Von Freiherr von Schlicht
in: „Westungarischer Grenzbote” vom 2. und 3.6.1896,
in: „Rostocker Anzeiger” vom 7.6.1896,
in: „Meraner Zeitung” vom 14.6.1896 und
in: „Türke und Stachelschwein”
(Dieser Text ist nicht identisch mit dem gleichnamigen Text aus „Ein Adjutantenritt”,
der die Einberufung der Landwehrleute zum Thema hat.)
Nun ist sie da, die schöne Zeit, in der der „Reservefritze”, alias Sommerlieutenant genannt, zu wirken beginnt. Alle seine Versuche, sich in diesem Jahr von der Uebung zu drücken, sind vergebens gewesen, es hat ihm nichts genützt, daß er vorgab, in seinem Beruf augenblicklich „unabkömmlich” zu sein, daß er alle möglichen Ausflüchte angab, sie haben ihn „bei die Hammelbeine” gekriegt, und nun muß er seine Beine acht Wochen dem Soldatendienst widmen. Schön ist es für manchen ja gerade nicht: mancher wäre lieber nach Italien gereist oder wäre als Bergfex in der Schweiz herumgeklettert, mancher hatte im stillen beschlossen, die großen Schulferien seiner Kinder auf einem schöneren Fleck Erde zu verleben, als es der Exerzierplatz war, ist und bleiben wird. Aber was hilft's? Gegen das Wort „Einberufen” giebt es kein Mittel, höchstens den Tod. Als weiser Mann aber daran gwöhnt, von zwei Uebeln stets das kleinere zu wählen, zieht er einen Stiefel-Appell dem „letzten” Appell vor und fügt sich mit Anstand und Grazie in das Unvermeidliche.
Dann trifft er seine Vorbereitungen, damit der große Tag, wenn er hereinbricht, ihn gerüstet findet. Zunächst wird die Uniform, die ein ganzes Jahr oder noch länger in der hintersten Ecke des unergründlichen Kleiderschrankes gehangen hat, hervorgeholt und einer eingehenden Prüfung unterzogen. Das Beinkleid ist noch so gut wie neu, und außerdem trägt man ja jetzt nur noch hohe Stiefel — aber der Rock: der ist eng, barbarisch eng in der Taille, und der Kragen schnürt an der Kehle wie die Schnur des Henkers — aber solch ein Rock ist teuer, teurer als ein ganzer Zivilanzug, und eine Einberufung kostet so wie so ein schweres Stück Geld.
„Was meinst du, Mutter, ob der Rock nicht doch noch geht?”
„Ach, August, ich verstehe mich darauf ja nicht — aber es sind ja vier Wochen hin, und wenn du diese Zeit noch ordentlich benutzt, um dir Bewegung zu machen, kommst du vielleicht noch damit aus. Schön wäre es ja, wenn es so ginge.”
Der Hausherr ist derselben Ansicht, wenngleich die geheimen Gedanken, weshalb gespart werden soll, verschieden sind: die Hausfrau erhofft aus den Equipierungsgeldern, die der Mann bei jeder Einberufung erhält, einen Zuschuß für die Wirtschaftskasse, während der Mann — wie Männer nun einmal sind — im Geiste einige Sektflaschen und Hummerscheeren vor sich sieht.
Es beginnt nun die Zeit der Trainierung. Die Märsche der Infanterie werden immer länger und anstrengender, „das Ende davon ist schon lange weg”, und wenn das so weiter geht, geht auch der Anfang verloren, d. h. es schließt sich dann ein Marsch gleich an den anderen. Uebung macht den Meister, mit der Zeit gewöhnt man sich an alle Strapazen, und es fehlt einem etwas, wenn man tagsüber nicht seine fünfzig Kilometer „im Magen hat”. Letzteres ist wörtlich zu nehmen, denn man schluckt so viel Staub, daß man stets zehn Pfund schwerer ist, wenn man heimkehrt, als wenn man in aller Herrgottsfrühe sein Haus verläßt.
Aus diesen und tausend anderen Gründen — auch die Stiefel müssen „eingegangen” werden — beginnen die täglichen Spaziergänge. Sonst kannte man nur einen Weg: den von der Wohnung bis zum Stammlokal. Das Endziel des Spazierganges bleibt auch jetzt noch bestehen, man nähert sich ihm nun aber nur auf großen Umwegen, wie wenn einer von Hamburg nach Berlin wollte, und er führe erst einmal nach den Bismarck-Inseln, um zu sehen, was die Uhr wäre.
Jede Tugend wird aber belohnt, und so sieht der fleißige Spaziergänger seine Körperfülle von Tag zu Tag mehr schwinden; alle acht Tage probiert er seinen Waffenrock an, der Himmel hat ein Einsehen, er paßt wie angegossen.
Und eines schönen Morgens, als die Sonne aufgegangen ist, bindet er sich die Schärpe um den Bauch, setzt statt des Cylinders den Helm auf den Kopf und geht der Kaserne entgegen. Er ist ganz gewiß nicht bange, er fürchtet sich weder vor Hölle noch vor Teufel — aber dennoch — seine Schritte werden um so kleiner, je mehr er sich den roten Backsteinen — alias Kaserne genannt, nähert, und sein Herz schlägt doch etwas unruhiger, als es sonst der Fall zu sein pflegt. Noch einmal holt er tief Atem, dann schreitet er durch das Portal: der Posten vor Gewehr präsentiert, gnädig winkt er ab, und eine Minute später meldet er sich auf dem Regimentsbureau, zu einer achtwöchentlichen Uebung einberufen. Der Kommandeur begrüßt ihn freundlich, erkundigt sich nach diesem und jenem und entläßt ihn mit freundlichem Händedruck. Nun ist er wieder allein — aber er weiß, wo er gleichgesinnte Seelen findet, „und ins Kasino lenkt er seine Schritte”. Er kommt gerade zur rechten Zeit.
„Ich gebe die erste Flasche.”
„Ich die achte.”
„Ich die zwölfte.”
So geht es hin und her. Das Dutzend ist voll, nur eine fehlt.
„Wer giebt die zweite?”
„Ich,” ruft der Eintretende, und er wird mit lautem Bravo begrüßt.
Zwölf Flaschen Sekt sind ein ganzes Quantum, und so wird es denn ziemlich spät, ehe man seine Schritte den häuslichen Penaten wieder zuwendet. Dienst ist heute ja noch nicht, und man tröstet sich mit dem Gedanken, daß morgen hoffentlich auch noch nicht viel los sein wird.
Aber der königlichen Dienst kennt keine Rücksichtnahme auf „Affe”, „Kater” und ähnliche Tiere.
So findet der liebe Lieutenant der Reserve denn abends auf seinem Tisch einen kleinen Zettel liegen. „Morgen früh um fünf Uhr Abmarsch zu einer Felddienstübung, dazu der Herr Lieutenant.”
„Donnerwetter, um fünf Uhr!” denkt er, „da muß ich ja schon um viere aufstehen und jetzt ist es schon —” er zieht die Uhr, aber sein Blick irrt über die Zeiger, ganz klar ist es ihm nicht mehr, wie man eine Uhr halten muß, um die Zeiger zu erkennen — so läßt er es denn bleiben. Er sucht nach dem Stiefelknecht: „Ach was,” denkt er endlich, „wozu soll ich mir die Dinger ausziehen, ich muß sie ja doch gleich wieder anziehen,” und angekleidet wie er ist, wirft er sich auf sein Bett. Er schläft ein mit dem Gedanken, daß es doch eigentlich ganz famos sei, so dann und wann mal einberufen zu werden.
Aber als der Bursche ihn einige Stunden später weckt, hat er über seine Einberufung eine völlig veränderte Ansicht. Ihm ist zum Sterben schlecht: er möchte so gerne noch etwas schlafen, nur noch eine Minute, nur noch eine Sekunde — aber der Bursche duldet es nicht; er bringt seinen Lieutenant in den vorschriftsmäßigen Anzug und setzt ihm das Frühstück hin. Aber der Lieutenant wendet sich mit Grausen: es ist ihm geradezu unbegreiflich, wie jemand morgens etwas genießen kann.
Eine halbe Stunde später marschiert er an der Spitze der Kompagnie zum Thor hinaus. „Wenn ich heute nicht tot umfalle, sterbe ich überhaupt nicht,” sagt er sich tausendmal — aber Mars und Minerva beschützen ihn, wenngleich er auch bei der Felddienstübung nach Aussage seines Kapitäns einfach „tot” ist. Selbstverständlich kann ihm niemand daraus einen Vorwurf machen — wenn ein aktiver Lieutenant plötzlich acht Wochen die Stelle eines einberufenen Postdirektors oder Lehrers ausfüllen sollte, würde er auch einen höllischen Blödsin machen — aber der arme Lieutenant ist dennoch geknickt und gebrochen. Er hat so fleißig im Exerzierreglement und in der Felddienstordnung gelesen, daß er vor allen Reinfällen sicher zu sein glaubte. Aber mehr als irgendwo anders ist beim Militär die Theorie grauer als grau.
Lebenslust und frischen Mut bekommt der gute Lieutenant erst wieder, wenn er sich auf dem Rückwege befindet, und zwar wächst sie zum mindesten mit dem doppelten Quadrat der Schnelligkeit seiner Füße. Vor seinen Augen taucht das Kasino auf, er sieht alle nur möglichen Biere schäumend vor sich stehen, und unwillkürlich sprechen seine Lippen: „O Königin, das Leben ist doch schön!”
Aber seine Ungeduld wird auf eine harte Probe gestellt: auf dem Kasernenhof angekommen, erhält er den ehrenvollen Auftrag, diejenigen Leute, die am Vormittag „gebummelt” haben, nachexerzieren zu lassen. Es ist dies eine ebenso ermüdende wie stumpfsinnige Beschäftigung — aber ihm soll ja nun einmal Gelegenheit geboten werden, den Dienst kennen zu lernen, und so hat er natürlich mehr Dienst, als seine aktiven Kameraden. Endlich schlägt aber auch für ihn die Befreiungsstunde: mit großen Schritten eilt er ins Kasino, stärkt seine Glieder, und wandert dann nach Haus, um auszuruhen von des Tages Mühen und Lasten. Er glaubt, für heute das Seinige gethan zu haben, aber der Tag besteht leider aus zwei Hälften, und die größten Gelehrten sind sich nicht darüber einig, welche die längere ist. Am Nachmittag findet der „Reservefritze” (übrigens ein Wort, das häßlich klingt, das aber dennoch überall den besten Klang hat) in den Nachmittagsstunden reichlich Gelegenheit, sein Wissen zu vermehren. Was muß er nicht alles thun. Dem Hauptmann fällt plötzlich ein, daß er seine Kammer seit einer Ewigkeit nicht hat zählen lassen. Gott sei Dank ist ja ein Reserveoffizier einberufen — keine Persönlichkeit wäre geeigneter, einen solchen verantwortlichen Dienst zu verrichten; oder es ist eine Verhandlung aufzunehmen über einen Mann, der sich bei einer Uebung einen Schaden zugezogen haben will: der Kerl ist gesund wie nur einer, lügt aber wie gedruckt. Der Hauptmann dankt dem Himmel auf den Knieen, daß gerade ein Untersuchungsrichter einberufen ist — der wird dem Kerl den Standpunkt mal ordentlich klar machen.
Abends um sechs Uhr ist Feierabend. Dann geht es wieder ins Kasino zum Mittagessen und im Anschluß daran zu dem unvermeidlichen Skat. Man hat sich vorgenommen, früh zu Bett zu gehen, denn die Knochen thun barbarisch weh, aber ein Skat ist, außer einem Kreis, bekanntlich das einzige Ding auf Erden, das kein Ende hat. Endlich unterbricht man das Spiel für einige Stunden, um etwas zu schlafen.
Die teure Gattin erwartet ihn voller Ungeduld: „Aber Otto, kommst du wirklich noch mal nach Haus?”
Er zuckt nur mit den Schultern: „Dienst, liebes Kind, Dienst.”
„Dienst, um diese Stunde?” fragt sie.
„Ich hatte Ronde,” lügt er, „ich mußte die Wachen revidieren.”
Sie schlingt die Arme um seinen Hals: „Du Armer, wie ich dich beklage! Hoffentlich bist du aber morgen früh frei?”
„Frei?” fragt er erstaunt, „deswegen werde ich nicht einberufen, um dienstfreie Tage zu verleben, nein, morgen ist Bataillonsexerzieren.”
Er spricht's mit heimlichem Grausen, er verlebt eine unruhige Nacht, und bei dem Aufstehen ist ihm gar sonderbar zu Mute: er hat einen heillosen Respekt vor dem Herrn Major.
Bei dem Marsch durch die Stadt und hinterher auf der Chaussee geht noch alles gut, sogar viel besser, als er gedacht. Er unterhält sich mit dem neben ihm reitenden Stabsoffizier, und bemerkt mit stolzer Genugthuung, daß sowohl ältere wie jüngere aktive Kameraden dieser Ehre nicht gewürdigt werden.
Aber wie selten sind liebensüwrdige Menschen zugleich auch liebenswürdige Vorgesetzte.
Sobald der rechte Vorderhuf des „majorlichen” Pferdes den Exerzierplatz betreten hat, hört sein Reiter auf, Mensch zu sein, und er, der noch soeben mit dem neben ihm Gehenden in den wichtigsten Dingen derselben Ansicht war, schüttelt nun über seinen vorherigen Begleiter nur noch den Kopf.
Ist es schließlich nicht ganz egal, ob der mittlere Zug rechts oder links aufmarschiert, wenn er nur überhaupt aufmarschiert? Wie kann man sich nur über solche Kleinigkeiten erregen? Und der Herr Major regt sich gewaltig auf; er ruft etwas von „Unglaublich!” „Herr, stecken Sie die Nase ins Reglement!” „Herr, nehmen Sie Ihre Gedanken zusammen!” und was dergleichen liebenswürdige Ratschläge mehr sind.
Der arme Lieutenant wird immer unruhiger, und infolgedessen immer unsicherer; er läuft bald nach rechts, bald nach links. „Einmal muß es doch richtig werden,” denkt er im stillen, bis ihn der Zuruf des Herrn Majors belehrt, daß er sich einmal wieder auf der „Schokoladenseite”, d. h. auf der falschen côté befindet. So irrt er ruhelos hin und her, bis das Kommando „Rührt euch!” ihm einen Augenblick Ruhe verschafft.
Aber nicht lange soll er sich der Ruhe freuen.
„Die Herren Offiziere!” tönt es plötzlich an sein schreckensbleiches Ohr.
Er weiß, was ihm bevorsteht, er gäbe etwas darum, wenn er bleiben könnte, wo er war. Aber er muß mit den anderen vor das Antlitz des Gestrengen treten, und dieses Antlitz hat leider einen Mund und dieser Mund giebt Böses kund. Wenn das alles wahr wäre, was der Herr Major sagte, und wenn die Erregung seine Phantasie nicht ganz bedeuten durchgehen ließe, dann hätte der arme Lieutenant, der zu einer Uebung einberufen ist, absolut gar keine Existenzberechtigung, und doch ist er in seinem Privatleben vielleicht Oberlehrer an einem Gymnasium oder ein Großkaufmann, der viele hundert Angestellte hat.
Aber solange der Reserve-Offizier den bunten Rock anhat, kommt es nur darauf an, was er als solcher leistet, und nach einem bekanten Ausspruch ist es viel leichter, den Nordpol zu entdecken, als einen Zug Infanterie richtig über einen Graben zu führen.
Während der Rede des gestrengen Vorgesetzten wird der Getadelte immer kleiner und kleiner; er sinkt in ein Nichts zusammen, und dies giebt dem Herrn Major Veranlassung zu neuen Bemerkungen über ein neues Thema, das da lautet: „Persönliche Haltung vor der Front”. „Ja, meine Herren, Sie ahnen nicht, wie wichtig eine gute Haltung ist.”
Sie ahnen es wohl — aber kein Mensch kann sich doch auf Befehl ändern. Ein im soliden Lebenswandel entstandener „Bierbauch” verschwindet trotz aller Bataillonsbefehle nicht, und wer seine Knie nun einmal nicht nach hinten, sondern nur „nach der Heimat” durchdrücken kann, der lernt es nicht — mögen die hohen Vorgesetzten sich darüber auch noch so sehr erbosen.
Das Exerzieren aber währet nicht ewiglich — und wenn der rechte Vorderhuf des „majorlichen” Pferdes den Exerzierplatz wieder verlassen hat, hört der Major wieder auf, nur noch Vorgesetzter zu sein. Dann ist er wieder Mensch, und mit ihm als solcher wieder neugeboren wird der Reserve-Offizier, noch dazu als einer, der einen gewaltigen Durst hat.
Wenn ich soviel von dem Dienst der einberufenen Offiziere spreche, so geschieht es, weil diese Eigenschaft ein in der ganzen Armee bekanntes Charakteristikum ist. Es ist dies absolut kein Tadel — wie überhaupt unser Reserve-Offizierkorps über jeden Tadel erhaben ist. Aber man muß es einmal gesehen haben, mit welcher Wollust ein etwas korpulenter, zur Uebung einberufener Offizier nach einer anstrengenden Felddienstübung im heißen Sommermonat seine drei bis vier Weißen nebst den dazu gehörigen Flaschen Sekt trinkt. Man muß es hören, mit welchem Behagen er, das große Glas an die Lippen führend spricht: „So, Kinder, nun bin ich wieder gerne Soldat.”
Mit diesen Worten machte er sich selber schlechter, als er ist: denn er ist immer gerne Soldat; er liebt, ebenso wie sein aktiver Kamerad, den königlichen Dienst, und ebenso wie dieser am meisten den „Garnisonklappdienst”, d. h. das Ruhen und Schlafen in einem schönen Bett — ein Dienst, der geradezu köstlich wäre, wenn er ewig dauerte. Um diesen Dienst zu üben, wird er ja aber nicht einberufen — und so macht es der Dienst, daß er den Dienst am wenigsten übt, zu dem er wie jeder andere Mensch seiner ganzen Veranlagung nach am meisten berufen ist.
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© Karlheinz Everts