Ein gemeinsamer Beschluß.

Militärische Humoreske von Freiherr von Schlicht.
in: „Aus der Schule geplaudert”


Vor vielen Dingen auf der Welt habe ich einen heillosen Respekt, so zum Beispiel vor der amerikanischen Tretmaschine eines Zahnarztes und vor dem gähnenden Rachen eines Löwen, der drei Tage vor Erschaffung der Welt zum letztenmal einen warmen Löffel in seinen Magen bekommen hat — den heillosesten aller Respekte habe ich aber vor Familienbeschlüssen. Jeder, der einmal einen Familientag mitgemacht hat, wird mir aus tiefinnerster Seele beistimmen. Es wird ein Antrag gestellt: Alles widerspricht, der eine aus Überzeugung, der andere aus Prinzip. Es gibt ja Leute, die immer „nein” sagen; ich kenne einen Herrn, der erzählte mir einmal, er habe nur einmal in seinem Leben „ja” gesagt, und das sei bei seiner Trauung gewesen. Gleich darauf hätte ihm dies erste „Ja” leid getan, er hätte widerrufen wollen, da sei es aber schon zu spät gewesen.

Solche Widerspruchsgeister finden sich auch auf jedem Familientag.

Endlich sieht der Senior ein, daß sein Antrag durchfallen wird, einer offiziellen Niederlage will er sich nicht aussetzen, so kommandiert er: zu Tisch. Bei der Sektflasche beruhigen sich die erhitzten Gemüter, und schließlich sind alle Beteiligten so gerührt, daß sie zu allem Ja und Amen sagen.

Der Antrag ist durchgegangen.

Auf wie lange? Für immer? Ach nein.

Am nächsten Morgen soll das Protokoll unterschrieben werden, aber da sträuben sich die Federn. Onkel Karl hat sich die Sache inzwischen beschlafen und ist anderer Ansicht geworden, Onkel Fritz schimpft wie ein Berserker, daß man ihn zu überrumpeln versucht hatte, Onkel Eduard hat einen Jammer, daß er nicht aus den Augen sehen kann, trotzdem ist er glücklich, daß sein Vetter Alphonse ihm heute morgen über den eigentlichen Zweck des Antrages die Augen geöffnet hat.

Und mit erdrückender Majorität wird bei der Abstimmung der Antrag nicht angenommen.

Und wie es bei dem Familientag ist, so ist es bei jeder Kaffeegesellschaft, überhaupt überall da, wo Menschen zusammenkommen, um einen gemeinsamen Beschluß zu fassen.

Nur eine Familie kenne ich, bei der es anders ist — das ist ein Offizierkorps.

Der Feldwebel ist die Mutter der Kompagnie, der Oberst ist der Vater seiner Offiziere.

Wenn die Kindlein sich irgendwo etwas haben zuschulden kommen lassen — sei es in dienstlicher oder außerdienstlicher Beziehung — so notiert der Vater sich die Vergehen seiner Säuglinge in ein mehr oder weniger großes Notizbuch, und wenn da genügend Material vorhanden ist, heißt es eines Tages im Parolebuch: „Morgen mittag um zwölf Uhr wünsche ich die Herren Offiziere im beliebigen Anzug im Kasino zu sprechen.”

Jeder bekommt beim Lesen dieser wenigen Worte einen gewaltigen Schreck, und aus der schönen Schulzeit fällt ihm das Dichterwort wieder ein: „Wohl dem, der frei von Schuld und Fehle, bewahrt sich eine Leutnantsseele.”

Am nächsten Mittag, lange schon vor der befohlenen Zeit, sind die Offiziere zur Stelle.

„Was ist denn los? Was hat der Alte? Hat einer was ausgefressen?”

So fragt jeder, niemand vermag Auskunft zu geben, endlich erscheint der Kommandeur mit seinem Adjutanten.

„Meine Herren, ich habe Sie hierher gebeten, um einige Kleinigkeiten mit Ihnen zu besprechen.”

Kleinigkeiten imponieren einem gewöhnlichen Sterblichen selten, einem Offizier nie, und so hört denn nur alles mit halben Ohren zu. Die Hauptsache ist, daß man nicht „gerissen” wird — alles übrige ist ganz gleichgültig.

Der Oberst klappt sein Taschenbuch zusammen, und alles triumphiert: Gott sei Dank, nun ist's vorbei.

Aber noch einmal erhebt der Kommandeur seine Stimme:

„Meine Herren, ich bitte noch einen Augenblick um Gehör. Es liegt noch eine Angelegenheit vor, die nach meiner allerdings ja ganz subjektiven Meinung — ich betone dies ausdrücklich — einer Änderung bedarf. Ich möchte, daß wir die Sache ganz kameradschaftlich miteinander besprächen und dann einen gemeinsamen Beschluß faßten.”

Erwartungsvolle Stille — alles spitzt die Ohren.

„Meine Herren, es handelt sich um die Essenszeit.”

Wieder eine lange Pause — während der sich die Zuhörer gegenseitig in die Rippen stoßen, um sich dadurch auf das Kommende aufmerksam zu machen.

„Meine Herren,” beginnt der Herr Oberst von neuem, „es ist bis jetzt des Abends um sechs Uhr gegessen worden, das geht jetzt nicht mehr.”

Allgemeines Erstaunen, und auf allen Gesichtern steht die stumme Frage geschrieben: „Nanu, warum denn nicht?”

„Meine Herren, es geht nicht mehr,” wiederholt der Herr Oberst, „und ich will Ihnen auch sagen, warum nicht! Ich sehe in dem Essen um sechs Uhr eine große moralische und sittliche Gefahr für die jungen Leutnants.”

„Der Alte ist verrückt,” denkt ein jeder, sagen aber tut kein Mensch etwas.

„Meine Herren, Sie werden mir beistimmen. Nach sechs Uhr ist kein Dienst mehr, Sie bleiben dann hier zusammen im Kasino sitzen, Sie trinken mehr, als Ihrem Geldbeutel und Ihrer Gesudheit zuträglich ist, Sie sind am nächsten Tage nicht frisch im Dienst — meine Herren, es geht nicht mehr.”

„Aber es ist doch den ganzen Winter —”

Ein Leutnant flüstert es dem anderen zu, aber erschrocken hält er inne, als er sieht, daß der Herr Oberst die Worte verstanden zu haben scheint.

„Wie meinten Sie, Herr Leutnant?”

„Ich? Nichts, Herr Oberst.”

„Aber meine Herren, Sie scheinen mich völlig mißzuverstehen; ich will Ihnen meine Meinung doch nicht aufzwingen, sondern wir wollen die Sache doch ganz freundschaftlich und kamerad­schaftlich miteinander besprechen. Also wie meinen Sie, Herr Leutnant?”

„Ich erlaubte mir nur zu meinen, Herr Oberst, daß es doch den ganzen Winter über gegangen wäre.”

„Da haben Sie ganz recht, mein Lieber, aber es ging nur, weil es nicht anders ging, jetzt aber geht es anders, und darum geht es nun nicht mehr. Das ist doch klar, Herr Leutnant?”

„Zu Befehl, Herr Oberst!”

„Na ja, also, sehen Sie, so werden wir uns am schnellsten einigen. Im Winter waren die Rekruten von zwei bis vier Uhr, da mußte nach Beendigung des Dienstes gegessen werden, abends war Theater, Geselligkeit, und damit schwand die Gefahr des Festkneipens. Dennoch muß ich es sagen: ich habe mir die Kasino­rechnungen der letzten Monate vorlegen lassen, sie waren zum Teil doch sehr hoch; ein Herr hat einmal innerhalb von vier Wochen hundertundzwanzig Mark für Sekt gebraucht. Der Name des modernen Falstaff tut ja nicht zur Sache.”

Dieser Witz des Kommandeurs wird „chargenmäßig” belacht, und alle blicken auf den braven Zecher.

„Meine Herren, solche Ausschreitungen müssen vermieden werden, und darum sage ich nochmals: was früher ging, geht jetzt im Sommer nicht mehr. Verstehen Sie mich nicht falsch: Sie, meine unverheirateten Herren Offiziere, sind die Hauptpersonen. Ich will mich nicht in Ihre privaten Angelegenheiten mischen, wenngleich ich die Pflicht habe, sie zu überwachen — Sie alleine haben zu bestimmen, wann Sie essen wollen — ich stehe Ihnen nur mit dem Rat als ältester hier anwesender Kamerad zur Seite.”

Der Kommandeur schweigt: damit seine schönen Worte recht, recht tief in die Herzen der aufmerksamen Untergebenen eindringen können, dann sagt er:

„Und nun, meine Herren, bitte ich Sie, sich über die Essensstunde schlüssig zu werden — ich schlage Ihnen mittags um ein Uhr vor. Bitte, beraten Sie sich, und wenn Sie schlüssig sind, lassen Sie es mich wissen, ich gehe so lange, um Sie in Ihren Entschleßungen nicht im mindesten zu beeinträchtigen, ins Lesezimmer.”

Kaum ist er draußen, so erhebt sich ein Schrei des Unwillens.

„Was, um ein Uhr soll gegessen werden? In der größten Mittagshitze? Nein, nein, abermals nein!”

„Aber um sechs Uhr geht es doch nicht mehr,” raten die Verständigen.

„Na, dann um fünf Uhr, aber nicht eine Stunde eher.”

Der Herr Oberst wird benachrichtigt, daß sein Offizierkorps sich schlüssig sei, und er erscheint gleich darauf huldvollst lächelnd, aber sein Lächeln verschwindet, als er das Ergebnis der Abstimmung erfährt.

„Meine Herren — hm — hm — ich kann nicht anders sagen — Ihre Ansicht überrascht mich ein wenig. Darf ich fragen, warum Ihnen die von mir vorgeschlagene Essenszeit nicht konveniert?”

„Weil es mittags um ein Uhr so heiß ist, daß man dann nicht essen kann.”

„Wer ist ,man', meine Herren — ich esse mit meiner Familie auch um ein Uhr mit Rücksicht auf meine Kinder, die zur Schule müssen.”

„Aber wir haben doch keine Kinder,” denken die Leutnants i stillen.

„Der Grund ist nicht stichhaltig, meine Herren,” fährt der Oberst fort, „wenn Sie weiter nichts einzuwenden haben —”

Allgemeines Gesumme und Gesurre.

„Will nicht einer der Herren mir den Entschluß der übrigen Herren eingehend begründen?”

Von seinen Kameraden vorgeschoben, tritt endlich ein Leutnant vor und sagt: „Herr Oberst, es ist jetzt die Zeit des Bataillons­exerzierens und der Felddienst­übungen. Wir rücken sehr früh aus und kommen meinstens sehr spät, selten vor einhalb zwölf Uhr, nach Haus. Dann ist man hungrig, durstig, schmutzig und müde. Wir müssen nach Haus gehen und Toilette machen; essen und trinken wir etwas, so verderben wir uns den Appetit zu Tisch; zu uns nehmen müssen wir aber nach einer großen, anstrengenden Übung etwas — auch den Körper müssen wir etwas ausruhen, wenn er zum Nachmittagsdienst wieder frisch sein soll — und darum möchten wir den Herrn Oberst ganz gehorsamst bitten, es beim alten verbleiben zu lassen.”

Der Kommandeur räuspert sich ein paarmal, er weiß nicht recht, was er sagen soll, dann spricht er: „Was Sie da sagten, mein Lieber, klingt ja ganz verständig — aber du lieber Gott, so anstrengend sind doch die Übungen nicht.”

„Wenn man zu Pferde ist — nein,” denken die Leutnants.

„Stecken Sie sich doch ein Butterbrot in die Tasche, das habe ich als junger Offizier immer getan.”

Vorgesetzte haben, wenn man ihnen glauben darf, stets das getan, was ihre Untergebenen tun sollen.

„Na, meine Herren — und zum Schlafen ist doch schließlich die Nacht völlig ausreichend. Wollen Sie aber absolut am Tage etwas ausruhen, so legen Sie sich nach Tisch einen Augenblick hin. Das geht sehr gut.”

„Wenn man keinen Dienst hat, allerdings,” denken die Leutnants.

„Meine Herren, je mehr ich über Ihren Einwand nachdenke, desto weniger kann ich Ihnen recht geben. Dennoch aber will ich nicht starr an meinem Vorschlag festhalten, sondern ich füge mich gern und willig Ihren Wünschen.

„Ich denke, Sie essen von morgen an nicht um ein Uhr, wenn Ihnen diese Zeit denn absolut nicht paßt, sondern um einhalb zwölf Uhr. Ich werde befehlen, daß die Truppen von jeder Übung um elfeinviertel Uhr zurück sein müssen — Sie haben dann Zeit, sich hier im Kasino zu waschen und zu säubern, Sie sparen das Frühstück — können nach Tisch schlafen, solange Sie wollen — kurz, alle Ihre Wünsch werden befriedigt. Es ist Ihnen doch recht so, meine Herren?”

Die Herren sind einfach starr — ist denn der Oberst nicht auch einmal jung gewesen, weiß er denn wirklich nicht mehr, wie man von einer Übung heimkehrt? Häufig so „abattu”, daß man sich nur mit Mühe aufrechthält, und da soll man sich zu Tisch setzen?

„Nun, meine Herren, da niemand widerspricht, sind wir uns also einig — dann wird also von morgen ab um einhalb zwölf Uhr gegessen. Nicht wahr, meine Herren der Tischdirektion, Sie veranlassen das Weitere?”

„Zu Befehl, Herr Oberst.”

„Dann danke ich Ihnen, meine Herren — mich freut's, daß wir uns so schnell geeinigt haben — dieser gemeinsam gefaßte Beschluß, dieses Eingehen auf die gegenseitigen Wünsche ist der beste Beweis für den trefflichen, im Offizierkorps herrschenden Geist. Ich danke Ihnen sehr, meine Herren.”


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