Die Erbtante.

Humoreske von Freiherr von Schlicht,
in: König Eduards Testament” und
in: Der Mann mit den vier Frauen”


Mit allen Anzeichen der höchsten Erregtheit stürmte mein Freund, der Referendar von Schleynitz, auf der Straße an mir vorüber, kaum daß er, sonst die Höflichkeit selbst, den Versuch machte, den Hut zu lüften. Erstaunt schaute ich ihm nach; dem mußte ein Unglück zugestoßen sein und teils von Mitleid, teils von Neugierde ergriffen, beschleunigte ich meine Schritte und hatte ihn nach wenigen Minuten eingeholt.

„Aber Alfred, Kleiner, was ist Dir denn?” redete ich ihn an, „daß Du selbst Deine besten Freunde nicht mehr kennst, denen Du so manchen Taler im Skat aus der Tasche gezogen hast und denen Du dadurch gewissermaßen Dein Leben verdankst. Und warum dieses feierliche Kostüm? Wüßte ich nicht, daß Du bereits aus dem Schneider wärest, wenngleich Du beim Schneider ja wohl ziemlich tief drin steckst, ich würde wetten, daß Du soeben konfirmiert worden wärest, denn der Gang zum Standesamt, den ja so mancher wandert, ist bei einem solchen eingefleischten Junggesellen, wie Du es bist, ein Weg, auf dem eine Tafel mit den Worten steht: „Unbefugten ist das Betreten dieses Weges verboten.” Also sprich, was hast Du?”

Mit der Geschwindigkeit einer Klingelbahn, der ein Eilbrief anvertraut ist, stürzte er durch die Straßen, so daß ich ihm trotz meiner langen Beine kaum zu folgen vermochte.

„Du mußt mich entschuldigen, lieber Freund,” keuchte er, „meine Zeit ist knapp bemessen. Ich muß verreisen — noch dazu in sehr trauriger Veranlassung — denke Dir, meine Erbtante ist gestorben.”

„Gott, wie werden Deine Gläubiger sich freuen,” wollte ich sagen, aber ich verschluckte diese Bemerkung noch rechtzeitig, denn in dem ewig lachenden Gesicht meines Freundes zeigte sich etwas wie Trauer und Betrübnis.

„Sei meines herzlichsten Beileids versichert,” tröstete ich ihn, „natürlich will ich Dir unter diesen Umständen nicht lästig fallen, wann geht Dein Zug?”

„Um zwölf Uhr siebzehn Minuten, ich muß moch sehr beeilen, es ist jetzt bereits zwölf Uhr.”

„Du irrst, lieber Freund,” beruhigte ich ihn, „horch auf den Klang der Glocken, die soeben von den Türmen herab die elfte Stunde verkünden.”

„Aber das ist ja gar nicht möglich,” entgegnete er, „ich bin doch in meinem ganzen Leben noch nie zu früh gekommen, im Gegenteil — aber was mache ich denn nun?”

„Du mußt Dir entweder einen Extrazug nehmen, oder warten — ich rate Dir zu dem Letzteren, und wenn Du erlaubst, leiste ich Dir Gesellschaft, ich habe doch nichts vor.”

Dankend nahm er das Anerbieten an und in langsamem Tempo schlenderten wir durch die Straßen. Natürlich sprachen wir von dem Tode seiner Tante und wie sich fortan das Leben für ihn gestalten würde. „Natürlich werde ich mir Pferd und Wagen halten, das bin ich meiner Leibesfülle meinem sterblichen Teil schuldig, und daß wir, wenn der erste Schmerz sich gelegt hat, ein gutes Diner zusammen einnehmen und der leider, ach! so früh Dahingeschiedenen ein stilles Glas weihen, ist zu selbstverständlich, als daß es einer besonderen Bestätigung bedarf.”

„Ich nehme Deine Einladung dankend an,” erwiderte ich, „aber ich rate Dir, Deine Hoffnungen und Erwartungen nicht zu hoch zu spannen. Man kann nie wissen — Du weißt, es gibt zweierlei Erbtanten, solche, die es sind und solche, die es nicht sind.”

„Aber dann sind es doch keine Erbtanten,” entgegnete er, „das muß ich als Jurist doch wissen.”

Exempla rem illustrant, Beispiele erläutern die Sache und wenn man ein Licht anzündet, wird es hell, laß Dir erzählen, aber nicht hier, laß uns in jenes Haus treten, dessen Fenster die bekannte Aufschrift tragen „Echtes Pilsener Bier”, dort laß uns Platz nehmen.”

Er folgte meiner Aufforderung und wenige Minuten später brachte der Kellner zwei Gläser des gewünschten Gerstensaftes.

„Sieh mal, mein Junge,” begann ich, nachdem ich dem Pilsener „die Mütze” alias Blume abgenommen hatte, „aurea aetas erat, es gab eine goldene Zeit, singt Ovid. Auch ich habe sie erlebt und zwar damals, als ich noch eine Erbtante hatte. Wie ich zu ihr gekommen bin, weiß ich eigentlich selbst nicht. Eines schönen Tages kam sie bei uns an, ich war damals schon verheiratet, plötzlich und unerwartet, wie das Mädchen aus der Fremde und brachte wie diese Blumen und Früchte mit. Wir hießen sie willkommen, ohne recht zu wissen, wer sie war und was sie wollte, bis sich endlich das Geheimnis lüftete. Sie war eine Jugendfreundin meiner früh verstorbenen Mutter, der sie bis an ihren Tod stets eine treue Freundin gewesen war. Bei einer Nichte hatte sie, die unverheiratet war, gewohnt, bis sie dieselbe durch den Tod verlor und nun allein, ohne jede Blutsverwandtschaft auf der Welt stand. Da war ihr eines Tages der Gedanke gekommen, sich nach mir, dem einzigen Kinde ihrer Jugendfreundin, umzusehen. Nach langen Bemühungen war es ihr gelungen, meinen Aufenthaltsort zu ermitteln und nun war sie da, ,um,' wie sie sagte, ,vorläufig dazubleiben.'

„Und sie entwickelte im Bleiben eine Ausdauer, die wirklich einer besseren Sache würdig gewesen wäre. Ich bin überhaupt kein großer Freund von Logierbesuch — aber mit diesem wußte ich absolut nichts anzufangen, zumal ich mir den Grund ihres Bleibens nicht zu erklären vermochte.

„Ich weiß es noch wie heute: es war an einem Sonntagmorgen, wir saßen an dem Kaffeetisch, da sprach Tante Marie — natürlich hieß auch sie wie Alles, was man nicht definieren kann: Tante — also da sprach Tante Marie zu mir: ,Mein lieber Hugo — ich habe mir die Sache nun reichlich überlegt — morgen sollst Du mit mir zum Rechtsanwalt gehen und ich will Dich zu meinem Erben einsetzen. Es ist zwar nicht viel, was ich habe, aber es ist immerhin doch genug, um als angenehmer Zuschuß zu gelten. Hoffnetlich erklärst Du Dich bereit, meine Erbschaft dereinst anzutreten?”

„Na, ein Unmensch bin ich nie gewesen und zu große Gefälligkeit war von jeher mein Fehler. So fiel ich denn der guten Tante um den Hals und küßte sie nach allen Regeln der Kunst und wenn ich nicht mehr küssen konnte, küßte meine Frau weiter.

Am nächsten Morgen wanderten wir zum Notar und wenige Stunden später hatte ich eine Abschrift des Testaments, in dem ich zum alleinigen Erben eingesetzt war, in Händen. Tante Marie fuhr an demselben Abend ab, sie hatte den Zweck ihrer Reise erfüllt, sie hatte einen Erben gesucht und gefunden und konnte nun wieder ruhig von dannen ziehen.

„Und nun begann jene Zeit, die so köstlich war in dem Bewußtsein: ,du hast eine Erbtante. Keine Sorge pekuniärer Art wird dir fortan mehr deinen Schlummer stören, du brauchst dich nicht mehr so einzuschränken wie früher und vor allen Dingen brauchst du nicht mehr an das Zurücklegen zu denken.'

„Unser Herz war von Dankbarkeit erfüllt, wie hätte es auch anders sein können? Aber ein jedes Geschenk, das man annimmt, legt Verpflichtungen auf, diese alte Wahrheit sollten auch wir von neuem an uns erfahren.

„Tante Marie hatte bei ihrem Scheiden von meiner Frau verlangt, daß diese ihr jede Woche wenigstens einmal schreibe und ihr zuweilen eine Kleinigkeit, wie einen Blumenstrauß oder etwas ähnliches schicke, damit sie nicht das Gefühl habe, als ob sie von allen Menschen verlassen sei. Meine Frau hatte selbstverständlich eingewilligt und sie hielt ihr Versprechen. Jeden Sonnabend schrieb meine Frau an Tante Marie einen langen ausführlichen Brief und an jedem zweiten Sonnabend wurde ein kleines Paket von uns abgesandt. Aber nach etwa einem Vierteljahr fand Tante Marie, daß einmal in der Woche von einander zu hören doch etwas wenig sei, sie schlug vor, meine Frau sollte ihr auch jeden Donnerstag noch eine Postkarte schreiben. Auch das wurde beschlossen, aber Tante Marie's Ansprüche wuchsen, je älter sie wurde und ehe ein Jahr verflossen war, hatte sie es durchgesetzt, daß meine Frau ihr jeden Tag eine Postkarte, an jedem Donnerstag und Sonnabend einen ausführlichen Brief schrieb und zu jedem Sonntagmorgen ein kleines Paket schickte. Lieber Freund, ich sage Dir, es war gräßlich — wie viele blutige Tränen hat meine Frau nicht bei diesen Briefen vergossen, denn was soll man schließlich jeden Tag an ein und dieselbe Person schreiben? Das ist selbst wenn man verlobt ist, zuweilen eine schwere Frage. Nun, meine Frau brachte das Kunststück fertig, eine geschickte Frau kann eben alles. Ich dagegen hatte es übernommen, die kleinen Geschenke ein für allemal zu besorgen. Kennst Du das gräßliche Gesicht, wenn man in einen Laden geht, um etwas zu kaufen und keine Ahnung hat, was man haben will? Dann legen die Verkäuferinnen alles vor, was sie haben, vom krummen Türkensäbel bis zum neuesten Fingerhut und nur um überhaupt etwas zu kaufen, wählt man dann stets das Allerdümmste. Was habe ich in der Zeit nicht für einen Blödsinn zusammengehandelt! — Aber das mußte man Tante Marie lassen, sie revanchierte sich für die kleinen Gaben in wahrhaft großartiger Weise. Jeden Sonntag Morgen kam auch bei uns ein Paket an, das stets eine Unmenge schöner und nützlicher Sachen enthielt, ich glaube, ich habe mir, solange die Erbtante lebte, nicht eine einzige Flasche Wein zu kaufen brauchen, und für meine Frau nicht ein einziges neues Kleid angeschafft, wir bekamen ja alles geschenkt.

„Sie war wirklich gut, die alte Tante — nur einen großen Fehler hatte sie, nämlich den, daß sie zu jedem Fest bei uns zu Besuch kam. Natürlich war dann von einem gemütlichen Alleinsein mit der Frau nicht die Rede, den ganzen Tag mußte man Tante Marie den Hof machen und so kam es, daß ich trotz aller Wohltaten, die uns zuteil wurden, mich allmählich in die Überzeugung hineinlebte, daß Tante Marie ein entsetzlicher Quälgeist sei und sie förmlich zu hassen begann. Ich wurde nervös, wenn sie uns in ihrem Lapidarstil schrieb: ,morgen komme ich' und ich wurde wütend, wenn ich zur Bahn gehen mußte, um sie in Empfang zu nehmen.

„Aber ich durfte meine Wut ja nicht zeigen, sie war ja die Erbtante, so sammelte sich denn in meinem Innern ein solcher Haß an, daß ich Tante Marie mitsamt ihrem Gelde jeden Tag dreimal zum Kuckuck wünschte. Das wirst Du unbegreiflich finden, aber sei erst einmal verheiratet, dann wirst auch Du vielleicht verstehen, was es heißt, zu jedem Fest ein und denselben Logierbesuch zu haben.

„So gingen sechs Jahre dahin; sechs Jahre schrieb meine Frau jeden Tag eine Postkarte, jeden Sonnabend ging ich in einen Laden und kaufte etwas — mich schaudert's noch, wenn ich daran denke.

„Da erhielten wir eines Morgens ein Telegramm, Tante Marie sei gestorben — wie schlecht ich von Natur aus bin, merkte ich, als mein erstes Wort bei dieser Nachricht ein inniges ,Gott sei Dank' war. Natürlich reiste ich sofort ab, gab es doch manches für mich zu tun und zu reden.

„Wenige Tage nach der Beisetzung erfolgte die gerichtliche Testamentseröffnung, die nichts neues zu Tage brachte. Ich war der Erbe, die Papiere wurden mir ausgehändigt und ich ging zur Bank, wo Tante Marie ihr Vermögen deponiert hatte, um mein Geld zu erheben. Und da kam das Furchtbare, das Entsetzliche, was ich nicht glauben wollte und was mir doch schlagend bewiesen wurde, an das Tageslicht: Tante Marie hatte von dem Kapital gelebt, das auf ein winziges Minimum zusammengeschrumpft war, das kaum zur Deckung der durch ihren Tod entstandenen Unkosten reichte. Wäre sie ein halbes Jahr später gestorben, so wäre nicht mehr ein Pfennig dagewesen.

„Und nun, mein lieber Freund, verstehst Du vielleicht, was ich sagte: ,Es gibt Erbtanten, die Erbtanten sind, und solche, die es nicht sind.'

Der gute Schleynitz lachte: „Armer, Du dauerst mich, solch Pech kannst auch nur Du haben! Für mich liegt die Sache Gott sei Dank anders, meine Tante war eine notorisch reiche Frau und wenn ihr auch der Sohn, der vor einigen Jahren starb, ein hübsches Stück Geld gekostet haben mag, so bleibt immerhin noch genug für mich übrig. Nun aber wird es, glaube ich, wirklich Zeit, wenn ich den Zug nicht versäumen will.”

Wir erhoben uns und ich brachte den Freund zur Bahn. „Also es bleibt bei der Verabredung,” rief er mir noch aus dem Coupé zu, „in der nächsten Woche essen wir einmal gut zusammen. Ich schreibe Dir vorher noch einmal eine Karte und wenn ich bis dahin schon ein mir passendes Gespann gefunden habe, hole ich Dich in meinem eigenen Wagen ab. Da wirst Du aber Augen machen!”

Eine Sekunde später war der Zug um die Ecke verschwunden und mit ihm der gute Schleynitz, den ich seitdem nicht wieder gesehen habe — doch einmal, vor wenigen Tagen, als er in einer Droschke zweiter Klasse, ohne mich zu bemerken, an mir vorüber fuhr. Da machte ich aber Augen, wie er es mir prophezeit hatte!


zurück zur

Schlicht-Seite