Er schläft.

Humoreske von Graf Günther Rosenhagen
in: „Stralsundische Zeitung”, Sonntagsbeilage vom 14.7.1895,
in: „Badische Presse” Unterhaltungsbeilage vom 21.7.1895,
in: „Der Fortschritt”, Beilage „Der Erzähler”, vom 29.8.1895,
in: „(Linzer) Tages-Post” vom 5.1.1896 und
in: „Ehestandshumoresken”


Gestern Abend hat der Vater in seiner Eigenschaft als Vize-Präsident des städtischen Feuerlöschwesens eine geheime Sitzung gehabt. Erst spät in der Nacht ist er heimgekehrt und wichtige Dinge müssen es gewesen sein, die auf der Tagesordnung standen, denn der Vater ist heute von der verwünschten Sitzung angegriffener denn je, klagt über seine Nerven und über Kopfschmerz und ist von so übler Laune, daß das ganze Haus vor ihm zittert, und Bertha, das Mädchen für alles (mit Ausnahme der Kinderwäsche) nicht zu bewegen ist, die im Souterrain gelegene Küche zu verlassen. Der Vater kämpft einen schweren Kampf, ob er in das verflixte Bureau gehen, oder sich krank melden soll, aber endlich siegt das dem preußischen Beamten innewohnende Pflichtgefühl und er ergreift Hut und Stock, während die Familie erleichtert aufatmet. Seine Frau ist die Tochter eines Arztes und weiß, wie heilsam für alle Leiden frische Luft und Bewegung sind, und sie freut sich auf den Augenblick, da er wieder heimkehrt.

Die Stunden gehen dahin, es ist ein Uhr, der Vater müßte schon da sein, er hat sich das Frühstück zu dieser Zeit bestellt; gegessen wird erst um sechs Uhr, wenn er mit dem Dienst ganz und gar fertig ist. Endlich, als die Kartoffeln nur noch mit Anwendung allen Scharfsinns vor dem Anbrennen geschützt werden können, wird die Haustür geöffnet und gleich darauf hört man eine scheltende Stimme: „Zum Donnerwetter, was ist das hier schon wieder für eine Wirtschaft im Haus? Wie oft habe ich nicht schon gesagt und ausdrücklich befohlen, daß jederzeit die Sperrkette vorgelegt werden soll, aber man kann sagen, was man will, Ihr werdet nicht eher klug, als bis die Diebe Euch das ganze Haus ausgeräumt haben, und ich muß dann wieder bis spät in die Nacht arbeiten, um zu verdienen, was wir durch Euern Leichtsinn verloren haben!”

Zu wem er spricht, ist nicht ganz klar, Bertha hat bei den ersten Worten die Küchentür fest zugemacht und poltert am Herd mit den Kochtöpfen, um nur nichts zu verstehen. Die Frau, die eben bei dem Jüngsten war, bleibt erschrocken auf der Treppe, so daß sie nicht zu sehen ist, und Otto, der vierjährige Sohn, versteckt sich hinter Mamas Kleid, denn empfindsamer als alle andern trifft ihn zuweilen Papas Zorn.

Einen Augenblick bleibt die Frau noch oben auf dem Treppenabsatz stehen, dann eilt sie ihm völlig unbefangen entgegen: „Ah, da bist du ja endlich, Otto, komm nur, das Frühstück ist fertig.”

Sie führt ihn in das Eßzimmer, wo der Tisch gedeckt ist; der Tee ist bereits eingeschenkt, damit er abkühlt, die Flasche Pilsener Bier steht aufgezogen daneben, das Butterbrot ist schon gestrichen und belegt und die Zigarre, die er sich stets hinterher anzuzünden pflegt, liegt auf der Streichholz­schachtel daneben.

Er läßt seine prüfenden Blicke über den Tisch schweifen: „Wie oft habe ich dir nicht schon gesagt, Emmy, daß du nicht so viel auf den Tisch stellen sollst! Wer kann denn das Alles essen und bezahlen? Ich finde überhaupt, daß wir in der letzten Zeit sehr viel Geld gebrauchen.”

Sie schweigt, aber ihr Gesicht nimmt einen traurigen Ausdruck an, sie hatte gehofft, gerade heute seinen Beifall zu finden; sie kennt ihn zu gut, um nicht zu wissen, daß Widerspruch unnötig seinen Zorn erregen würde. Sie tut daher, als wenn sie seine Worte überhört hätte, sie nimmt seinen Teller und schickt sich an, ihm wie stets aufzulegen: „Was darf ich dir geben, Otto?”

Aber Otto der Große antwortet nicht, sondern blickt vor sich hin; sie wiederholt ihre Frage, zornig fährt er sie an: „Wenn du auf meine Bemerkungen nicht antwortest, brauche ich auf deine Fragen auch wohl nicht zu antworten.”

Ruhig setzt sie ihm den Teller wieder hin und gibt dem Kinde; aber auch das ist dem Vater nicht recht.

„Der Junge kann gefälligst warten, bis ich mir genommen habe.”

„Aber du nimmst dir ja nicht,” sagt sie in vorwurfsvollem Ton.

Einen Augenblick scheint es, als wenn er heftig werden will, aber er bezwingt sich. Er nimmt ein Butterbrot, beißt ab und legt es dann wieder auf den Teller: „Ich habe keinen Appetit, ich mag nicht essen.”

„Du solltest dich etwas schlafen legen,” rät sie, „du bist übermüdet und überanstrengt von der gestrigen Sitzung; sie scheint ja wieder sehr schwer gewesen zu sein.”

„Wieso meinst du das?” fragt er grollend.

„Nun — ich meine eben nur, du fühlst dich doch heute sehr angegriffen, du weißt doch, daß dir das lange Aufbleiben nie gut bekommt.”

„Wer Ämter hat, hat auch Pflichten,” entgegnet er in hoheitsvollem Ton.

„Gewiß,” bestätigt sie, „aber vergiß nicht, daß du in erster Linie die Pflicht hast, dich für uns gesund zu erhalten. Du solltest dich wirklich etwas schlafen legen, es wird dir gut tun.”

„Meinst du?” fragt er.

Sie tut, als wenn sie den halb lauernden, halb forschenden Blick, den er ihr zuwirft, nicht bemerkt, sondern sagt:

„Gewiß, komm nur.”

Etwas schwerfällig erhebt sich Otto der Große, und sie begleitet ihn nach seinem Zimmer. Sie legt ihm die Schlummerrolle auf der Chaiselongue zurück und öffnet die nach dem Hintergarten führende Glastür, damit die schöne frische Sommerluft in das Zimmer hineinströmen kann. Um die Sonne abzuhalten, zieht sie die Stoores vor und geht dann, nachdem sie ihm die sorgenvolle Stirn geküßt hat, leise, unhörbar auf den Zehenspitzen heraus.

Er schläft, und mit Windeseile fliegt die frohe Botschaft durch das Haus. Bertha atmet erleichtert auf und schwört bei Allem, was ihr heilig ist, sich ganz still und ruhig in der Küche zu verhalten, dem kleinen Otto werden goldene Berge versprochen, wenn er Vaters Schlummer nicht stören will und dem Säugling in der Wiege wird bei der geringsten Bewegung, die er macht, die Flasche in den Mund geschoben, damit er nur nicht schreit, denn das kann der Vater auf den Tod nicht leiden.

In dem kleinen Hause herrscht eine feierliche Stille, kein Laut, kein Geräusch ist zu hören, selbst der kleine Kanarienvogel ist von der Wichtigkeit des Augenblicks durchdrungen und sitzt nachdenklich auf seiner Stange, sich seinen Gesang auf eine gelegenere Stunde aufsparend. So vergeht eine Viertelstunde; da stürzt der kleine Otto weinend und schreiend die Treppe zu Mama hinauf. Er ist bei Bertha in der Küche gewesen und hat mit ihrer Uhr so lange gespielt, bis sie in tausend Stücken auf den Fliesen lag. Die Strafe ist auf dem Fuße gefolgt, und nun stürmt er so schnell er kann zu Mama, um ihr sein Leid zu klagen.

Der Mutter steht vor Angst beinahe das Herze still, um Gottes Willen, wenn der Vater das Geschrei hörte — mit angehaltenem Atem lauscht sie und unwillkürlich faltet sie die Hände: Gott sei Dank, unten rührt sich nichts, er schläft! Sie zieht das Kind an sich und sucht seine Tränen zu trocknen, endlich ist es ihr gelungen, aber das Geschrei des älteren Bruders hat den Säugling aus seinen Träumen geweckt, und mit schmetternder Stimme meldet er sich. Die Mutter ergreift die Flasche, aber sie ist kalt und muß erst angewärmt werden. Vergebens sucht sie nach einem Streichholz: wo sind sie denn nur, heute Morgen haben sie doch noch auf dem Leuchter gelegen? Sie sind fort, und schon will die Mutter das Mädchen klingeln, als ihr einfällt, daß der Glockenton den Vater wecken könne. Das Kind schreit, als wenn sein letztes Stündlein gekommen wäre, Hilfe, rasche Hilfe tut not.

„Hier, Otto, nimm die Flasche und geh runter in die Küche, Bertha weiß Bescheid.”

Otto verschwindet und sie nimmt den Säugling auf den Arm. Sie geht und fährt und tanzt und hüpft und springt mit ihm durch das Zimmer, sie nennt ihn ihren süßen Engel und ihren ganz unartigen kleinen Jungen, sie küßt ihn und gibt ihm einen kleinen Klaps auf die Finger — Alles geht spurlos an ihm vorüber, er schreit und will Milch haben. Wo nur Otto bleibt? Endlich kommt er, schon von Weitem ist sein Weinen zu hören, er hat die Flasche, die ihm zu warm war, fallen lassen und fürchtet sich nun vor der Strafe. Die Mutter ist verzweifelt, was soll sie tun? Sie hat keine Flasche mehr in dem Schlafzimmer, sie will nach der Küche gehen und die Milch selbst besorgen. Sie will die Stube verlassen, da fängt der Säugling mit erneuter Kraft an zu weinen, es ist unmöglich, sie kann ihn nicht allein lassen, wenn sie den Vater nicht wecken will. Er schläft noch immer und er muß auch noch schlafen, wenn er nachher zum Dienst frisch sein soll.

Sie zieht die Glocke und betet in ihrem Innern, daß der Vater das Läuten nicht hört, sie weiß, wie rasend er wird, wenn man seinen Schlummer stört! wenn er es nur nicht hört — ihr Wunsch geht in Erfüllung, in seinem Zimmer rührt sich nichts, aber auch in der Küche bleibt Alles still, Bertha rührt sich nicht. Sie zieht stärker, immer stärker, jeden Augenblick fürchtend, daß ein „Zum Donnerwetter, was ist denn eigentlich hier im Hause los?” — von unten heraufschallen wird. Bertha rührt sich nicht.

Und der Säugling schreit, daß die Wände zittern. Sie legt das Kind in die Wiege und eilt die Treppe hinunter in die Küche, wo Bertha mit dem Aufwaschen des Frühstücks­geschirres beschäftigt ist.

„Aber Bertha, sind Sie denn heute taub?” will die Hausfrau fragen, da klingelt es an der Haustür. Das Mädchen will hingehen, um zu öffnen, aber die Frau hält sie zurück: „Machen Sie nur rasch die Milch warm, ich werde selbst aufmachen.”

Sie eilt die wenigen Stufen aus dem Souterrain hinauf und öffnet die Tür.

„Ah, meine gnädige Frau, welch großes Glück, daß wir sie antreffen, wir wollten doch nicht verfehlen, Ihnen als Brautpaar unseren pflichtschuldigen Besuch zu machen.”

Völlig fassungslos starrt sie die Beiden an, ihr erster Gedanke ist, zu sagen, daß sie nicht zu Haus eist, aber das geht doch nicht. So macht sie denn das freundlichste Gesicht, das ihr unter den obwaltenden Umständen zu Gebote steht: „Wie liebenswürdig von Ihnen, wollen Sie nicht bitte näher treten?”

Sie führt das Brautpaar in ihren Salon und bietet ihm einen Platz an.

„Wenn sie nur möglichst leise sprechen wollten,” denkt sie in ihrem Innern, denn in der Stube nebenan, die nur durch eine Schiebetür abgetrennt ist, schläft er, und sie weiß, wie unangenehm ihm solche Besuche sind. Aber die Braut ist so lustig und heiter, sie kann ihr Glück kaum fassen, sie scherzt und lacht beständig. Und wie sie lacht! Der armen Frau gibt dies Lachen jedesmal einen Stich in das Herz und jedesmal denkt sie: „Nun wird er erwachen.” Aber er schläft noch immer und oben brüllt das Kind, aber die Liebenden hören es nicht, oder wollen es nicht hören. „Wenn es nur nicht stirbt,” denkt die geängstigte Mutter.

„Ihr Herr Gemahl ist nicht zu Haus?” fragt endlich der Bräutigam.

„Er wird es sehr bedauern — vor einer Viertelstunde ist er auf das Bureau gegangen.”

Noch weitere fünf Minuten und die Verlobten empfehlen sich. In der Freude ihres Herzens, die lästigen Besucher los zu werden, geleitet sie sie durch den Garten bis zur Pforte — aber plötzlich fühlt sie ihre Knie wanken, denn sie sieht dort ihren Gatten, wie er, die Zigarre im Munde, stillvergnügt dem Kampf zweier Straßenjungen zuschaut.

Die Begrüßung und der Abschied von dem Brautpaar ist ziemlich frostig trotz der warmen Mittagssonne — dann gehen beide Gatten dem Hause zu.

„Aber Otto, ich denke du schläfst?” sagt sie endlich ganz bestürzt und verwundert.

„Ich denke ja gar nicht daran,” lacht er lustig, „ich wollte schlafen, aber es war mir zu warm, da hab' ich mir ein Buch genommen, bin in den Hintergarten gegangen, habe gelesen und dabei alle meine Kopfschmerzen und Sorgen vergessen.”

Noch immer blickt sie ihn verständnislos an, da kommt der kleine Otto durch den Garten gelaufen: „Mammimg, klein Bruder ist still — er schläft.”

Ein Gefühl der Freude durchfährt sie, aber die Erfahrungen der letzten Stunde haben sie mißtrauisch gemacht, sie glaubt es nicht, und erst als sie sich leise der Wiege nähert, flüstert sie glücklich: „Er schläft.”


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