Erfolgreiche Beschwerde.

Satire von Freiherr von Schlicht,
in: „Berliner Tageblatt” vom 2.6.1908 und
in: „Parade-Haare”


Der kleine Belitz hatte sich weiß Gott seinen Helm aufgesetzt und sich über den Oberst beschwert.

Auf dem Kasernenhof und im Kasino wurde über nichts anderes gesprochen, und die Beurteilung, die diese Neuigkeit fand, war eine sehr verschiedene. Es war ja richtig, der Oberst hatte ihn gestern mittag vor versammeltem Kriegsvolk in einer Art und Weise angefahren, die schon nicht mehr schön war — noch dazu, ohne daß ihn die Schuld traf, denn er konnte doch nichts dafür, daß seine blödsinnige Hammelherde nach der falschen Seite aufmarschiert war. Und daß der Flügelmann nachher bei dem Parademarsch nicht an die Points heranging, das war doch auch nicht seine Schuld, er steckte doch nicht drin in den Kommißhosen. Der Oberst war in seinem Diensteifer, um nicht zu sagen in seinem Jähzorn, bodenlos ungerecht gewesen, das war ja sicher. Aber ehe man sich beschwerte . . . ! Noch dazu über den Kommandeur! —

Die meisten gestanden es sich und den anderen offen ein: sie hätten sich nicht beschwert. Nach der Theorie „Maulhalten” hätten sie auch diese Grobheit eingesteckt und mit Hilfe des nötigen Alkohols verdaut. Aber der kleine Belitz war nun mal so. Der ließ sich nicht an den Wagen fahren, gerade weil er so klein und zum Überfluß ein ganz armer Teufel war. Das einzige, was er besaß, war das „von” vor seinem Namen. Das ist in der heutigen Zeit ja allerdings schon eine ganze Menge, aber allein genügt es doch nicht, um Karriere zu machen. Da muß man zeigen, daß man ein ganzer Kerl ist, daß man sich alles oder garnichts bieten läßt.

Als Belitz seinem Hauptmann die Absicht meldete, sich über den Herrn Oberst zu beschweren, fiel der vor Schrecken beinahe vom Gaul. Der kämpfte vom frühen Morgen bis in die Nacht hinein um seine Existenz; er hatte Aussicht, wenn auch nur für die Dauer eines Jahres, Stabsoffizier zu werden; — sollte ihm nun sein Leutnant die Karriere verpfuschen? Denn wenn der sich wirklich beschwerte, dann fiel es doch auf ihn zurück, daß ein Leutnant seiner Kompagnie . . . er war ja schließlich für alles verantwortlich, was die taten. Aber verbieten konnte der Häuptling es seinem Leutnant nicht, sich zu beschweren, und so verlegte er sich aufs Bitten: „Überlegen Sie sich die Sache doch nochmals in aller Ruhe.” Aber Belitz hatte sich alles überlegt, sein Entschluß stand fest. So ging er dann zu dem Herrn Oberstleutnant.

Der Oberstleutnant stand sich mit dem Kommandeur ausgezeichnet. Bei jedem Liebesmahl verlor er im Skat wenigstens 20 Mark an den Vorgesetzten, und auch sonst hatte er alle Aussicht, Karriere zu machen. Das gute Einvernehmen, das da bestand, durfte natürlich nicht getrübt werden. So versuchte er denn auch, den Leutnant umzustimmen.

Belitz dachte aber über diesen Punkt wesentlich anders, und so blieb dem Herrn Oberstleutnant nichts anderes übrig, als den Herrn Oberst aufzusuchen, um, wenn möglich, durch seine Vermittelung die Sache im Frieden aus der Welt zu schaffen. Aber der Oberst dachte nicht daran, von dem, was er gesagt hatte, auch nur ein Wort zurückzunehmen.

So nahm die Beschwerde denn ihren Weg, und nach einiger Zeit erhielt Leutnant v. Belitz von der Brigade die Nachricht, daß seine Beschwerde als begründet angesehen und daß „Remedur” eingetreten. Worin diese Remedur besteht, ob nur in einer Ermahnung oder in einer Strafe, das erfährt der Untergebene nicht, das verbietet die Wahrung der Disziplin und der Subordination.

Als es im Regiment bekannt wurde, daß Belitz recht bekommen hatte, drückten ihm alle voller Teilnahme stumm die Hände.

Aber man hatte dem Kommandeur unrecht getan, wenn man glaubte, daß er sich nunmehr an dem jungen Leutnant rächen würde. Er dachte nicht daran, wie er selbst am nächsten Mittag vor versammeltem Offizierkorps erklärte: „Nach ruhiger Überlegung gestehe ich jetzt offen ein, daß ich damals in meinem Jähzorn zu weit gegangen bin. Leutnant v. Belitz hat sich über mich beschwert, damit ist wohl für ihn und auch für mich die Angelegenheit definitiv erledigt.”

Und gerade weil die Sache definitiv erledigt war, konnte der Herr Oberst, ohne daß ihm jemand zutrauen würde, er trüge dem kleinen Belitz die Sache auch nur eine Sekunde nach — gerade deshalb konnte der Herr Oberst sehr ausführlich seine Ansicht darüber entwickeln, wie er im allgemeinen und im besonderen über die Beschwerdeführung dächte. Gewiß, man dürfe sich nicht alles gefallen lassen, er selbst sei der letzte, der diesen Grundsatz vertrete, aber trotzdem, eine übertrieben große Empfindlichkeit sei im Interesse der Armee nicht am Platze. Natürlich denke er nicht daran, mit diesen Worten irgendwie auf den Fall Belitz anspielen zu wollen. Der wäre für ihn definitiv erledigt.

Die Leutnants wurden entlassen. Der Herr Oberst blieb mit den Stabsoffizieren und dem Herrn Hauptmann zurück, dann wurden auch die Kompagniechefs weggeschickt und die Stabsoffiziere blieben unter sich.

Am nächsten Mittag beriefen die Herren Bataillonskommandeure die Herren Hauptleute und Leutnants zu sich, um mit ihnen eingehend die Beschwerdeführung der Untergebenen zu besprechen: „Meine Herren, ich spreche natürlich ganz im allgemeinen. Nichts liegt mir ferner, als irgendwie auf den Fall anspielen zu wollen, der sich kürzlich hier im Regiment abgespielt hat. Die Sache ist im höchsten Grade bedauerlich, aber sie ist ja definitiv erledigt, und so habe auch ich keine Ursache darauf zurückzukommen. Aber trotzdem möchte ich mir darüber ein paar persönliche Bemerkungen erlauben.”

Es dauerte lange, bis die Herren Bataillonskommandeure damit fertig waren und die Herren entlassen wurden. Schon am nächsten Mittag nahm jeder der zwölf Hautpleute Gelegenheit, sich eingehend mit seinen Leutnants über die Beschwerdeführung zu unterhalten, natürlich nur ganz „im allgemeinen”.

Und am Mittag des nächsten Tages berief der älteste Oberleutnant des Regiments sämtliche Leutnants zu einer kameradschaftlichen Besprechung ins Kasino, um sich mit ihnen in echt kameradschaftlicher Weise über die Beschwerdeführung zu unterhalten, aber natürlich nur ganz „im allgemeinen”, denn der Fall, der sich kürzlich im Regiment abgespielt hatte, war ja definitiv erledigt.

Und die Unterreung nützte.

Am nächsten Mittag ging Leutnant v. Belitz auf das Regimentsbureau, um seine Versetzung in einen anderen Truppenteil zu erbitten. Wenngleich er bei seiner Beschwerdeführung Recht bekommen hatte, so sei er trotzdem zu der Überzeugung gekommen, daß er sich bei seinem Schritt von zu großer Empfindlichkeit habe leiten lassen. So dankbar er dem Oberst auch sei, daß der ihm die Beschwerde nicht nachtrage, und wenn er auch wüßte, daß die Angelegenheit ja für alle Zeiten definitiv erledigt sei, so halte er es doch im Interesse der Kameradschaft und mit Rücksicht auf das glänzende Einvernehmen, das bisher zwischen dem Kommandeur und allen seinen Offizieren bestanden habe, für besser, wenn er ginge.

„Aber lieber Freund, davon kann doch gar nicht die Rede sein,” widerprach der Herr Oberst. „Für Ihre Versetzung liegt nicht der leiseste Grund vor. Der Vorfall, auf den Sie anspielen, ist für mich definitiv erledigt. Allerdings, daß es Ihnen leid tut, mir die Unannehmlichkeit bereitet zu haben, fühle ich Ihnen ja nach, und wenn es Ihnen peinlich ist, mir fortan gegenüberzutreten, so begreife ich das vollständig. Aber trotzdem — wenn Sie im Regiment bleiben wollen — es ist ja allerdings für Sie bei Ihrer geringen Zulage hier sehr teuer, und das wäre ja ein vortrefflicher Grund, Ihr Gesuch zu begründen und zu befürworten. — Natürlich würde es uns sehr schwer werden, Sie zu verlieren —Sie berechtigen zu den schönsten Hoffnungen — aber Sie werden sich sicher in der neuen Garnison auch sehr schnell Ihre Position zu schaffen wissen.”

Drei Wochen später war Leutnant v. Belitz zu einem anderen Regiment versetzt, und damit war der Vorfall wirklich definitiv erledigt.


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