden, und kaum war es soweit, da rief er dem Hauptmann der königlichen Fünften mit heller Stimme zu: „Herr Hauptmann, lassen Sie antreten, es wird die höchste Zeit.”

„Warum denn?” dachte der, „der markierte Feind wird schon nicht weglaufen, der hat ja garnichts anderes zu tun, als darauf zu warten, bis wir kommen. Aber wenn es trotzdem nach deiner Ansicht auf den zehnten Bruchteil einer Sekunde ankommt, denn los damit.”

Die Avantgarde trat an, erst die Spitze unter der Führung eines Leutnants, dann der Vortrupp, weiter zurück der Haupttrupp und in dem Abstand von siebenhundert­undfünfzig Metern das Gros unter der Anführung des Herrn Majors.

Der ritt an der Spitze seiner Truppe und nur unschwer konnte er eine gewisse Nervosität verbergen. Es war ja das erstemal, daß er sein Bataillon führte. Im Vertrauen auf seine geistigen Kenntnisse hatte kein Geringerer als Seine Majestät der Kaiser selbst das ihm anvertraut. Und dessen mußte er sich jetzt durch die Art und Weise, wie er Adorf angriff und den Feind in die Flucht schlug, würdig erweisen. Er mußte siegen, schon damit seine Untergebenen Vertrauen zu ihm faßten und damit sie ihn voll stiller Bewunderung anblickten: Seht, welch' ein Mann! Er muß siegen, damit seine Leute ihm auch dann gern und freudig folgten, wenn es später einmal nicht gegen einen markierten Feind ging, sondern gegen einen wirklichen Feind, der, nicht wie der markierte, instruktionsgemäß Kehrt machte und den Rückzug antrat, wenn ihm mit dem wehenden Taschentuch das Zeichen gegeben wurde, sondern der aushielt, bis er keine Patronen mehr zu verschießen hatte und der sich auch dann noch seines Lebens mit dem Bajonett wehrte.

Er mußte siegen und er würde ja auch siegen. Gnade Gott dem markierten Feind, wenn er nicht pünktlich auf das verabredete Zeichen hin von der Bildfläche verschwand. Aber trotzdem mußte die Übung äußerst kriegsgemäß verlaufen und dazu gehörte, daß er von der Spitze mit Meldungen über den Verlauf des Vorgehens unterrichtet wurde. Aber diese Meldungen blieben aus. Weder die Spitze noch die ausgesandten Seitenpatrouillen brachten auch nur die leiseste Meldung, und das machte den Herrn Major immer nervöser, so daß er schließlich seinen Adjutanten fragte: „Verstehen Sie das, warum man mich ohne jede Meldung läßt?”

„Vielleicht gibt es noch nichts zu melden,” lautete die ganz selbstverständliche Antwort.

Aber die war garnicht nach dem Sinn des Herrn Major, bis er dann plötzlich zu der Erkenntnis kam, daß gerade diese Worte ihm die erwünschte Gelegenheit gaben, seinen Untergebenen seine geistige Überlegenheit zu zeigen. Einen Augenblick überlegte er noch, dann gab er das Kommando zum Halten, und der Adjutant jagte davon, um sämtlichen Offizieren, auch denen der Avantgarde mitzuteilen, daß der Herr Major sie alle zu sprechen wünsche.

Es dauerte nicht allzu lange, da hatte der Herr Major die Seinen abermals um sich versammelt und sich im Sattel hoch aufrichtend, begann er: „Meine Herren, ich habe Sie zu mir bitten lassen, weil — —”

„Weil du 'ne alte Quasselstrippe bist,” dachte ein junger Leutnant.

„Weil ich Ihnen mitteilen möchte,” fuhr der Herr Major fort, „daß es so, wie es geht, nicht geht. Wir sind nun schon bald zwanzig Minuten im Vormarsch, und ich habe in der ganzen Zeit von der Avantgarde noch nicht eine einzige Meldung erhalten — wie mein Adjutant meinte, vielleicht deshalb nicht, weil es noch nichts zu melden gab. Diese Worte lassen mich den Schluß ziehen, daß mein Herr Vorgänger nur Wert auf positive Meldungen legte, nicht aber auch auf negative. Ich aber stehe auf einem ganz anderen Standpunkt — es kann garnicht genug gemeldet werden. Es ist ebenso wichtig, zu wissen, daß der Feind an gewissen Punkten nicht da ist, als daß er da ist. Nicht nur, was die Spitze sieht, ist für den Führer wissenswert, sondern auch das, was er nicht sieht. Es ist wichtig, zu erfahren, daß sich feindliche Patrouillen im Vorgelände zeigen, es ist aber nicht minder wichtig, zu wissen, daß sich der Gegner noch nicht zeigt. Sie alle kennen den alten Vers: Meldung von der Spitze: „Bei dieser großen Hitze erscheint der Feind in Mütze!” Meine Herren, da gibt es garnichts zu lachen, auch eine solche Meldung ist wichtig — sie zeigt uns im Ernstfalle, daß der Feind sehr erschöpft ist, daß er allem Anschien nach große Strapazen hinter sich hat, daß man ihm daher ein Aufsetzen der Mützen erlaubte, um ihm jede nur denkbare Erleichterung zu verschaffen und so weiter, und so weiter. Meine Herren, es gibt überhaupt keine Meldung, aus der der Führer, wenn er nur richtig zu kombinieren versteht, nicht nutzbringende Schlüsse ziehen kann. Jede Meldung, verstehen Sie mich wohl, meine Herren, eine jede ist wichtig, am allerwichtigsten natürlich aber ist die erste. Die weiteren sind nur eine Ergänzung oder eine Richtigstellung. Und darum und deshalb, je schneller die erste Meldung kommt, desto besser. Nun aber bitte ich, den Vormarsch wieder anzutreten, und vergessen Sie nicht, meine Herren, daß ich voller Ungeduld auf die erste Meldung warte.”

Die Offiziere der Avantgarde begaben sich wieder nach vorn zu ihren Leuten, um antreten zu lassen. Der Herr Major aber hielt an der Spitze des Gros, bis auch dieses sich wieder in Bewegung setzte, und er behielt die berittenen Offiziere bei sich: „Bitte, meine Herren, bleiben Sie bei mir, bis die erste Meldung eintrifft. Sie sind dann gleich über die Gefechtslage im Bilde, und zusammen wollen wir dann aus der ersten Meldung unsere Kombination und unsere Schlüsse ziehen.”

Und es dauerte wirklich nicht allzu lange, als der Herr Major durch sein Glas, das er vor die Augen genommen hatte, bemerkte, wie sich aus der Spitze ein Mann absonderte, um zu seinem Leutnant zu gehen. Der Herr Major sah es, es mußte sich bei dem, was der Mann seinem Offizier mitteilte, um etwas sehr Wichtiges handeln, denn der Leutnant wurde sehr erregt, sprach lebhaft auf den Mann ein und blickte sich mit diesem im Gelände um. Erst deutete er mit der Hand nach rechts, dann nach links, bis er dann endlich nach rückwärts zeigte.

„Aha,” sagte sich der Herr Major, „nun ist der große Augenblick gleich da, die erste Meldung naht.”

Und er machte die Herren Hauptleute, die neben ihm hielten, auf den Mann aufmerksam, der jetzt, so schnell er nur konnte, angelaufen kam.

„Passen Sie auf, meine Herren,” rief er seinen Hauptleuten zu, „da naht die erste Meldung. Schon aus der Gangart des Mannes ersehen Sie, daß es sich um etwas sehr Wichtiges handelt. Der Mann läßt sich gar keine Zeit, einmal wieder in Schritt zu fallen, sondern läuft so schnell er nur kann. Gleich wird er hier sein.”

Wenig später war der Musketier auch wirklich bei dem Herrn Major angelangt, aber anstatt vor dem stehen zu bleiben, wollte er, so schnell er nur konnte, an ihm vorbei eilen.

„Zum Donnerwetter Halt,” rief der Herr Major ihm zu, „was fällt Ihnen denn ein? Sehen Sie mich denn nicht und wissen Sie nicht, daß alle Meldungen einzig und allein an mich gehen?”

„Zu Befehl, Herr Major,” lautete die Antwort.

„Na also,” meinte der Major schnell wieder besänftigt, um dann voller Wohlgefallen zu fragen: „Nun, mein Sohn, wie lautet denn die erste Meldung, die Sie mir zu überbringen haben?”

Aber anstatt nun den Mund aufzumachen, biß der Musketier die Lippen fest aufeinander, und anstatt stramm dazustehen, bewegte er sich unruhig hin und her.

„Wollen Sie wohl gefälligst sprechen?” schalt der Herr Major. „Ich brauche Ihre Meldung dringend, um danach gemeinsam mit den Herren Hauptleuten die Gefechtslage beurteilen und meine Schlüsse ziehen zu können. Sie sind doch nicht zurückgeschickt, um nichts zu melden, sondern um zu melden. Und wenn Sie das nicht sofort tun, sperre ich Sie erbarmungslos drei Tage ein. Das ist dann aber einzig und allein Ihre Schuld.”

Und die angedrohte Strafe löste dem Mann endlich die Zunge: „Meldung von der Spitze — —”

„Aha,” rief der Herr Major und zu den Hauptleuten gewandt, setzte er hinzu: „Meine Herren, passen Sie mit mir gut auf.”

Und während alle die Ohren spitzten, um kein Wort von der ersten Meldung zu verlieren, sagte der Mann noch einmal: „Meldung von der Spitze, weil da vorn nirgends ein Wall oder ein Baum ist, hinter dem ich mich verstecken kann, damit man es von hier aus nicht sieht, hat der Herr Leutnant mich im Galopp zurückgeschickt. Ich muß mir irgendwo den Magen verdorben haben, Herr Major, ich muß mal bannig notwendig aus die Büx (ich muß mal sehr notwendig austreten).”

Der Mann schwieg, und der Herr Major schwieg erst recht, denn selbst sein Verstand reichte nicht aus, um aus dieser ersten Meldung etwas heraus zu kombinieren!


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