Die Empfangszentrale

Militär-Humoresken und Satiren aus der Vorkriegszeit
von Freiherr von Schlicht

in: „Berliner Tageblatt” vom 3.Dez. 1906,
in: „Arme Schlucker”
Grethlein & Co., 1907 und
in: „Die Fürstentreppe”
Verlag Oskar Meister, Werdau, 1927

[Textliche Abweichungen in eckigen Klammern.]


Man könnte heutzutage leicht in Versuchung kommen, das Wort le roi est mort, vive le roi! dahin zu übersetzen: ein Fürst ist abgereist, der nächste naht heran. Der eine geht, der andere kommt, und wie lange wird es noch dauern, dann gehören Fürstenempfänge zu den Berliner Alltäglichkeiten. Der Berliner Oberbürgermeister kommt dann gar nicht mehr vom Brandenburger Tor fort, und da er keine Zeit mehr hat, nach Hause zu gehen, bringt ihm die Frau Oberbürgermeister in einem Henkelkorb das Mittagessen, das er, auf einem Eckstein sitzend, einnimmt. Und frei nach Meuniers „Die Erbauer der Städte” erhebt sich vielleicht noch einmal am Pariser Platz ein Denkmal: „Die Begrüßer der Fürsten”, und darstellen wird es die vor Erschöpfung zusammengebrochene Empfangsdeputation, Herren in Frack und Lack und Claque, am Boden kauernd — Opfer ihres Berufes.

Wie wäre es da mit einer Zentrale für Fürstenempfänge? Die Sache wäre sehr einfach. Man erbaut ein großes, kasernenartiges Gebäude, möglichst in der Nähe des Brandenburger Tores, damit die Bewohner der Empfangszentrale jederzeit schnell zur Stelle sein können, und quartiert in diesem Hause alle ein, die fortan bei einem Empfang mitwirken.

An Stelle des Herrn Oberbürgermeisters, der ja schließlich noch mehr zu tun hat, muß ein offizieller Repräsentant der Stadt gewählt werden, möglichst ein früherer Offizier, eine große, schöne Erscheinung, dem auch der Frack steht. Selbstverständlich muß er imstande sein, sowohl in Prosa wie in Versen glänzend zu sprechen. In seiner Begleitung befinden sich stets zwölf Herren, ebenfalls nach Möglichkeit frühere Offiziere. (Mein Vorschlag eröffnet zugleich die Perspektive für die Anstellung verabschiedeter Offiziere.)

Diese Herren wohnen zusammen mit dem offiziellen [1927 fehlt: offiziellen] Repräsentanten der Stadt in der Zentrale für Fürstenempfänge, sie werden dort gemeinsam verpflegt und haben gemeinsamen Unterricht, der sich auf die Fächer erstreckt: Umgang mit Fürstlichkeiten, Anrede und Antworten, die Kunst, sich tadellos zu verbeugen, vor allen Dingen aber: wie lerne ich es, eine halbe Stunde und länger ohne Paletot und ohne Hut dazustehen, ohne mich zu erkälten? Für dieses Fach muß als Lehrer Herr Müller („Mein System”) gewonnen werden. — Durch das „Müllern” werden die Herren auch so klassisch schöne Gestalten erhalten, daß jeder einziehende Fürst bei dem Anblick der Empfangsdeputation glauben wird, nicht in Berlin, sondern im alten Athen zu sein — was sowohl für Berlin wie auch für Athen nur schmeichelhaft sein kann.

Ebenso müssen in der Zentrale die einundzwanzig Ehrenjungfrauen untergebracht werden, und auch sie müssen in erster Linie lernen, jedem Wind und Wetter zu trotzen. Gewiß ist es ein rührender Zug einer jeden einziehenden Königin und Fürstin, daß sie sagt: „Meine Damen, hoffentlich erkälten Sie sich nicht” — aber Fürstinnen haben so viel rührende Züge, daß man ihnen ruhig einen fortnehmen kann. Oder besser gesagt, daß man ihnen ruhig eine Gelegenheit nehmen kann, ihre selbstverständliche Güte zu beweisen. Wer hat nicht Mitleid mit den weißgekleideten Jungfrauen? Wer knöpft sich seinen Pelz nicht dichter zusammen, und wer bestellt sich nicht heimlich einen Grog, wenn er die kleinen verfrorenen Gesichter sieht? Wie ganz anders, wenn man weiß: die jungen Mädel sind es nicht anders gewohnt. Natürlich dürfen die Ehrenjungfrauen nur bis zu einem gewissen Alter im Dienst bleiben. Dann werden sie entweder pensioniert oder bekommen eine andere Staatsstellung, falls sie es nicht vorziehen sollten, eine private Lehrtätigkeit aufzunehmen, wieder als Erzieherin heranwachsender Ehrenjungfrauen oder als Lehrerin für gute Sitte. Und wie hübsch macht sich die Empfehlung auf der Visitenkarte: Staatlich konzessionierte, subventionierte und beglaubigte Ehrenjungfrau a. D.

Und man bedenke, wieviel Streit zwischen den besten Freundinnen, wieviel Haß, Verleumdung, welche Intrigen blieben zahlreichen jungen Mädchen erspart, wenn die Auswahl der Ehrenjungfrauen nicht von Fall zu Fall erfolgte, sondern wenn diese ebenso wie die für die Ausschmückung der Straßen nötigen Requisiten, Fahnen, Blumen, Wimpeln usw. in der Zentrale auf Lager sind.

Und nicht als letztes muß in der Zentrale die nötige Anzahl von Ehrenkompagnien einquartiert sein. Die Schloß­garde­kompagnie allein kann den Dienst bei Empfängen „Unter den Linden” nicht versehen, da reicht eine Kompagnie nicht. Da braucht man ein ganzes Dutzend, vielleicht noch mehr, aber das ist auch ganz einerlei. Diese Ehrenkompagnien müssen vom Reichstag extra gefordert und werden von diesem auch bewilligt werden, wenn die Volksvertreter dafür die Gewißheit haben, daß der Dienst der anderen Regimenter, die für den Krieg ausgebildet werden sollen, nicht immer durch solche Parade­schaustellungen unterbrochen wird. Diese Ehrenkompagnien hätten natürlich nicht nur in Berlin Dienst, sondern auch außerhalb der Residenz. Wenn irgendwo am Rhein oder in Ostpreußen ein Empfang Seiner Majestät oder einer anderen hohen Fürstlichkeit befohlen wird, so braucht die Garnison sich gar nicht mit dem Einexerzieren der Ehrenkompagnie abzuquälen, sondern diese wird von Berlin aus, ebenso wie die Hofequipage und die Pferde, mit der Bahn vorausgeschickt. Wenn die Fürstlichkeit eintrifft, steht die Ehrenkompagnie schon lange da, wo sie stehen soll, und präsentiert das Gewehr. Und sobald sie ihre Tätigkeit da beendet hat, wird sie nach Berlin zurückgesandt, um für neue Aufträge bereit zu sein.

Wieviel schlaflose Nächte blieben dadurch den direkten Vorgesetzten der Ehrenkompagnien in den verschiedensten Garnisonen erspart, wieviel kostbare Zeit würde der kriegsgemäßen Ausbildung der Truppe nicht geraubt, wie viele Verwünschungen und Drohungen blieben da nicht unausgesprochen.

Und schließlich müssen in der Zentrale noch einige tausend Kinder untergebracht werden, entweder solche, die so dumm sind, daß sie in der Schule doch nichts lernen, oder solche, die so klug sind, daß sie nichts mehr zu lernen brauchen. Auch kann diesen Kindern ja der Unterricht in der Zentrale erteilt werden. Der Befehl „Morgen fällt wegen des Einzuges der X-Fürstlichkeiten die Schule aus!” wird dann nicht mehr nötig sein, man hat die Hurra schreienden Kinder auf Lager. Die Lehrer werden sich nicht mehr ärgern, die Presse keine Bemerkungen mehr fallen lassen, besorgte Eltern werden nicht mehr weinen, wenn ihre Kleinen zwei Stunden und länger draußen herumstehen müssen — allen wäre geholfen.

Natürlich ist der Bau einer solchen Zentrale, die Besoldung und Unterhaltung so vieler Menschen mit großen Unkosten verbunden, aber man vergesse nicht, daß Berlin dadurch um eine große Sehenswürdigkeit reicher wird. Bei einem Entree von nur fünfzig Pfennigen könnte jährlich schon eine große Summe zusammenkommen. Und für die zahllosen Leute aus der Provinz, die meistens dann nach Berlin kommen, wenn nichts los ist, können auf einem besonders dazu hergerichteten Terrain vielleicht täglich zweimal Vorstellungen stattfinden (à la [Berliner Tageblatt: „siehe”] Marine­schauspiele). Kleiner Empfang, großer Empfang, Ansprache des Repräsentanten der Stadt, die echte Begeisterung der Schuljugend. Von weit her würden die Leute kommen, um sich das anzusehen.

Man kann dann den Leuten aus der Provinz noch so manches andere praktisch vorführen, was sie nur vom Hörensagen kennen: Die Absperrung der Straßen, die Stockung des Verkehrs, das Ansammeln der elektrischen Straßenbahnen, das Fluchen der Reisenden, die durch diese Absperrungen nicht von einem Bahnhof zum andern kommen und den Anschluß verpassen — dies und so manches andere könnte dort gezeigt werden. Außerdem müssen dort die bereits bei Ausschmückungen verwandten Blumen zu sehen sein, die Entwürfe für spätere Ausschmückungen, in Prachteinbänden die bisher schon gehaltenen Begrüßungsreden und Verse der Ehrenjungfrauen.

Und damit wird zu guter Letzt die Zentrale für Fürstenempfänge eine neue Stätte zur Pflege und Erhaltung eines wahren, echten Patriotismus.


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© Karlheinz Everts