Erbarmen.

Novelle von Freiherr von Schlicht.
in: „Illustrierte Frauen-Zeitung”, Jhrgg. XXVI, Heft 9, 1. Mai 1899, Seite 67-70
(Den Zeitungsausschnitt findet man unter: Texte/Erbarmen. Die Erhaltung dieses Textes ist teilweise mangelhaft. Der rechte Rand der rechten Spalte des dreispaltigen Textes ist kaum lesbar. Die ergänzten Textstücke werden unterstrichen dargestellt.)


Frau Doctor Stein nahm von dem silbernen Teller, den das Dienstmädchen ihr präsentirte, die Visitenkarte.

„Von Kettberg, Legations-Secretair”, las sie etwas verwundert, dann aber sagte sie: „Ich lasse bitten.”

Die alte Dame, die trotz ihrer siebenzig Jahre körperlich und geistig frisch und beweglich war, erhob sich aus ihrer halb liegenden, halb sitzenden Stellung, in der sie nach Tisch für eine kleine halbe Stunde zu ruhen pflegte, und legte schnell die gehäkelte Decke, die sie über sich gebreitet hatte, zurecht. Sie liebte es nicht, daß man in ihrem Zimmer Spuren vorfand, die darauf hindeuteten, daß sie geschlafen hatte.

Sie reichte dem Eintretenden die Hand: „Mein lieber Herr von Kettberg, — wie freundlich von Ihnen, daß Sie für eine so alte Frau, wie ich es bin, Zeit übrig haben.”

„Ich bitte sehr um Verzeihung, meine gnädige Frau, wenn ich Sie schon wieder störe, nachdem ich Sie heute Morgen fast zwei Stunden durch meinen Besuch belästigt habe.”

Sie unterbrach ihn: „wenn man Gutes thut, bedarf es keiner Entschuldigung, und mir bereiten Sie eine Freude und eine Wohlthat, wenn Sie mir Gesellschaft leisten. Seitdem die Augen so schwach geworden sind, daß ich nicht mehr zu lesen vermag, gehen mir die Stunden oft entsetzlich langsam dahin. Die Hände sind bei mir ja stets in Thätigkeit, aber auch der Geist bedarf der Anregung und Anspannung. Das Alter lebt, so sagt man, von der Erinnerung, — gewiß, aber das Leben ist nicht immer schön, und so sind auch unsere Erinnerungen oft traurig. Ach, — und wieviel Noth und Elend haben wir nicht alle kennen gelernt und sehen es noch täglich.”

Er hatte sich ihr gegenüber auf seinen gewöhnlichen Platz niedergelassen, einen alten, mit schwarzem Tuch überzogenen altmodischen Lehnstuhl, der zwischen dem Klavier und der mit Blumentöpfen reich bedeckten Fensterbank stand. Sie selbst hatte sich in die rechte Ecke der Chaiselongue gesetzt.

Für ihn gab es kein größeres Vergnügen, als dem geistreichen Geplauder der alten Dame zu lauschen, die in ihrem vielbewegten Leben an der Seite eines hochbegabten Gatten mit den bedeutendsten Männern jeglichen Berufes und jeden Standes in nahe Beziehungen getreten war. Vor fast zwanzig Jahren hatte sie ihren Mann verloren, aber auch als sie Witwe geworden war, blieben die Freunde ihr treu, — um ihrer selbst willen, wie sie mit Stolz zu sagen pflegte. Niemals gab sie Feste irgendwelcher Art, „wer nicht mit mir allein zufrieden ist, mag fortbleiben,” pflegte sie zu sagen, „für Gesellschaften habe ich kein Geld, wie jede Großmutter, die acht Enkelkinder und eine Schaar von Söhnen hat.” Die Kinder kosteten ihr immer noch viel Geld, aber sie gab es mit vollen Händen, soweit ihre bescheidenen Mittel es ihr gestatteten, und ihr größter Kummer war, daß sie das „Wollen” mit dem „Können” nicht immer in Einklang zu bringen vermochte.

„Meine sehr verehrte, gnädige Frau,” begann der Legations-Secretair, als Frau Doctor Stein schwieg, „meine sehr verehrte, gnädige Frau, mich führt eine Sache von großer Wichtigkeit her, ich meine natürlich eine Angelegenheit, die nur für mich von Bedeutung ist. Meine gnädige Frau, — ich wage es gar nicht auszusprechen, — es ist mir mehr als unangenehm —”

Und da er schwieg, als hätte er nicht den Muth fortzufahren, sagte sie: „Warum zögern Sie? Haben Sie Vertrauen zu mir, so sagen Sie mir, was Sie herführt, — vertrauen Sie mir nicht, so verzeihe ich Ihre soeben gesprochenen Worte.”

Da gewann er seinen Muth zurück: „Gnädige Frau, um es kurz zu sagen, ich bin heute Morgen während meines Besuches, den ich Ihnen abstattete, bestohlen worden, und zwar um eine für mich nicht unbeträchtliche Summe, um dreitausend Mark.”

Starr, sprachlos, aus weitgeöffneten Augen blickte sie ihn an.

„Sie irren sich,” stöhnte sie endlich, „das ist ja gar nicht möglich!” —

„Dasselbe habe auch ich mir zu ungezählten Malen gesagt,” entgegnete er, als die alte Dame schwieg und schreckensbleich vor sich hinsah, „und dennoch ist auf eine andere Art und Weise der Verbleib des Geldes nicht zu erklären, wenn man nicht an Geister und deren geheimnißvolles Wirken glauben will.”

„Und das Geld fehlt Ihnen wirklich?” fragte sie tonlos, „ach, man ist so oft geneigt, an einen Diebstahl zu glauben, wenn man eine Sache vermißt, bis man sie hinterher an einem Platz, wo man tausend- und abertausendmal gesucht hat, wiederfindet. haben Sie wirklich alles genau nachgesehen? Bestohlen in meinem Hause, bestohlen, es ist zu schrecklich!”

„Gnädige Frau,” bat er, „nehmen Sie Sich die Sache nicht so zu Herzen. Hätte ich geahnt, daß meine Worte Sie so erregen würden, so hätte ich nie und nimmermehr gesprochen.”

„Nicht um mich handelt es sich, sondern um Ihre Person,” gab sie zurück, „bitte, erzählen Sie mir, wann Sie den Verlust zuerst bemerkten und wie Sie auf den Gedanken gekommen sind, daß das Geld Ihnen gestohlen, — gerade hier gestohlen sein soll.”

Sie beugte sich weit vor und sah gespannten Blickes zu ihm hinüber, gleichsam als wolle sie ihm die Worte, bevor er sie ausspreche, von den Lippen ablesen.

„Gnädige Frau,” begann Herr von Kettberg, „als ich mich heute Morgen auf dem Wege zu Ihnen befand, begegnete ich dem Postboten, der mir einen Geldbrief einhändigte. Dieser Brief enthielt die Summe von zehntausend Mark, die ich mir von meinem Banquier hatte schicken lassen. In Gegenwart des Beamten öffnete ich das Couvert und zählte das Geld nach, es waren zehn Tausendmarkscheine. ich legte die Scheine wieder in das Couvert zurück und steckte dieses in die innere rechte Brusttasche meines Paletots. Nach einigen Minuten, ohne daß ich inzwischen mit einem anderen Menschen in Berührung gekommen wäre, betrat ich Ihre Wohnung. Das Mädchen sagte mir, daß Sie, gnädige Frau, Besuch annähmen. Ich zog meinen Paletot aus und legte ihn auf den im Entree Ihrer Wohnung stehenden Tisch, und zwar so, wie ich mich ganz genau erinnere, daß das Futter nach außen zeigte. Das Couvert ließ ich in der Tasche stecken. Nach Beendigung meiner Visite, die sich ja lange ausdehnte, zog ich meinen Paletot wieder an und begab mich, ohne vorher einen Laden oder eine Wohnung betreten zu haben, nach Haus. Hier angekommen, nahm ich das Couvert aus der Paletot-Tasche, um das Geld in meinen Schreibtisch zu schließen. Ich nahm die Scheine einzeln in die Hand, um mir, wie ich es stets zu thun pflege, die Nummern zu notiren, und hierbei machte ich die Entdeckung, daß mir drei Tausendmark-Scheine fehlten. Ich zählte wieder und immer wieder, ich durchsuchte meinen Paletot; in dem Glauben, das Geld sei vielleicht auf die Erde gefallen, durchstöberte ich mein ganzes Wohnzimmer, ich ging den Weg bis zu dem Garderoben-Ständer, an dem ich den Ueberzieher aufgehängt und wo ich das Couvert aus der Tasche genommen hatte, zurück. Ich zündete mir eine Lampe an und forschte auf jedem Treppenabsatz, unter dem Läufer, in den Ecken. Alles war vergebens, in meiner Wohnung konnte das Geld nicht sein, ich hätte es finden müssen.”

Nun überlegte ich, wo ich den Brief erhalten, wo ich es verloren haben könnte, aber ein Verluste des Geldes scheint mir überhaupt völlig ausgeschlossen.

Nur eine einzige Lösung des Räthsels bleibt übrig. Das Geld muß gestohlen sein; und es konnte mir nur entwendet werden in der Zeit, da ich den Paletot aus den Händen gelegt hatte. Dies aber, meine gnädige Frau, ist nur hier in Ihrer Wohnung geschehen, hier lag mein Mantel fast zwei Stunden hindurch auf dem Tisch im Entree, hier nur kann es mir genommen sei.”

Verzweifelt rang die alte Dame die Hände: „Was Sie mir da sagen, Herr von Kettberg, klingt so klar und überzeugend, daß daran zu zweifeln thöricht ist, und dennoch kann und will ich es nicht glauben, daß Sie bestohlen worden sind. Sie sagen, Sie haben überall gesucht, allein vergebens. Ach, Bester, ich möchte Ihnen den Ausspruch eines der gewiegtesten Pariser Criminal-Beamten sagen, der da lautet: ,Was man sucht, findet man selten gleich, oft nie, weil man es überall vermuthet, nur nicht da, wo es ist.' Das klingt so einfach, fast albern, und doch ist es wahr. In seinen Memoiren, die ich vor einiger Zeit las, erzählt er verschiedene Beispiele, die die Wahrheit seines Wortes beweisen sollen. Bei einer Haussuchung, die er persönlich leitete, wurde nach mehreren entwendeten Banknoten gesucht. Alles wurde durchsucht, der ganze Ofen auseinander genommen, die Betten und Matratzen zerschnitten, nirgends war etwas zu finden. Durch einen Zufall wurden die Scheine endlich doch entdeckt: als einer der Beamten versehentlich die Tischdecke herunterwarf, fiel die Zeitung, die auf dem Tische gelegen hatte, zu Boden, und aus der Zeitung flatterten die Scheine. Die Verbrecher sagen, das einfachste Versteck ist das verborgenste. Natürlich erfordert es eine große Gewandtheit, das Einfachste zu finden, — haben Sie nicht schon tausendmal gehört, daß jemand seine Brille an allen Orten der Welt vergebens sucht, bis er sie schließlich auf seiner Nase wiederfindet? An alle Schlupfwinkel denkt man, nur nicht an den natürlichsten, und so werden, so müssen auch Sie Ihr Geld wiederfinden.”

Aber ungläubig schüttelte er statt jeder Antwort mit dem Kopf, und erregt fuhr die alte Dame fort: „Es ist unmöglich, daß die Scheine Ihnen hier gestohlen sein können. Die Etagenthür, die zu meiner Etage führt, ist stets verschlossen, nur von innen kann sie geöffnet werden, niemand kann die Etage betreten, ohne daß er vom Dienstmädchen bemerkt wird. Räuber kommen nicht zu mir, weil sie wissen, daß ich nichts habe und die Leute, die mich aufsuchen, sind Lieferanten und liebe Freunde. Die ersteren sind nicht eine Secunde allein, das Mädchen nimmt ihnen die Waren an der Thür ab, und daß der Herr Geheimrath, der zu mir kam, solange Sie noch bei mir waren, der Dieb ist, glauben Sie doch wohl selbst nicht.”

Mit diesem kleinen Scherz suchte die Frau Doctor, die innere Unruhe zu verscheuchen und auch den Legations-Secretair von der Grundlosigkeit seiner Vermuthungen zu überzeugen.

Aber das feine Lächeln, das den Mund der alten Dame umspielte, als sie sich den ehrwürdigen Geheimrath als Dieb dachte, fand auf dem Gesicht ihres Gastes keinen Widerhall.

„Gnädige Frau,” begann er abermals, „ich würde nie gewagt haben, Ihnen von dem Diebstahl zu sprechen, wenn sich mein Verdacht nicht auf eine bestimmte Person lenkte.”

„Und die wäre?” fragte die Greisin hastig, während ihre Hände vor Erregung zitterten.

„Die einzige, die es überhaupt gewesen sein kann, ist Ihr Dienstmädchen, gnädige Frau.”

Erleichtert athmete die alte Dame auf: „Meine Dora, Herr von Kettberg? Für die stehe ich ein wie für mich selbst, seit vierzehn Jahren ist sie bei mir im Haus, sie ist treu und ehrlich wie nur eine, — nein, nein, die ist es nicht.”

„Und dennoch halte ich meinen Verdacht aufrecht,” gab er zurück. „Bedenken Sie selbst, gnädige Frau: der Tisch, auf dem der Paletot lag, steht der Küchenthür unmittelbar gegenüber, die Entfernung beträgt kaum drei Schritt, von der Küche aus hat das Mädchen den Mantel liegen sehen, vielleicht hat aus der Brusttasche des Rockes eine Ecke des Couverts herausgeragt, sie ist neugierig geworden und hat den Brief herausgezogen. Sie fand die zehn Scheine und sagte sich: Nimm, was du so leicht nie wieder erlangen kannst, wer will hinterher mit Bestimmtheit sagen, daß gerade zehn Scheine in dem Umschlag waren, wenn auch auf dem Couvert die Zahl vermerkt iust? Ob drei Scheine mehr oder weniger drinnen liegen, ist im ersten Augenblick nicht zu sehen, und wenn der Verlust des Geldes hinterher bemerkt wird, — wer will da mit Sicherheit behaupten, daß die Summe hier verschwunden ist, gerade hier fortgekommen sein muß?

Eine Ueberaschung brauchte das Mädchen, da Sie, meine gnädige Frau, so liebenswürdig waren, mich zum Frühstück einzuladen, nicht zu fürchten. Nachdem die Speisen in das Zimmer getragen waren, konnte sie mit Bestimmtheit darauf rechnen, daß ich Sie vorläufig nicht verlassen würde, — sie hatte also Zeit und Muße vollauf, die zu benutzen sie nicht versäumt hat.”

„Nein, nein, Sie irren sich ganz gewiß, Herr von Kettberg,” sprach die Hausfrau, während sich von neuem Angst und Entsetzen auf ihrem Gesicht ausprägten, „es ist unmöglich, was Sie mir da sagen, — aber wenn es dennoch wäre, wenn ich mich so in ihr getäuscht hätte! ,So Mancher wird mit Ehren begraben, der als Lump gelebt hat,' lautet ein altes Wort. Aber nein, vierzehn Jahre mit einem Wesen unter demselben Dach, und sich so zu täuschen, nein, so viel Schlechtigkeit giebt es selbst in unserer Zeit nicht.”

„Und wenn es dennoch wäre?” fragte er.

„Aber es ist nicht so, Sie ungläubigster aller Menschen,” entgegnete sie, „doch ich will Ihnen etwas sagen, rufen Sie das Mädchen herein und fragen Sie sie selbst in meiner Gegenwart.”

„Glauben Sie nicht, gnädige Frau,” unterbrach er sie, „daß es rathsam wäre, sich an die Polizei zu wenden, daß eine Haussuchung —”

Da aber fuhr die alte Dame in die Höhe: „Das wollten Sie mir anthun, Herr von Kettberg?” Dann aber, sich gleich wieder besinnend, setzte sie hinzu: „Verzeihen Sie mir, Sie haben ja zu fordern, und ich muß alles thun, was in unseren Kräften steht, um Ihnen wieder zu Ihrem Eigenthum zu verhelfen.. Thun Sie, was Sie für nöthig erachten; vorher aber, ich bitte darum, lassen Sie mich mit dem Mädchen sprechen, — ich verspreche Ihnen, daß sie die Wohnung nicht verlassen soll, bevor die Polizei hier nicht alles durchsucht hat.”

Sie drückte auf den Knopf der elektrischen Klingel, und gleich darauf trat das Mädchen in das Zimmer.

„Dora,” sprach die Frau Doctor, „dem Herrn Lagtions-Secretair ist heute Morgen, während er bei mir war, eine Summe Geldes aus seinem Paletot gestohlen worden. — Dora, ich frage Sie bei allem, was Ihnen heilig ist, haben Sie das Geld genommen?”

„Nein, Frau Doctor.”

„Dora,” fragte die alte Dame noch einmal, „wir sind alle Menschen und können irren und fehlen. An jeden von uns tritt die Versuchung in dieser oder jener Gestalt heran, und nicht immer reichen unsere Kräfte aus, um zu widerstehen. Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach. Haben Sie es gethan, so sagen Sie es, — ich will Sie beklagen, aber nicht verdammen, und auch Herr von Kettberg wird auf meine Bitte, dessen bin ich sicher, von einer Strafanzeige absehen.”

Zustimmend verneigte sich dieser: „Selbstverständlich, gnädige Frau.”

„Nein, Frau Doctor,” erklang da Dora's Stimme. Nur ein „nein”, keine weitschweifige Entschuldigung oder Unschuldsbetheuerung, die nur zu oft die Schuld zu verbergen sucht.

Des Mädchens Stimme erklang so ruhig und sicher, ihre Augen blickten so offen und klar, die Farbe ihrer Wangen hatte sich so wenig verändert, daß Kettberg es instinctiv empfand: sie ist nicht schuldig.

„Ich wußte es ja,” sprach die alte Dame, „daß Sie es nicht gethan haben — wir, Herr von Kettberg und ich, sind nun davon überzeugt, — aber vor den anderen Menschen und den Richtern bleibt dennoch der Verdacht auf Ihnen ruhen, bis es gelungen ist, den Schuldigen zu ermitteln. Dora, wissen Sie, wer das Geld genommen hat?”

„Nein, Frau Doctor.”

„Meine gnädige Frau,” sprach Herr von Kettberg, „gestatten Sie, daß ich das Mädchen frage?” Und als die Hausfrau ihm ein freundliches „Ich bitte” zugerufen hatte, fuhr er fort:

„Sie müssen es gesehen haben, wer das Geld nahm. Niemand kann, ohne von Ihnen bemerkt zu werden, die Etage betreten. Die Etagen-Thür ist stets verschlossen, aber selbst den unwahrscheinlichen Fall angenommen, daß die Thür unverschlossen gewesen wäre und daß sich jemand heimlich auf den Corridor geschlichen hätte, so mußten Sie ihn dennoch sehen, denn in der Küchenthür sind große Glasscheiben. Sie werden mir entgegnen, daß Sie der Thür den Rücken zugedreht hätten, — das mag sein, aber dennoch mußten Sie bemerken, wer die Etage betrat, denn der Spiegel, der, wie ich vorhin sah, in der Küche am Fenster, den Glasscheiben der Küchenthür gerade gegenüber hängt, wirft jedes Bild zurück. Und deshalb frage ich Sie noch einmal: wissen Sie, wer das Geld genommen hat?”

Jeder Blutstropfen war aus dem Gesicht des Mädchens gewichen, ihre Wangen waren blaß, ihre Gestalt zitterte. Einen flehenden Blick warf sie ihrer Herrin zu, einen Blick, der da zu sagen schien: „Schütze mich vor diesem Menschen, der mit seiner Logik unerbittlich ist, der mich zwingen will, zu sagen, was ich doch nicht sagen kann.”

„Herr von Kettberg,” sprach die Dame des Hauses, „dürfte ich Sie vielleicht bitten, mich einen Augenblick mit dem Mädchen allein zu lassen, und solange in das Zimmer nebenan zu gehen. Ich glaube, wir werden dann schneller zu einem Resultat kommen.”

Er willfahrte ihrem Wunsche, und in dem Glauben, sich längere Zeit gedulden zu müssen, ließ er sich auf einen Stuhl nieder und blätterte in den Zeitungen und Journalen, die auf dem Tisch herumlagen.

Da hörte er plötzlich aus dem Nebenzimmer einen Schrei, halblaut, als wenn man versucht hätte, ihn ganz zu unterdrücken, — aber dennoch so klagend, so todestraurig, daß es ihm das Herz zerriß und er, von Angst getrieben, von seinem Sitz aufsprang und in das Nebenzimmer eilte.

Und da saß die alte Frau Doctor mit weitgeöffneten, starren Augen, ein Bild des Schreckens und des Jammers, zitternd und bebend wie Espenlaub. Und ihm war es, als sei das gütige, liebevolle Gesicht der Hausfrau plötzlich um Jahre gealtert und als habe es einen ganz fremden Ausdruck angenommen. Dora war um ihre Herrin beschäftigt, und als sie den Eintretenden gewahrte, der bestürzt hinzueilen wollte, winkte sie ihm, sich wieder zurückzuziehen. Wohl eine halbe Stunde verging, er hörte das leise Aechzen und Stöhnen der alten Dame, ihre Rufe: „Mein Gott, mein Gott,” die wie eine Anklage gegen den Allmächtigen klangen, dann ward es stiller und stiller, und endlich, für ihn nach einer Ewigkeit, öffnete das Mädchen die Thür und bat ihn, hereinzukommen.

Mit einer, in Rücksicht auf das hohe Alter fast unglaublichen Geschwindigkeit hatte sich die Greisin wieder erholt, und nichts verrieth mehr die ungeheure Erregung, in der sie sich noch vor kurzem befunden haben mußte. Leise und geräuschlos verließ Dora das Zimmer, nicht ohne vorher dem Besucher noch einen fast flehenden Blick zugeworfen zu haben, dann befand sich Herr von Kettberg mit der Herrin des Hauses allein.

Eine Todtenstille herrschte in dem Zimmer; er hatte nicht den Muth zu fragen, was sie so bewegt, so erschrocken habe. Er durfte nicht verrathen, daß er sie in ihrer Schwäche gesehen, und die alte Dame suchte vergebens nach Worten.

„Mein lieber Herr von Kettberg,” sagte sie endlich mit einer Stimme, deren Zittern und Beben sie nicht zu verbergen vermochte, „ich habe mir von meinem Mädchen alle Personen nennen lassen, die, so lange Sie heute Morgen bei mir waren, die Etage betreten haben, es sind alles Leute, für deren Ehrlichkeit ich noch vor wenigen Minuten mich verbürgen zu können glaubte. Auf einmal lenkt sich der Verdacht der Thäterschaft auf einen, dem ich es am allerwenigsten zugetraut hätte. Verlangen Sie nicht von mir, seinen Namen zu nennen, — glauben Sie mir, daß ich noch heute versuchen will, ein Geständniß von ihm zu erlangen. Leugnet er aber auch mir gegenüber, dann werde ich Ihnen aus meinen Mitteln den Betrag zurückerstatten, denn ich will nicht, daß einer meiner Gäste in meinem Hause pecuniären Schaden erlitte.”

Abwehrend erhob Herr von Kettberg die Hände: „Nie und nimmer, gnädige Frau, würde ich solches Opfer von Ihnen annehmen. ich weiß, Sie sind die Güte selbst, und ginge es nach Ihrem Herzen, so würde es keine Gefängnisse und Zuchthäuser mehr geben. Mit Ihrer sanften, milden Stimme würden Sie jeden Verbrecher bitten, auf den Pfad der Tugend zurückzukehren, und wären überzeugt, daß er es auch thäte. Dennoch aber, gnädige Frau, glaube ich, daß Sie in diesem Falle gut thäten, den Menschen dem Gericht zu übergeben. Wie sollten Sie, gnädige Frau, dazu kommen, für seine Schuld zu büßen?”

Er sah, wie die alte Dame bei seinen Worten zusammenschauerte, wie von neuem eine fahle Blässe ihr Gesicht überzog.

„Sprechen Sie, bitte, nicht von den Gerichten,” sprach sie, „mich schaudert's, wenn ich an die Gefängnisse denke. Möchten Sie, so lange Se es noch irgend verhindern können, dazu Veranlassung geben, daß jemand, wenn auch nur für Monate oder Jahre, hinter den Kerkermauern sitzt? Ich nicht, — ich selbst hätte keine ruhige Minute mehr.”

„Aber meine gnädige Frau,” bat er, „wohin sollte das führen, wenn wir nur unser Herz sprechen ließen? Wer Schuld auf sich lädt, muß sie büßen.”

„Gewiß,” gab sie zurück, „jegliche Schuld findet ihre Buße und Strafe, wenn auch nur in der Angst und Beklemmung des eigenen Herzens. Glauben Sie, daß derjenige, der Ihnen das Geld nahm, auch nur eine Secunde seines Besitzes froh wird, daß er nicht schon längst bereut, es genommen zu haben?”

„Macht ihn das weniger strafbar?”

„Gewiß,&rqduo; antwortete sie, „wer bereut, dem wird vergeben werden, so lehret uns die Schrift.”

„Im Jenseits ja, — aber hier auf Erden bleibt er dennoch strafbar,” versetzte er, „und abermals rate ich Ihnen, lassen Sie dieses Mal die Stimme Ihres Herzens schweigen, — Sie schenken Ihr Mitleid einem Unwürdigen, denn wer da stiehlt, ist ein Lump.”

Sie taumelte zurück bei diesem Wort, als habe sie einen Schlag ins Gesicht erhalten, dunkelroth färbten sich ihre Wangen, und wieder sprach sie vor sich hin: „Mein Gott, o mein Gott.”

Aber gleich richtete sie sich wieder auf: „Nehmen Sie diees entsetzliche Wort zurück, ich bitte, ich flehe Sie an, — vergeben Sie, wie auch Sie dereinst auf Vergebung hoffen. Wer weiß, was den Unglücklichen zur That trieb, — glücklich derjenige, der von sich sagen kann, ich bin nie einer Versuchung unterlegen, — nehmen Sie das Wort zurück.”

Ihre alten, zitternden Hände hatte sie ihm gefaltet entgegengestreckt, und aus ihren treuen Augen sprach eine solche Angst und Verzweiflung, daß er sich beeilte, ihren Wunsch zu erfüllen.

Aber er stand vor einem Räthsel, das er nicht zu erklären vermochte, nach dessen Lösung er vergebens suchte. Was bewog sie, die die Treue und Wahrheit selbst war, die jede Falschheit und jede Lüge haßte, so für einen Ehrlosen einzutreten? Wie konnte ihr das Schicksal eines Unwürdigen so zu Herzen gehen, daß sie das beleidigende Wort empfand, als wäre es ihr selbst zugerufen worden? Wie konnte sie für den Fremden bitten, als bäte sie für sich selbst?

Da erklang auf der Vorflur die Glocke, und gleich darauf hörte er eine Stimme fragen; „Ist Frau Doctor zu Hause?”

Herr von Kettberg erhob sich: „Sie bekommen Besuch, gnädige Frau, ich will Sie nicht länger stören. Sie werden so liebenswürdig sein, mir von dem Ergebniß Ihrer Nachforschungen Nachricht zu geben.”

Doch die, zu der er sprach, hörte ihn nicht, — ohnmächtig, mit geschlossenen Augen war sie zurückgefallen, den Ausdruck tödtlichster Angst und tödtlichsten Schreckens auf ihren Zügen.

Einen Augenblick stand er wie erstarrt da, dann stürzte er hinaus, um das Mädchen zu rufen, und stieß in der Thür mit dem Besucher zusammen, — dem ältesten Enkel der alten Frau Doctor, einen jungen Studenten der Chemie.

„Ihre Frau Großmutter ist soeben von einer Ohnmacht befallen worden, — eilen Sie sofort zum Arzt,” rief er ihm zu.

Der aber taumelte, als er Herrn von Kettberg's ansichtig wurde, zurück, als sei ein Todter aus der Gruft vor ihm aufgestanden. Bleich, mit fahlen Wangen lehnte er sich gegen die Mauer, der Schweiß perlte auf seiner Stirn, die ganze Gestalt zitterte, und nur mühsam hielt er sich aufrecht.

Und plötzlich, ehe Herr von Kettberg es verhindern konnte, war der junge Mensch vor ihm auf die Kniee niedergefallen und murmelte unverständliche Worte vor sich hin.

Da drängte sich Herrn von Kettberg die Erkenntniß so jäh und plötzlich auf, daß er im ersten Augenblick sich dagegen zu wehren versuchte.

„Arme, arme Frau,” sprach er vor sich hin, „ nun verstehe ich alles, — wie mußt Du bei meinen Worten gelitten haben.”

So sehr war er erschüttert, daß er kaum auf die Worte des vor ihm Knieenden achtete, der in fliegender Hast, da er bei dem Anblick des Herrn von Kettberg eine Entdeckung seines Vergehens als sicher annahm, ein reuiges Bekenntniß seiner Schuld ablegte. Von seinen Gläubigern gedrängt, habe er gestern im Spiel sein Glück versucht, — er hatte verloren, dreitausend Mark, — zahlbar auf Ehrenwort in vierundzwanzig Stunden. Er sei der Verzweiflung, dem Selbstmord nahe gewesen, — er hätte keinen Ausweg, keine Hülfe gewußt aus der schrecklichen Lage, in der er sich befunden, galt es doch vor der Welt seine Ehre zu retten. Da habe er heute Morgen, als er gekommen sei, um seine Großmutter zu besuchen, den Geldbrief in der Paletot-Tasche gesehen, er habe die Hand ausgestreckt nach fremdem Gut und sein verpfändetes Ehrenwort eingelöst.

Und die Reue, die Selbstanklage und Verzweiflung, die aus den Worten des jungen Menschen sprachen, rührten das Herz des Herrn von Kettberg und ließen ihn der Worte gedenken, die vorhin die alte Frau Doctor zu ihm gesprochen hatte: „Vergeben Sie, wie auch Sie dereinst auf Vergebung hoffen. Glücklich derjenige, der von sich sagen kann, ich bin nie einer Versuchung unterlegen.”

Er beugte sich hinab und hob den noch immer Knieenden auf: „Ungeschehen machen läßt sich keine That, — aber man kann sie vergessen machen. Das sei Ihre Aufgabe, Ihre Buße, die ich von Ihnen verlange. Aber noch etwas anderes fordere ich von Ihnen: Keinem Menschen gegenüber dürfen Sie je Ihre Schuld bekennen, selbst Ihre Frau Großmutter darf nie etwas erfahren! Sie müssen leugnen bis zum letzten Augenblick, und selbst wenn Sie gefragt werden auf Ehre und Gewissen, dürfen Sie die Wahrheit nicht bekennen. Der Himmel wird es Ihnen dereinst verzeihen, daß Sie durch eine Lüge das Leben Ihrer Verwandten erhalten haben, denn die alte Dame würde sterben, wenn sie je die Wahrheit erführe. Ich weiß, wie gerade Sie von ihr geliebt werden, wie sie bei Ihnen in den goldenen Kelch sieht.

Ich höre die Schritte des Mädchens, eilen Sie zum Arzt, bevor man uns hier zusamenfindet, — das weitere lassen Sie meine Sorge sein.”

Er drängte den jungen Menschen, der dankerfüllten Herzens ihm die Hände zu küssen versuchte, zur Thür hinaus und entnahm dann seinem Portefeuille drei Tausendmark-Scheine und warf sie auf den Fußboden des Corridors, so daß es aussah, als wären sie vom Tisch herabgefallen, halb offen, halb versteckt, sodaß sie nicht gleich ins Auge fielen und doch beim Suchen gefunden werden mußten.

Dann eilte er nach Haus, und dort angekommen schrieb er mit fliegender Hand:

„Meine sehr verehrte gnädige Frau!

Ich beeile mich, Ihnen zu wiederholen, was ich schon vorhin persönlich zu Ihnen sagte: Hätte ich geahnt, daß meine Worte Sie so erregen würden, wäre nie und nimmer mehr eine Silbe über den Verlust über meine Lippen gekommen. Sie herzlichst um Verzeihung zu bitten für die Unruhe und Erregung, die ich Ihnen bereitet, ist der Zweck dieser Zeilen.

Und dann noch eins, obgleich ich weiß, daß es vergeblich sein wird, wie auch soeben eine erneute Durchsuchung meiner Wohnung abermals vergeblich war. Soeben fällt mir ein, daß ich Ihnen davon sprach, daß ich alles durchsucht hätte, wo nach meiner Meinung das Geld sein kann, unhd dennoch habe ich eins vergessen: Ihre Wohnung. Vielleicht beauftragen Sie das Mädchen, auch dort einmal auf das Genaueste nachzusehen.

Ich halte, wie gesagt, einen Verlust für undenkbar und halte die Vermuthung eines Diebstahls mit Entschiedenheit aufrecht. Ich rathe Ihnen nochmals, gnädige Frau, der Gerechtigkeit freien Lauf zu lassen.

In Verehrung und Ergebenheit bin ich stets Ihr gehorsamster von Kettberg.”

Dann siegelte er das Couvert, und inbrünstig beteten seine Lippen: „Vater im Himmel, hab' Erbarmen und laß meine List gelingen, — nimm ihr nicht noch so spät am Abend ihres Lebens die Freude an dem Enkelkind, das sie abgöttisch liebt. Laß gelingen, was ich ersehne, — laß sie glauben, daß das Geld, das sie finden werden, wirklich das verlorene, daß ihr Enkel kein Verbrecher ist.” —


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