Von Freiherrn v. Schlicht
in: „Berliner Tageblatt” vom 1.9.1905
Es war vor vielen Jahren in einem Kaisermanöver. Spät abends waren wir ins Quartier gekommen, und schon um vier Uhr morgens sollte die Kompagnie wieder antreten. Bis um drei gaben wir uns der wohlverdienten Ruhe hin, eine Stunde später versammelten wir uns auf dem Appellplatze bei der Kirche. Mit der größten Sorgfalt wurden die Anzüge der Mannschaften nachgesehen, immer wieder wurde gefragt, ob auch alles bequem sitze, ob nicht irgendwo eine Schnalle oder eine Falte drücke, und diese Fürsorge für die Leute war heute mehr angebracht als je, denn es war der erste Tag der dreitägigen Herbstübungen, denen der Kaiser beiwohnte, und ein weiter Marsch stand uns heute bevor. Wohin es eigentlich ging, wußte niemand, nicht einmal der Hauptmann; der hatte nur den Befehl, nach einem Dorfe, dessen Name mir natürlich entfallen ist, zu marschieren, dort würde er weitere Nachrichten erhalten.
So marschierten wir denn darauf los, eine Stunde nach der anderen, glühend heiß brannte die Sonne zur Erde, unsere eigenen Füße und die vorbeireitende Artillerie und Kavallerie wirbelten dichte Staubwolken auf, die sich uns atembeschwerend auf die Lunge legten, aber es ging weiter und weiter, bis wir mittags gegen 1 Uhr an unserem Ziele ankamen. Eingerechnet der kurzen Marschpausen, die die glühende Hitze immer häufiger nötig machte, waren wir neun Stunden unterwegs gewesen. Ein Meldereiter erwrtete unsere Kompagnie, die in den letzten Tagen abkommandiert gewesen war, und überbrachte einen neuen Befehl: noch achtzehn Kilometer Marsch bis zum Quartier, dann Ruhe bis morgen früh. Noch achtzehn Kilometer! Dreißig Kilometer hatten wir schon zurückgelegt, dreißig Kilometer in glühendster Hitze, mit vollgepacktem Tornister, mit nur kurzen Ruhepausen, auf staubiger, schattenloser Chaussee, ohne eine warme, kräftige Nahrung inzwischen erhalten zu haben. Und nun noch achtzehn Kilometer! Fragend sah der Hauptmann seine Leute an:
„Geht es, Jungens?”
„Es muß gehen, Herr Hauptmann!”
Nach kurzer Rast ging es weiter, den Kilometer nicht mehr in zwölf Minuten, wie die Vorschrift es verlangt, sondern in fünfzehn, und bald in zwanzig Minuten. Immer wieder mußte gehalten werden, achtundvierzig Kilometer sind eine niederträchtige Entfernung, wir alle waren mit unseren Kräften zu Ende, wir schleppten uns, nein, wir krochen vorwärts, wir sahen es ein, bald würden wir keinen Mann mehr von der Stelle bekommen, und doch fehlten noch vier Kilometer: in dem Zustand, in dem die Truppe sich befand, noch eine Marschleistung von einer Stunde. Da, gerade als wir ein kleines Dorf passierten, ritt der verstorbene Graf Waldersee an uns vorüber: ein kurzer Blick auf die Kompagnie, ein paar kurze Fragen an den Hauptmann, ein kurzer Befehl an die Adjutanten, den diese an die Meldereiter weitergaben, dann hieß es: die Kompagnie bleibt hier und bezieht in diesem Dorf bis morgen früh Notquartier. Wie wir so schnell auf die einzelnen Häuser verteilt worden sind, weiß ich nicht mehr. Ich erinnere mich nur noch, daß ich zu einem Bäcker geschickt wurde. In dem großen breiten Strohbett, das mir überwiesen wurde, lagen bereits zwei Bäckergesellen und schliefen, aber ich machte garnicht erst den Versuch, sie zu wecken, als dritter legte ich mich friedlich zu ihnen, und ich muß sofort eingeschlafen sein, denn erst am nächsten Morgen bemerkte ich, daß ich mich gar nicht ausgezogen hatte, nicht einmal die Stiefel hatte ich von den Füßen gehabt.
Ich schlief noch, als ich morgens um drei Uhr geweckt wurde;eine Stunde später marschierten wir ins Gefecht, und stundenlang unterhielten wir ein Schützenfeuer, nicht etwa im Liegen, denn die guten Uniformen der Leute mußten geschont werden, und die Manöver waren damals noch unkriegsmäßiger , als sie es teilweise heute noch sind. Liegen durften wir also nicht, wir mußten knien. Und so knieten wir denn eine Stunde nach der anderen auf den von der Sonne zu harten Steinen zusammengeballten Erdschollen eines ungepflügten Ackers. Nur wer das selbst einmal durchgemacht hat, weiß, was das bedeutet. Mit erstorbenen Knien erhoben wir uns, als endlich der Befehl zum Vorrücken kam. Wir schlichen vorwärts, wir stolperten und fielen, die Beine versagten den Dienst. Aber trotzdem ging es wieder stundenlang weiter, bis wir gegen 6 Uhr abends den Biwakplatz erreichten. Um 9 Uhr erschien endlich die Bagage, die falsch dirigiert worden war, und um 10 Uhr aßen wir zu Mittag. Und morgens um 4 Uhr standen wir schon wieder marschbereit im Biwak; durch einen falschen Befehl waren wir viel zu früh geweckt worden. Vier Stunden standen wir auf derselben Stelle und warteten, jeden Augenblick konnte der Befehl zum Abmarsch kommen, und vor allen Dingen war ja der Kaiser in der Nähe, da durfte man es nicht wagen, die Leute wieder forttreten zu lassen, Majestät konnte ja zufälligerweise erscheinen. Um acht Uhr jagten die Adjutanten herbei: „Antreten . . . antreten!” „Das Gewehr . . . über . . . ohne Tritt marsch!” Die Beine wollten nicht, und doch mußten sie. Die Leute fielen wie die Fliegen, aber es ging immer weiter. Da donnerten auch schon die Kanonen, Gott sei Dank, wir hatten wenigstens keinen langen Anmarsch, das Gefecht begann. Unser Bataillon kam in die Reserve, wir waren nur teilweise gegen Sicht und gegen das feindliche Feuer gedeckt, gesehen werden aber durften wir nicht. Also hieß es wieder hinknien, nicht hinlegen, denn die gute Uniform der Truppe mußte geschont werden. Und abermals knieten wir stundenlang, bald rechts, bald links, dann kam der Befehl, einen Flankenangriff auszuführen und mit „Hurra” die feindlich Stellung zu stürmen.
„Das Gewehr über — ohne Tritt marsch!”
Wer noch gehen konnte, führte den Befehl aus, die anderen blieben liegen. Nach wenigen Hundert Metern erreichte uns ein neuer Befehl. Ein anderes Bataillon sollten den Angriff ausführen, wir selbst sollten unsere Schützenlinie verstärken. Was befohlen wird, wird gemacht, und so knieten wir denn gleich wieder in der Schützenlinie, die Entfernung und das Visier wurden uns zugerufen, wir gaben die Befehle an unsere Leute weiter, das Feuer wurde eröffnet, aber ich glaube nicht, daß auch nur ein einziger das Visier stellte oder beim Abdrücken zielte.
Es war der letzte Manövertag. Die Idee, die dem Ganzen zugrunde lag, mußte zu Ende geführt werden; so wurde es Mittag und Nachmittag, und immer noch knieten wir in der Schützenlinie. Hin und wieder erhielten wir die Erlaubnis, für eine Minute aufzustehen, aber dann hieß es gleich wieder: „Nieder!” Und wir hatten alle nur den einen Gedanken, nur einen Wunsch: blast das Signal „Das Ganze Halt!” und gebt den Befehl; „Entladen!” Wir sind mit unseren Kräften zu Ende, wir können nicht mehr. — Und wer könnte unsere grenzenlose Freude schildern, als dann endlich das Signal ertönte!
An diesen Augenblick, den ich auf Grund der ausgestandenen Strapazen nie vergessen werde, obgleich doch alles, was im Manöver von den Soldaten verlangt wird, ein Kinderspiel ist im Vergleich zu den fast übermenschlichen Anstrengungen eines modernen Krieges, mußte ich unwillkürlich zurückkehren, als ich die frohe Botschaft las: der Friede zwischen Rußland und Japan ist geschlossen.(1) Seit vielen Monaten haben die beiden Heere Strapazen und Entbehrungen der schrecklichsten Art durchgemacht, seit Monaten haben sie mit dem Heldenmut der Verzweiflung gekämpft, seit Monaten haben sich beide mit dem Gewehr in der Hand gegenübergestanden, und immer neue Patronen in den Tod bringenden Lauf hineingeschoben. Und nun kommt die Nachricht: der Friede wird geschlossen, es herrscht Waffenstillstand! Und über die weiten Felder, auf denen sich Russen und Japaner gegenüberstehen, tönt das Signal „Das Ganze — — Halt!”
Jeder Spielmann nimmt das Signal auf und gibt es weiter, zuerst vereinzelt, dann immer stärker und lauter tönt es über die Ebene: „Das Ganze Halt!” Und klopfenden Herzens hört es ein jeder, und unwillkürlich wird in allen die Frage wach: ist es wahr, kann es wahr sein?
Und gleich darauf geht der Befehl die Reihen entlang: „Entladen!”
Es ist ein Griff wie so viele, und ganz mechanisch wird es ausgeführt, die Kammer wird geöffnet, die Patronen herausgenommen und in die Patronentasche zurückgesteckt.
Dann aber sehen Freund und Feind sich untereinander und gegenseitig mit großen Augen verwundert an: was nun? Ist es wirklich aus? Sie können es noch nicht glauben, daß den Leiden und Anstrengungen jetzt ein Ende gemacht ist, daß sie nun zurückkehren in die Heimat, zu Weib und Kind, zu ihrem Beruf, zu ihrer Tätigkeit und ihrem Erwerb?
„Das Ganze Halt — — Entladen!” Welche Gefühle mögen in der Brust der Russen und Japaner vorgehen, wenn, vielen völlig unerwartet, die schmetternden Hörner plötzlich das Signal blasen?
„Das Ganze Halt — — Entladen!” Nur vier kurze Worte, aber sie erhalten Zehntausenden Familien ihre Ernährer und den Sohn. Sie sind der Wendepunkt in der Geschichte zweier Völker, sie machen einem beispiellosen Morden ein Ende.
Ein kurzes Signal und ein kurzer Befehl — — und der russisch-japanische Krieg gehört der Vergangenheit an. — —
(1) Der Russisch-Japanische Krieg begann am 10.Februar 1904 und wurde beendet durch den Friedensschluß vom 5.September 1905. (Zurück)