Ein Freund.

Erzählung von Freiherrn von Schlicht.
in: „Um Ehre.”.


Im Offizierkasino des Ulanen-Regiments Kaiser Paul war großes Liebesmahl, galt es doch einen neuen Kameraden anzufeiern, und nach altem Brauch hatten sich alle Offiziere des Regiments, auch die verheirateten, im Kasino eingefunden. Soeben hatte der Oberst den neuen Offizier in seinem Regiment herzlich willkommen geheißen und der Hoffnung Ausdruck gegeben, daß er hier wahre, echte, uneigennützige Kameradschaft finden und sich hier wohl und glücklich fühlen möge; Graf Atzel drückte dem Kommandeur dankend die Hand, nachdem das Hoch verklungen war, hell klangen die Gläser aneinander, mit Ausnahme des Grafen Atzel leerten alle ihre Sektkelche, dann sprach der neue Kamerad den üblichen Toast: Das erste Glas Sekt in diesem Sinne weihe ich dem Regiment, dem von nun an anzugehören ich die Ehre habe. Das Ulanen-Regiment Kaiser Paul Hurra, Hurra, Hurra.

Wieder klangen die Gläser hell aneinander und die Regimentsmusik intonierte den Parademarsch des Regiments — das ist die offizielle Musik und Melodie, die nach einem Toast auf das Regiment oder auf die Kameradschaft angestimmt wird und die stets die Gemüter der Hörer elektrisiert.

Auch jetzt summten schon einige Herren die Melodien vor sich hin und nur die Anwesenheit des Herrn Oberst hielt die Fröhlichen noch im Zaum. Man hat schon brav gezecht, das Stimmengewirr, die laute Musk, das helle und gelle Schmettern der Fanfaren, die warme Temperatur des Saales trugen auch das ihrige dazu bei, die Köpfe zu erhitzen, fast jedem sah man den reichlichen Genuß des Weines schon an.

Nur Graf Atzel schien die Wirkung der Getränke nicht zu verspüren, obgleich ihm fast ständig zugetrunken wurde und er jedem ebenfalls zutrinken mußte. Aber seine ernsten, ruhigen Züge veränderten sich nicht und prüfend und forschend ließ er seine Blicke zuweilen umherschweifen, als musterte er seine neuen Kameraden.

„Der hat ja einen infamen finsteren Blick an sich,” sagte am anderen Ende der Tafel ein junger Offizier mit halblauter Stimme zu seinem Nachbar, „mit dem möchte ich im Bösen nichts zu thun haben, der sieht ja aus, als ob er gar nicht lachen kann.”

„Na, sehr vergnügt wird ihm auch wohl jetzt nicht zu Mute sein,” meinte ein anderer, „der Umstand, daß er Offizier geblieben ist, beweist ja, daß ihn wegen des Duells absolut keine Schuld trifft, aber scheußlich ist und bleibt es doch immer, einen Kameraden totzuschießen, na, und das Jahr Festung wird seine Laune auch nicht gerade rosiger gemacht haben. Wissen aber möchte ich doch, was eigentlich die Veranlassung des Duells war.”

„Fragen Sie ihn doch, er wird es Ihnen gewiß gerne mit allen Details erzählen,” meinte ,der Lord'.

Baron Wittenstein, ein junger Premier, verdankte seinen Beinamen „der Lord” sowohl seiner Leidenschaft, sich stets äußerst chick zu kleiden und sehr viel Wert auf sein Aeußeres zu legen, als auch der Ruhe und Vornehmheit seines Benehmens wie seinen noblen Passionen. Das Beste war für ihn gerade gut genug: er hatte die schönsten Pferde, die schönste Wohnung, er kaufte sich alles, was seinen Beifall fand, ohne nach dem Preis zu fragen und ohne zu handeln. Wie er sich finanziell stand, wußte kein Mensch, da er nie über seine Angelegenheiten sprach.

„Schicken Sie doch eine Ordonnanz hin und lassen Sie ihn fragen,” wiederholte der Lord, aber der andere wehrte ab:

„Nein, ich denke, das überlasse ich lieber Ihnen.”

Die Dazwischenkunft der Ordonnanzen, die die Teller abnahmen und die Lichter auf den Tisch stellten, machten [sic! D.Hrsgb.] dem Gespräch über Atzel ein Ende, man begnügte sich damit, ihn zu beobachten und sich seine Gedanken über ihn zu machen. Graf Atzel wr von großer schlanker Gestalt, sein Gesicht, das von einem schwarzen, spitz zugeschnittenen Vollbart umschlossen war, zeigte einen fast finsteren Ausdruck und ließ ihn älter erscheinen, als er es mit seinen dreißig Jahren war. Auch die dunklen Augen blickten stets ernst und forschend, gleichsam als wollten sie jedem in das Innere schauen. Er machte durchaus den Eindruck eines ernsten, fast zu ernsten Menschen.

„Ne, Kinder, so viel wüßte ich,” sagte da ein Kamerad, der beständig mit seinen Finanzen in Unordnung war, „wenn ich so viel Millionen hätte, wie der Atzel, machte ich ein anderes Gesicht. Der Mann muß ja nach dem Troß zu urteilen, mit dem er hier seinen Einzug gehalten hat, über wahnsinnige Mittel verfügen.”

Atzel selbst merkte die neugierigen Blicke, mit denen man ihn musterte, und er wußte, daß er der Gegenstand der allgemeinen Unterhaltung war. So war er froh, als der Oberst, neben dem er seinen Platz hatte, die Tafel aufhob und die Unterhaltung eine allgemeine wurde. Zwar blieb man in dem großen Speisesaal sitzen, aber die Herren konnten nun einmal ihre Plätze wechseln, aufstehen, etwas herumgehen und sich zu zwanglosen Gruppen vereinigen.

Immer ausgelassener wurde die Stimmung. Die Musik spielte leichte Tänze und Märsche, einer der Offiziere hatte den Taktstock ergriffen, ein anderer bearbeitete die große Trommel, ein Teil der Kameraden stand um die Musik herum, dieselbe mit ihrem Gesang begleitend. Junge Offiziere hatten sich umfaßt und drehten sich im Tanze. Die Unterhaltung wurde immer lauter, immer betäubender wirkte der Lärm, immer mehr Getränke wurden herumgereicht und die Köpfe immer erhitzter.

Es war fast Mitternacht, als der Kommandeur mit einigen älteren Herren aufbrach. Auch Atzel wollte nach Haus gehen, aber die Kameraden hielten ihn zurück: „Was, Sie wollen schon gehen? Das giebt es nicht. Ihretwegen ist das Fest entriert, nun müssen Sie auch mit uns aushalten bis zuletzt.”

Um keine Mißstimmung gegen sich aufkommen zu lassen, sagte Atzel zu und bald hatten sich die zurückbleibenden Herren zu einer neuen Gruppe zusammengesetzt und das Trinken begann von neuem.

„Weiß der Teufel,” sagte da ein älterer Premier, „hier so zu sitzen und ein Glas Bier nach dem anderen in sich hineinzugießen, ist eigentlich eine stumpfsinnige Beschäftigung, kann nicht einer etwas anderes vorschlagen?”

Ein lautes Halloh und Bravo folgte diesen Worten, keiner hatte das Wort „spielen” genannt, aber jeder wußte, daß der Premier nur dies hatte meinen können. In wenigen Minuten waren die Spieltische aufgestellt und das Jeu begann.

„Aber nicht zu teuer,” bat einer der Herren, „nur ein ganz einfaches kleines Spiel, die höchsten Sätze werden angenommen, wenn sie nicht zu hoch sind!”

Ein erneutes Halloh folgte diesen Worten, die jede Höhe des Einsatzes zuließen, und alle Herren griffen in die Taschen und legten Geld neben sich hin.

„Nun, Graf Atzel, wollen Sie denn nicht auch setzen?” fragte der Bankier, als Atzel, seine Cigarre rauchend, dem Jeu der Kameraden völlig teilnahmslos zusah.

„Es thut mit sehr leid, ich spiele prinzipiell nicht.”

„Na, da hört sich denn doch alles auf,” klang es zurück, „Sie spielen nicht? Aber was machen Sie denn mit Ihrem vielen Geld? Wer so reich ist wie Sie, hat doch die moralische Verpflichtung in sich, minder Bemittelten etwas zukommen zu lassen.”

„So, meinen Sie?”

Graf Atzels Wangen hatten sich dunkel gefärbt und seine Stimme klang scharf und unangenehm.

„Na, na,” meinte der Sprecher, „seien Sie nur nicht böse und nehmen Sie mir meine Worte nicht übel, war ja nur Spaß, was ich sagte! Hier hundert Mark auf die acht, was, schon wieder weg? Na, dann noch einmal.”

Man kümmerte sich gar nicht mehr um Atzel, man hatte nur noch Interese für das Spiel und Atzel fühlte sich recht überflüssig, als plötzlich der kleine Lord ihm die Hand auf den Arm legte: „Wir beide scheinen ja heute in jeder Hinsicht die Soliden zu sein, nicht nur, daß wir dem Spiel widerstehen, sondern auch in unserem Schädel scheint es unbegreiflich vernünftig zu sein. Wie ist es? Wollen wir, während sich die guten Leute dort gegenseitig die Moneten abnehmen, noch eine Flasche wirklich guten Rotweins zusammen trinken. Man würde es uns, namentlich Ihnen verdenken, wenn wir jetzt gingen.”

Atzel stimmte diesem Vorschlag zu und bald saßen die beiden Herren in einer eingemauerten, gemütlich eingerichteten Fensternische und schlürften mit Behagen den schönen Wein.

„Finden Sie nicht auch,” nahm der Lord das Wort, „daß es eine niederträchtige Sitte ist, bei Liebesmahlen die schauderhaftesten Weine, die es in den vereinigten fünf Weltteilen giebt, auf den Tisch zu setzen? Bei solchen Gelegenheiten soll dann plötzlich gespart werden, es ist lachhaft. Man sollte lieber weniger, aber dafür besseren Wein geben — ich gehöre zu jenen glücklichen Menschen, die niemals nach einem Liebesmahl einen Jammer haben, weil ich stets nur an den Weinen nippe.”

„Sie scheinen ja sehr solide zu sein,” neckte Atzel, „Sie trinken nicht, Sie spielen nicht —”

„Ach du großer Gott,” lachte der Lord, „ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen und für die guten Eigenschaften, die Sie mir zuschreiben. Ich wollte, Sie hätten recht, aber leider spiele ich oft mehr, als ich verantworten kann.”

„Aber warum thun Sie es denn?” fragte Atzel, setzte dann aber hinzu: „Ich bitte Sie, meine Frage richtig aufzufassen, sie soll keinen Vorwurf enbthalten, ich meine nur, es steht doch in unserer eigenen Macht so zu leben, daß wir uns keine Vorwürfe zu machen brauchen. Es zwingt Sie doch niemand zu spielen.”

„Doch, doch,” gab der Lord zur Antwort, und als Graf Atzel ein verwundertes Gesicht machte, fuhr er fort: „Sie wissen noch nicht, was es heißt, hier in Garnison zu stehen. Sie kamen aus der Residenz, wo Sie alles hatten, was das Leben bietet, Sie hatten Theater, Konzerte, Gesellschaften, kurz alle Vergnügungen der Großstadt. Was haben wir hier? Nichts. Wenn Sie unserer Stadt, in der wir zu wohnen die Freude haben, die Garnison fortnehmen, bleibt überhaupt nichts nach. Hier bietet das Leben nichts, gar nichts, wir können unserem Schöpfer danken, daß wir wenigstens noch an einem Tage Berlin erreichen können, sonst wäre es wahrhaftig, um einen Selbstmord zu begehen. Hier giebt es nur zweierlei: den Dienst und das Kneipenleben. Die grausamste Langeweile stiert uns oft an — auch Sie werden diese Dame mit dem Medusenantlitz noch kennen lernen — und sie ist es, die uns die Karten in die Hand drückt, damit wir wenigstens vorübergehend das Elend unseres Daseins zu vergessen im stande sind. Na, ich will Ihnen die Freude, hierher versetz zu sein, nicht trüben, ich trinke vielmehr darauf, daß es Ihnen hier wohlgehen und daß Sie hier die nächsten fünfundzwanzig Jahre bleiben. Verheiratet sind Sie nicht?”

Die Frage klang so sonderbar, daß Atzel laut auflachte: „Leider nein.”

„Schade,” gab der Lord zur Antwort, „ich hatte im stillen gehofft, daß Sie ein holdes Weib hätten und uns damit einen netten Verkehr in Ihrem Hause bereiten würden. Wir haben im ganzen nur zwei Familien, in denen wir verkehren, bei unserem Oberst und bei dem ältesten Rittmeister, d. h. was man so verkehren nennt. Der Oberst giebt seine offizielle Abfütterung und der Rittmeister — na, der thut für die Kameradschaft was er kann, aber es fehlt ihm an dem nötigen Kleingeld, er kann nicht so wie er wohl möchte. Sie sollten wirklich heiraten, Atzel, Sie erweisen damit dem ganzen Regiment einen Gefallen.”

Wieder lachte Graf Atzel fröhlich auf und sein sonst so ernstes Gesicht nahm beim Lachen einen ungemein freundlichen, guten Ausdruck an: „Ich werde thun, was in meinen Kräften steht, um mir die Zuneigung der Kameraden zu erwerben, aber ob ich ihnen zu Liebe heirate, weiß ich noch nicht. Warum bringen denn Sie selbst der Kameradschaft nicht dieses Opfer?”

„Ich und heiraten?” fuhr der Lord empor, „Na, Sie kennen mich noch zu wenig, sonst würden Sie wissen, daß ich mich absolut nicht zum Ehemann eigne.”

„Hier also findet man die Herren endlich,” klang da die Stimme enes Kameraden an ihr Ohr und vor ihnen stand der Herr von Griebow.

„Na, Kleiner, was giebt es denn?” fragte der Lord, „willst du ein Glas Rotwein mit uns zusammen trinken?”

„Ach was,” antwortete der mit etwas unsicherer Stimme, „ich habe schon genug getrunken, ich mag nichts mehr sehen, ich wollte dich nur fragen, ob du mir nicht ein paar blaue Scheine pumpen könntest; wenn du kein blauen hast, nehme ich auch braune — feiner Witz, was?” lachte er. „Na, nun sträub' dich nur nicht, du bekommst sie schon wieder, morgen, am ersten, na, sobald ich kann. Du kennst mich ja.”

Der Lord zuckte bedauernd mit den Schultern: „Thut mir leid, lieber Freund, ich habe selbst nichts, mein Geld ist ausgeblieben, das ist auch der Grund, warum ich heut nicht selbst spiele. Ein anderes Mal gerne.”

Griebow stand da und biß sich auf die Lippen: „So'n Pech, was mache ich denn nur? Ich kann doch jetzt noch nicht aufhören.”

„Das beste wäre es schon,” erwiderte der Lord.

„Rede doch nicht so philisterhaft, was?” sagte Griebow, „na, irgendwoher werde ich schon Geld bekommen, wenn ich nur wüßte, wer genug bei sch hätte.”

Er schien zu erwarten, daß Graf Atzel ihm seine Börse zur Verfügung stellen werde, der aber that, als hörte er von dem ganzen Gespräch nichts, in die Sofaecke zurückgelehnt, saß er anscheinend in tiefes Nachdenke versunken.

„Na, denn muß ich anderswo mein Glück versuchen,” meinte Griebow, aber anstatt fortzugehen, blieb er immer noch stehen, er kämpfte sichtlich mit einem Entschluß, er schien seinem Gedanken nicht nachgeben zu wollen, plötzlich aber sagte er: „Graf Atzel, wären Sie vielleicht so freundlich, mir zu helfen?”

Atzel griff in die Tasche und nahm einige Scheine heraus. „Genügt das?”

„Danke, danke, es ist mehr als genug. Na, verlasse Sie sich darauf, Sie bekommen es wieder, sobald ich kann.” Eine leichte Röte der Verlegenheit bedeckte seine Wangen: „Seien Sie mir nicht böse, daß ich Sie gleich am ersten Tag anpumpte, ist mir ja selbst scheußlich genug, na, unter Kameraden ist so etwas ja schließlich ganz egal! Nicht wahr?”

Er wartete die Antwort gar nicht ab, sondern eilte mit schnellen Schritten zum Spieltisch zurück. Die beiden Kameraden folgten ihm mit den Augen.

„Der ist ja zu leichtsinnig,” nahm der Lord endlich das Wort, „der hat beim Jeu nur den Grundsatz, nicht falsch zu spielen, wie sich das ja von selbst versteht, sonst ist ihm aber alles recht, wieviel und wessen Geld er verspielt. Es giebt keinen im Regiment, dem er nicht mehr oder weniger große Summen schuldet. Natürlich hat er die beste Absicht alles wiederzugeben, und er thut in dieser Hinsicht, was in seinen Kräften steht. Aber das Gehalt ist nur gering, seine Zulage auch, da muß er immer einen neuen Pump aufmachen, um den alten zuzudecken. Ja, dies vrwünschte Geld!”

„Und dieses verwünschte Pumpen und Borgen.” Fast unwillkürlich, fast ohne es zu wollen, hatte Graf Atzel diese Worte hervorgestoßen, und blickte nun finster vor sich hin.

Verwundert schaute der Lord auf: „Sie scheinen Griebow nicht gerne geliehen zu haben, dann hätten Sie es nach meiner Meinung überhaupt nicht thun sollen.”

„Mag sein — aber hätte ich nicht gegeben, so hätte es gleich am ersten Abend geheißen: Seht, welch schlechter Kamerad ist der Atzel, er hat so viel und weigert sich, ein paar hundert lumpige Mark zu verborgen! Ich weiß nicht, ob es Ihnen auch aufgefallen ist, daß jeder, der sich eine Summe leiht, dieselbe andern gegenüber als eine Bagatelle bezeichnet — soll er sie aber zurückgeben, dann kann er eine so große Summe unmöglich aufbringen.”

Wieder blickte der Lord sein vis-à-vis verwundert an. „Sie scheinen mir sehr an Ihrem Gelde zu hängen. Nun, das geht mich nichts an, aber auf eins möchte ich Sie aufmerksam machen, damit Sie sich in Zukunft nicht wundern: Sie, als mehrfacher, um nicht zu sagen als vielfacher Millionär, werden hier angeborgt werden, daß Ihnen die Augen übergehen, darauf machen Sie sich nur gefaßt.”

„Also auch hier,” sprach Atzel vor sich hin und setzte nach einer Pause hinzu: „Ist es im Regiment allgemein bekannt, warum ich hierher vesetzt worden bin?”

„Auf eine offene Frage gehört eine offene Antwort,” gab der Lord zur Antwort, „man weiß, daß Sie das Unglück hatten, einen Kameraden, wenn ich richtig unterrichtet bin, Ihren besten Freund, im Duell zu töten. Den Grund, die Veranlassung des Zweikampfes kennen wir nicht.”

Einen Augenblick sah Atzel still vor sich hin, dann sagte er: „Darf ich Ihnen die Geschichte erzählen? Es wäre mir lieb, wenn einer der Kameraden mich gegen etwa auftretende falsche Gerüchte in Schutz nehmen könnte, darf ich Sie bitten, dies gegebenenfalls thun zu wollen?” Und als der Lord zustimmend nickte, fuhr Atzel fort: „Wäre es Ihnen recht, wenn wir nun nach Hause gingen, die Flasche ist leer und ich denke, es ist genug für heute. Das Wetter ist schön und wir können ja auf einem kleinen Umweg unsere Wohnungen aufsuchen.”

Der Lord pflichtete ihm bei, unbemerkt gelang es ihnen, sich zu entfernen und wenig später schlugen sie gemeinsam den Heimweg ein. In dem Augenblick, da sie ins Freie traten, schlug es vier Uhr, der Morgen dämmerte bereits, es war frisch und es wehte ein leiser Wind.

„Gott sei Dank, daß wir der Tabaks-Atmosphäre entronnen sind,” sagte Atzel stehen bleibend und tief Atem holend und die frische Luft schöpfend, „ein Spaziergang wird uns vor dem Schlafengehen gut thun, wenn Sie mir beistimmen, gehen wir hier durch die Allee und unterwegs erzähle ich Ihnen von mir und meinem Leben.

Es gab eine Zeit in meinem Leben,” nahm Atzel nach einer kleinen Pause das Wort, „in der ich auf der ganzen weiten Welt weiter nichts besaß als meinen Namen, noch dazu einen Namen, der vorübergehend keinen guten Klang hatte. Ich weiß nicht, was meinem Vater, der Offizier war, die Waffe in die Hand drückte, eine schwere Schuld muß ihn gedrückt haben, genug, er machte eines Tages seinem Leben selbst ein Ende. Mit meiner Mutter allein blieb ich zurück, ich war das einzige Kind und ich kann sagen, daß wohl wenige Menschen eine so traurige, an Entbehrungen reiche Jugend verlebt haben, wie ich. Bei dem Tode meines Vaters stand meine Mutter der größten Not gegenüber, wir besaßen nichts, nicht einmal eine Pension, da mein Vater diese auf viele Jahre hinaus verpfändet hatte. Wir waren Bettler in des Wortes richtigster Bedeutung, wir haben gebettelt um das tägliche Brot bei Freunden und Verwandten. Man gab uns, aber nicht mit freudigem Herzen, man ließ es uns zu sehr empfinden, daß wir Almosen empfingen. Alle Verwandte wandten sich von uns ab, da mein Vater in einer schwachen Stunde gefehlt, den Namen der Familie befleckt hatte. Kein Funken von Mitleid flammte in der Brust der Angehörigen, was gingen wir sie an, nur an sich selbst dachten sie, an die möglichen Folgen, die diese unglückselige That für sich selbst haben könnte. Ich könnte Stunden und Tage erzählen von Demütigungen, die wir damals haben hinnehmen müssen, die wir hinnahmen, um dieses Dasein zu fristen. In jener Zeit, in jenen Jahren, habe ich die lieben Nächsten in ihrem ganzen Egoismus, in ihrer ganzen Grausamkeit und Schadenfreude kennen gelernt. Ich war ein junger Mensch damals, fünfzehn Jahre, so wurde ich früh verbissen und mißtrauisch, verschlossen und von glühendem Haß gegen andere, die es besser hatten als ich. Ich lebte nur für meine Mutter und für meine Bücher, ich wollte lernen, viel lernen, arbeiten und verdienen, um aus eigener Kraft etwas Ordentliches zu werden. Aus eigener Kraft, das war mein Losungswort geworden — ich wollte es zu etwas Großem bringen, um alle Demütigungen und Kränkungen zurückzahlen zu können, die ich erlitten. Ich hatte keinen Freund, keine Gespielen — die Kameraden blickten mich scheu an, sie wußten von dem Ende meines Vaters, der Not meiner Mutter. Sie sahen geringschätzend auf meinen dürftigen Anzug, auf mein geflicktes Schuhzeug. — Hätte ich keinen adeligen Namen getragen, hätte ich vielleicht ihr Mitleid und ihre Teilnahme erregt, so merkte ich ihren Spott und ihre Lachlust. Niemand gab sich die Mühe, mir näher zu treten, mich kennen zu lernen — der Mensch galt ihnen gar nichts, nur das Aeußere und die traurigen Zustände in meinem Leben. So wuchs ich heran, so blieb ich der Sohn des Selbstmörders, den man mit einer gewissen Geringschätzung behandeln zu können glaubte.

Mit achtzehn Jahren hatte ich mein Abiturienten­examen gemacht. Ich war vor die Frage gestellt: was willst du werden? Zum Studium fehlten die Mittel, ein Handwerk zu ergreifen hinderte mich mein Name, ich stand ratlos da, Offizier zu werden, wie es mein lebhaftester Wunsch war, hinderte mich nach meiner Meinung der auf meinem Vater ruhende Fluch. Wieder wendete ich mich in der äußersten Not an meine Verwandten und endlich setzte ich es durch, daß mir auf einem Familientag ein jährliches Stipendium bewilligt wurde, das mir bei der größten Sparsamkeit ein Studium ernöglichte. Ich entschloß mich, Jura zu studieren und bezog die Universität. Auch dort gelang es mir nicht, Freunde und Verkehr zu finden, vielleicht lag es an mir selbst, daß ich mich zu bedrückt fühlte, mich nicht andern zu nähern wagte, die traurige Jugend hatte meine Selbständigkeit untergraben. Meine Mutter starb, ich war der einzige, der ihrem Sarge folgte, ich war der einzige, der ihr einen Kranz spendete.

Nun stand ich ganz allein, niemand kümmerte sich um mich. An jedem ersten des Monats wurde mir meine Zulage gesandt mit der Bitte um Empfangs­bestätigung — das war die einzige Korrespondenz, die ich mit meinen Angehörigen hatte.

Dann kam über Nacht, so plötzlich und unerwartet, daß es mir ein Märchen zu sein schien, der Umschwung. Ich erwachte eines Morgens und war vielfacher Millionär. Wie mein Onkel, ein wegen seines Reichtums weit bekannter Mann, dazu kam, seinen Neffen, den er zum Erben eingesetzt hatte, zu enterben und mir seine Güter und Gelder zu vermachen, ist eine lange Geschichte, die nicht hierher gehört. Genug, ich war reich, mehr als reich — an den Antritt des Erbes war nur die Bedingung geknüpft, daß ich Offizier werden solle, um den Namen der Familie wieder zu Ehren zu bringen. Was ich in meinen kühnsten Träumen nicht zu hoffen gewagt hatte, ging in Erfüllung, die Gnade Sr. Majestät ließ mich Offizier werden.

Mit offenen Armen nahm man mich in dem Regiment auf — aber in meiner Freude, so herzlich aufgenommen zu sein, mischten sich plötzlich die Zweifel: Würde man dich ebenso aufnehmen, wenn du nicht so reich wärest, wie du es bist? Wem gilt die Freundlichkeit, dir oder deinem Geld? Ich wurde die Zweifel nicht los, ich bin oft grenzenlos traurig gewesen. Wie ich als Kind gar nicht mitgerechnet wurde, weil ich arm und der Sohn meines Vaters war, suchte man jetzt meine Gesellschaft, obgleich ich der Sohn meines Vaters war. War das alles jetzt plötzlich vergessen? Tilgte mein Geld die Schuld des Vaters hinweg? Warum waren alle so besonders freundlich mit mir und zeichneten mich aus, wo immer ich mich nur sehen ließ? Wollte man mich meine freudlose Jugend, all das bittere Leid, das ich ertragen hatte, vergessen machen?

Ich weiß es noch wie heute. Mein Leutnant — ich war damals noch Fähnrich — hatte mich zu sich zum Abendessen in seine Wohnung geladen. Ich war dankbar für die Freundlichkeit, die man mir erwies — Sie wissen ja selbst, daß ein Fähnrich nicht allzu oft in die Lage kommt, Verkehr zu haben. Der Leutnant war verheiratet und hatte eine entzückende junge Frau, die lieb und gut war. Wie es kam, ich weiß es nicht, aber ich schüttete ihr mein Herz aus und erzählte aus meinem Leben. Sie hatte Interesse für alles und fragte nach allen Kleinigkeiten, und zum erstenmal fand ich einen Menschen, dem ich von meiner Mutter erzählen durfte. Erst spät wieder am Abend brach ich auf und da sollte mir die erste wirklich große Enttäuschung meines Lebens zu teil werden. Als ich zum Aubruch drängte, bat der Hausherr mich, noch einen Augenblick in sein Zimmer zu kommen und dort setzte er mir auseinander, daß er und seine Frau verloren wären, wenn ich ihm nicht mit einer größeren Summe aushülfe.

Während des Abendessens hatte ich es ein paarmal bemerkt, daß er mit seiner Frau Blicke wechselte, daß er sie zu irgend etwas zu ermuntern schien, ich hatte mich über seine fast übertriebene Freundlichkeit gewundert, hatte auch ein paarmal inne halten wollen im Erzählen, weil nach meiner Meinung sie nicht alles interessieren konnte, aber immer wieder hatte sie mich gebeten, fortzufahren. Ich hatte ihnen alles gesagt, mir war weich ums Herz geworden, als ich von meiner toten Mutter sprach, ich hatte geglaubt, daß die Blicke, mit denen das Ehepaar sich ansah, ein Austausch des Mitleids und der Teilnahme war. Ich hatte geglaubt, mitfühlende Menschen gefunden zu haben, um einsehen zu müssen, daß ihnen der Mensch in mir ganz gleichgültig war, daß sie das Eisen schmiedeten, bis es warm war, daß sie mir solange Teilnahme bezeigten, bis sie sich sagten: So, nun hält er uns für gute, edle Menschen, wenn wir ihn jetzt anborgen, wird er uns geben.

Und ich gab, um meine Wirte zu beschämen, nur aus diesem Grunde. An jedem anderen Tage hätte ich auch geholfen, gerne, freudig, aber daß sie mich an diesem Abend anborgten, das war mir, als hätte ich einen Schlag ins Gesicht bekommen, ich schämte mich um meiner selbst willen, ich schämte mich um der Leute willen, die so an mir handelten.”

Graf Atzel schwieg einen Augenblick, als wolle er die in ihm wieder wach gewordene Empörung unterdrücken, dann fuhr er fort: „Ja, ja, man erlebt in dieser Hinsicht verschiedene Geschichten, und wenn man denkt: so, nun giebt es auf diesem Gebiet wohl nichts neues mehr, dann muß man nur zu bald einsehen, daß man sich getäuscht.

Ich will mich kurz fassen, denn ich würde doch kein Ende finden, wenn ich Ihnen alle Enttäuschungen erzählen würde, die ich habe durchmachen müssen; ich will auch nicht zu schildern versuchen, wie ich mich mit der Zeit daran gewöhnte, daß alle, selbst mir ganz Fernstehende, in mir nur den Millionär sahen, wie die Freunde und Kameraden es als etwas ganz selbstverständliches von mir erwarteten, daß ich ihnen jederzeit hülfe.

Und ich half. ich gab jedem, der mich bat, und sie baten mich alle, alle, alle, der eine früher, der andere später. Ich hatte mich so daran gewöhnt, einem jeden zu borgen, daß ich, so oft mir ein Herr vorgestellt wurde, dachte: Um wie viel wird der dich bitten? Ich klebe nicht an meinem Geld, ich gebe gerne, aber nur geben zu müssen, nie etwas dafür zu empfangen, immer Freundlichkeiten zu erweisen, nie eine entgegenzunehmen. Kaum ein Wort des Dankes zu ernten, glauben Sie mir, das ist bitterer als manche Kränkung, die uns zugefügt wird!

So blieb ich allein, obgleich alle sich um meine Gunst bewarben, bis ich, vor nunmehr ungefähr einem Jahr, einen Kameraden fand, zu dem ich aufrichtige Zuneigung empfand. Er war zu uns ins Regiment versetzt worden, obgleich er über keine großen Mittel verfügte, es war rührend anzusehen, wie er sich durchquälte, wie er oft darbte, um bei festlichen Gelegenheiten, ebenso wie wir, repräsentieren zu können. Ich wurde mit ihm befreundet und bat ihn, um ihm eine pekuniäre Erleichterung zu verschaffen, zu mir zu ziehen — er sparte dadurch die Miete und ich hatte einen lieben Gesellschafter gewonnen. Ich hatte eine große Wohnung, mein Gast genierte mich in keiner Weise, wir beide gingen unsere eigenen Wege, wir sahen uns nur, wenn wir uns sehen wollten. Um das, was er that und trieb, kümmerte ich mich in keiner Weise, auch hatte ich mir zum Grundsatz gemacht, ihn nie in seinen Zimmern aufzusuchen, um selbst den leisesten Schein zu vermeiden, als wolle ich nachsehen, was er in meiner Wohnung mache. Fast täglich aber kam Otto — seinen Nachnamen will ich verschweigen — zu mir in meine Stube und holte mich ab. Wir ritten und fuhren zusammen spazieren, ich begleitete ihn auf seinen Spaziergängen, wir saßen bei Tisch im Kasino nebeneinander, abends besuchten wir zusammen die Theater, wo der eine war, war auch der andere, uns verband aufrichtige Freundschaft. Ich habe, wie ich Ihnen schon sagte, keine Geschwister und keinen Gespielen gehabt — in Otto glaubte ich den Freund nicht nur, nein den Bruder gefunden zu haben. Ich liebte ihn, schätzte und achtete ihn wie nie zuvor einen Menschen auf der Welt, ich that für ihn, was ich konnte, seinetwegen freute ich mich so reich zu sein, ich gab ihm alles, alles, alles. Ich war nie so glücklich wie in der Zeit, das Leben machte mir ordentlich Freude, da ich jemanden hatte, für den ich sorgen konnte, und ich darf wohl sagen, ich habe gut für ihn gesorgt und habe ihn vor manchem débacle und désaitre gerettet. Er war mein Freund und ich war der seine — so glaubte ich. Doch die Stunde der Enttäuschung sollte mir auch hie rnicht erspart bleiben.

Eines abends kam ich früher, als ich beabsichtigt, von einer Gesellschaft nach Hause. Otto hatte einige Kameraden zu sich eingeladen und als ich den Korridor betrat, hörte ich aus Ottos Wohnzimmer lebhaftes Sprechen und lautes Lachen. Die Gäste schienen sich trefflich zu amüsieren und ich überlegte, ob auch ich noch einen Augenblick den lustigen Kreis aufsuchen sollte. Ich näherte mich der Thür und im Begriff sie zu öffnen, fiel mir meine Cigarre zur Erde, ich bückte mich, um sie aufzuheben und sie in meine Spitze zu stecken. Und während dieser kurzen Spanne Zeit, da ich gezwungen war, vor der Thür stehen zu bleiben, hörte ich, wie Otto, wohl auf eine Bemerkung eines Kameraden hin, antwortete: ,Das ist ja alles sehr schön, aber das beste an Atzel sind doch seine Millionen, er kann sich doch nur freuen, wenn ehrliche Leute Kinder ihm behilflich sind, das Geld auszugeben.'

Otto lachte kurz und höhnisch, aber sein Lachen fand bei den Kameraden keinen Widerhall. Eine tiefe Stille folgte diesen Worten.

Ich selbst aber taumelte da draußen auf dem Korridor wie ein Trunkener. Ich habe nie auf Dank gerechnet und hatte auch Otto verboten, mir je ein Wort des Dankes zu sagen, ich wollte nicht, daß er das, was ich ihm gab, als ein Geschenk meinerseits betrachtete.

Aber als ich diese Worte aus dem Munde meines Freundes hörte, für den ich so viel gethan hatte, da überkam mich ein solches Gefühl der Empörung, der Wut und des glühendsten Zornes, daß ich glaubte, ein Schlag solle mich rühren. Ich zitterte und bebte, daß meine Hände nicht den Thürgriff finden konnte, endlich trat ich ins Zimmer — erschrocken sprangen die Kameraden in die Höhe, sie mußten mir ansehen, daß ich gehört hatte, was über mich gesprochen war. Meine stille Hoffnung, daß Otto zu viel getrunken hätte, daß er nicht gewußt, was er sagte, erfüllte sich nicht: er war ruhig und klar. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, wies ich ihm die Thür. Er ging, stolz und hoch aufgerichtet, als wäre ich der Schuldige.

,Du wirst von mir hören, ich lasse mir nicht die Thür weisen, als wäre ich ein Lakei [sic! D.Hrsgb.]. Aber das sind ja die Reichen, die haben ja das Vorrecht, ihre Launen und ihre Günstlinge zu wechseln,' rief er mir auf der Schwelle noch zu.

Die Kameraden blieben bei mir zurück von dem Wunsche erfüllt, eine Versöhnung, eine Aussprache herbeizuführen. Da kamen auch schon Ottos Sekundanten: er fühle sich durch die Art und Weise, wie ich ihm die Thür gewiesen, so verletzt, daß er Genugthuung fordere.

Ich lachte laut auf, dann aber freute es mich, daß Otto mir zuvorkam und mir seine Sekundanten schickte — ich glaube, ich hätte es nicht über das Herz gebracht, ihn zu fordern, und doch konnte und wollte ich die mir zugefügte Schmach nicht auf mir sitzen lassen.

Am nächsten Morgen standen wir uns auf dem Scheibenstand gegenüber: Otto unruhig, zitternd und bebend, wie ich zu seiner Ehre hoffe nicht weil er sich fürchtete, sondern weil er sich schämte bis in sein innerstes Herz hinein.

Ich selbst war so ruhig wie nur möglich. In mir war alles tot und erstorben. Der grenzenlosen Empörung war eine tiefe Trauer und Niedergeschlagenheit gefolgt, fast die ganze Nacht war ich ruhelos auf-und abgegangen und immer und immer wieder hatte ich mich gefragt: Ist denn dein Geld alles, deine Persönlichkeit nichts? Hätte ich meinen Besitz verloren, ich wäre glücklich gewesen — der Verlust des Freundes stimmte mich namenlos traurig. Das ganz Leben war mir so verhaßt, daß ich mir nicht wünschte als den Tod.

Und diesen Gedanken hate ich auch noch, als ich dem ehemaligen Freunde gegenüberstand. Möchte er dich doch töten, sagte ich mir immer und immer wieder, ich empfand vor dem Weiterleben eine förmlichen Ekel.

Der Versöhnungsversuch auf dem Kampfplatze scheiterte. Otto hatte den ersten Schuß — haarscharf flog seine Kugel an meiner rechten Schläfe vorbei.

Schade, dachte ich, sehr schade.

Dann hob ich die Waffe.

Ich empfand gegen Otto weder ein Gefühl des Hasses noch der Feindschaft, das merkte ich erst, als ich die Pistole hob. Hätte irgend ein Gefühl, irgend eine Empfindung mein Inneres beherrscht, so wäre es nicht möglich gewesen, daß meine Hand so ruhig stand. Alles, was ich für Otto einst empfunden, war erloschen, mein Inneres glich einem erloschenen Krater, keine Flamme, kein Feuer, kein Funke — nichts, alles öde und kalt.

Ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen, wenn ich sage: der Freund war mir in diesem Augenblick weiter nichts als eine Scheibe, auf die ich schoß.

Ob ich traf, war mir einerlei.

Aber ich traf — mit einem Schuß im Herzen sank Otto zusammen.

Ich müßte lügen, wenn ich sagen wollte, daß ich traurig gewesen wäre, den Freund getötet zu haben — für mich war er gestorben in jener Nacht, in der ich zu der Erkenntnis gekommen war, daß ich meine Freundschaft einem Unwürdigen geschenkt hatte, ob sein Leib auf Erden weiter lebte, war mir gleich.”

Graf Atzel schwieg müde und ging in Gedanken eine Zeitlang neben dem Lord her: „Das ist alles, was ich Ihnen sagen wollte,” nahm er dann wieder das Wort, „nun kennen Sie mein Leben, sehr glücklich war es bisher nicht, möchte es mir hier besser gehen. Ich hoffe es, die Hoffnung hört ja nimmer auf, mein Glaube aber ist erschüttert, nicht mein Glaube an Gott, wohl aber mein Glaube an die Menschen. Möchte er hier wieder erstarken.”

„Darf ich Ihnen helfen, wieder Zutrauen zu den Menschen zu fassen,” nahm nun der Lord das Wort, „ich habe nicht nur mit den Ohren, sondern auch mit dem Herzen Ihrer Erzählung gelauscht, und voll und ganz fühle ich Ihnen nach, was Sie empfinden. Wir kennen uns zu wenig, und Sie haben zu Schweres durchgemacht, als daß ich den Mut hätte, Ihnen heute schon meine Freundschaft, meine uneigennützige Freundschaft anzutragen. Die Zeit wird lehren, ob wir zueinander passen — ich wäre glücklich, wenn ich Ihr Freund sein dürfte. Wie es aber auch kommt, eins möchte ich Ihnen hiermit heute abend schwören: Nie werde ich gleich den anderen Sie um etwas bitten, nie — ich möchte, daß Sie später sagen könnten: Ich habe wenigstens einen Menschen kennen gelernt, der nichts von mir wollte, als mich selbst.”

Voll herzlicher Anteilnahme blickte der Lord auf seinen Kameraden und hielt diesem die Hand hin, aber Atzel legte seine Rechte nicht hinein.

„Ihre Worte, lieber Lord, ehren Sie ebenso wie sie mich erfreuen,” gab er zur Antwort, „aber ich nehme Ihren Schwur nicht an. Wer von uns weiß, was das Leben uns bringt, wer weiß, wer kann sagen: ich werde dich nie gebrauchen, nie deine Hilfe in Anspruch nehmen? Das kann keiner. Seien Sie mir ein Freund, ein guter Kamerad, darum bitte ich Sie. Nun aber, denke ich, ist es Zeit, daß wir uns schlafen legen, hier trennen sich wohl auch unsere Wege.”

Mit herzlichem Händedruck trennten sich die Kameraden.

„Gute Nach, Graf Atzel, wenn Sie meinen Schwur nicht annehmen wollen, kann ich Ihnen natürlich nicht helfen. Sie denken: er kommt doch eines Tages, ich aber sage: ich komme nicht. Wer recht behält, muß die Zukunft lehren. Gute Nacht.”

Lange blickte Graf Atzel dem Kameraden noch nach.

„Und du kommst doch,” murmelte er vor sich hin. „Das Mitleid, das du heute abend mit mir empfindest, ließ dich deine Worte sprechen, aber du kommst doch,” und in Gedanken versunken, schlug er den Heimweg ein.

Leutnant von Zedtwitz, oder wie er von seinen Kameraden genannt wurde, „der Lord”, war der einzige Sohn seiner Eltern, die in Ostpreußen ein sehr großes Rittergut besaßen. Sein Vater galt als einer der reichsten Großgrundbesitzer, und so setzte er dem Wunsche seines Sohnes keinen Widerspruch entgegen, als dieser erklärte, gern Offizier werden zu wollen. Wohl wäre es dem Vater ein Leichtes gewesen, seinen Sohn bei einem der Garde-Kavallerie-Regimenter unterzubringen, aber er wollte nicht, daß dieser, noch so jung, schon allen Verführungen und Versuchungen des Großstadtlebens ausgesetzt würde, und so ließ er ihn in das in der Nähe garnisonierende Ulanen-Regiment eintreten, ihm versprechend, daß er in späteren Jahren seinen Einfluß aufbieten würde, ihn in die Garde zu bekommen. Mit neunzehn Jahren trat der Lord in die Armee ein und, von Liebe und Leidenschaft zu seinem Beruf erfüllt, verstand er es bald, sich die Zufriedenheit seiner Vorgesetzten, die Achtung seiner Untergebenen und die Zuneigung seiner Kameraden zu erwerben. Er war ein tüchtiger gewissenhafter Offizier, der seinen Dienst ausgezeichnet verstand, ein vortrefflicher, kühner Reiter und gewandt in allen Leibesübungen. Wer den Lord in seiner häufig etwas gesucht modernen Uniform, mit seinem Monocle und den fast frauenhaft gepflegten, weißen Händen sah, ahnte nicht, welche körperliche Kraft er besaß, welche zähe, eiserne Energie ihm inne wohnte.

In vielen Dingen ging der Lord seine eigenen Wege, er that alles mit Maßen. Bei jedem Zechgelage ging er beizeiten fort, es kam nie vor, daß er sich betrank, auch beim Spiel hörte er zur rechten Zeit auf. Er verlor oft große Summen, aber er verspielte nie mehr, als er spätestens innerhalb vierundzwanzig Stunden bezahlen konnte. Er sprach nie über seine kleinen Liaisons, brüstete sich nie mit den Erfolgen, die er hatte, war diskret in jeder Hinsicht und erreichte so, daß ihm jeder sein Vertrauen schenkte. Er selbst sprach über sich selbst nie mit einem anderen — keiner der Kameraden kannte seine Verhältnisse, niemand wußte, wie hoch seine Zulage sei und ob er Schulden habe. Was er kaufte, zahlte er stets bar, auch im Kasino hatte er keine Reststände — war er bei Kasse, so lebte er flott und lustig darauf los, hatte er kein Geld, ließ er sich niemals sehen, trank im Kasino nur Wasser und duldete eben nicht, daß ihn jemand einlud. Er borgte, so oft man ihn darum bat, er selbst lieh sich aber nur dann Geld, wenn er beim Spiel zu kurz kam — unbar spielte er nicht.

Allgemein hieß es, daß der Lord in vollständig geregelten Verhältnissen lebte, und doch war das Gegenteil der Fall. Mit der reichlich bemessenen Zulage kam der Lord nicht aus, schon nach dem ersten Jahre hatte er das eingesehen, während eines Urlaubs seinem Vater seine Schulden gebeichtet und um Erhöhung seines Zuschusses gebeten. Die Rechnungen und Außenstände wurden bezahlt, die monatliche Unterstützung fast um das Doppelte erhöht, zugleich aber erklärte ihm der Vater, daß er an demselben Tage seine Verabschiedung beantragen werde, indem er einsähe, daß sein Sohn auch jetzt nicht mit seinen Mitteln Haus halten könne. Der Sohn kannte seinen Vater zu gut, um nicht zu wissen, daß dies keine leere Drohung sei und er nahm sich ernstlich vor, solide und sparsam zu leben, vor allen Dingen aber dem Jeu zu entsagen. Spielte er nicht, so konnte er sich mit dem ihm zur Verfügung stehenden Gelde jeden Luxus gestatten.

Eine kurze Zeit lang rührte er keine Karte an, er mied die Weinstube, in der sich des Abends die Kameraden und die Gutsbesitzer und andere Herren aus der Nachbarchaft zu einem Jeu zu vereinen pflegten. Er wollte nicht wieder hingehen, er wollte nicht wieder spielen. Der Geist war willig, aber das Fleisch war schwach, und dennoch wäre er vielleicht als Sieger aus diesem Kampfe hervorgegangen, wenn ihn nicht eines Abend einige Kameraden aus seiner Wohung abgeholt und ihn fast mit Gewalt mit sich genommen hätten. Mit lautem Jubel und Halloh wurde er begrüßt, man achtete nicht auf seine Worte, seine Einwendungen, fast mechanisch, mit innerem Widerstreben nahm er die Karten auf, die man ihm hinschob, bis dann ganz von selbst der Spielteufel wieder in ihm lebendig wurde und ihn in Zukunft nicht wieder losließ. Pekuniären Sorgen gab er sich nicht hin. Es war ihm gelungen, einen Geldmann zu finden, der ihm gegen hohe Zinsen auf das reiche Erbe seiner Eltern hin einen unbegrenzten Kredit gewährte und der ihm stets die nötigen Summen verschaffte. Er führte über jeden Betrag, den er sich lieh, gewissenhaft Buch und hatte in einem ihm befreundeten Rechtsanwalt, den er ins Vertrauen gezogen hatte, einen juristischen Berater und Beistand, der ihn vor jeder Uebervorteilung und vor jedem Wucher bewahrte. Aus dem Munde seines Vaters kannte er die Höhe des Erbes, das ihm, die jährlichen Einkünfte des Gutes abgerechnet, zufallen würde, und er trug keine Scheu und keine Bedenken, sich auf dies Erbe hin große Summen zu leihen, aber er war auch verständig genug sich zu sagen, daß diese Gelder eine bestimmte Höhe nicht überschreiten dürften, wenn er nicht später darunter leiden wolle. Er war ein Mensch, den niemals die ruhige Ueberlegung verließ, der stets wußte, was er that, der trotz seiner Schulden kein leichtsinniger Schuldenmacher war. In allen Geldsachen war er äußerst korrekt und genau — und so hatte die Erzählung des Grafen Atzel auf ihn einen tiefen Eindruck gemacht. Er fühlte für den neuen Kameraden aufrichtige Zuneigung und er nahm sich vor, für ihn einzutreten, wo immer er es konnte, ihn vor ähnlichen Enttäuschungen, wie sie ihm in der anderen Garnison zu teil geworden waren, zu bewahren.

Schon wenige Stunden, nachdem die beiden Kameraden sich getrennt, fand der Lord Gelegenheit die Partie[sic! D.Hrsgb.] seines neuen Freundes zu ergreifen. Die Teilnehmer des gestrigen Liebesmahles — wenigstens die jüngeren Herren — hatten sich zu einem Kater­frühstück vereinigt, bei dem es womöglich noch toller und ausgelassener zuging als am Abend vorher. Der Lord, dessen Dienst lange gedauert hatte, kam erst sehr spät, Graf Atzel blieb ganz fern, da man vergessen hatte, ihn zu benachrichtigen. Die Ordonnanz, die man ihm in die Wohnung schickte, fand ihn nicht zu Hause.

Natürlich drehte sich das Gespräch um den neuen Kameraden und um das gestrige Jeu. Der kleine Griebow strahlte vor Vergnügen, Atzels Geld hatte ihm Glück gebracht, er hatte eine große Summe gewonnen, die es ihm ermöglichte, einen Teil seiner drückendsten Schulden zu bezahlen, an Atzel hatte er das geliehene Geld bereits zurückgesandt. Griebows Gewinn war naturgemäß der Verlust einiger anderer Kameraden gewesen und diese saßen nun mißvergnügt und auf ihr scheußliches Pech scheltend bei ihrer Grätzer[sic! D.Hrsgb.] und suchten beim Trinken mit dem physischen Jammer zugleich den moralischen los zu werden. Der dicke Retzdorf, der älteste Sekond, jammerte am meisten, er hatte blödsinniges Unglück, wie er sich ausdrückte, gehabt, war sein ganzes bares Geld los geworden, hatte augenblicklich keinen Pfennig zum Leben und noch Spielschulden obendrein.

„Wenn ich nur jemanden wüßte, der mir aus der Tinte heraushülfe,” klagte er, „wenn ich mein Geld nur wenigstens an jemand anders verloren hätte als an den Rittmeister. Ist man dem Geld schuldig, so vertritt er immer mit einer Energie, die einer besseren Sache würdig wäre, den Standpunkt, Spielschulden seien Ehrenschulden und müßten innerhalb vierundzwanzig Stunden bezahlt werden! Hat er aber selbst verloren, dann ist es ganz etwas anderes, dann kann man lange warten, bis man den Lohn für seiner Hände Arbeit bekommt. Meine einzige Hoffnung ist, daß Atzel mich aus der Patsche reißt. An Griebow hat er ja gestern auch gegeben, da handelte es sich allerdings ja nur um ein paar hundert Mark, mit denen mir leider nicht geholfen ist. Wie ist es, Lord, Sie haben sich ja gestern lange mit Atzel unterhalten. Sie kennen ihn ja besser als wir alle zusammen, glauben Sie, daß er etwas herausrücken wird, wenn ich ihn bitte?”

„Daß er geben wird, bezweifle ich keinen Augenblick,” gab der Lord zur Antwort, „aber,” fuhr er fort, als der dicke Retzow [siehe „Retzdorf” im vorvorigen Absatz! D,Hrsgb.] ein Gott sei Dank hervorstieß, „aber ich bezweifle, daß Sie ihn anborgen werden, wenn Sie alles wissen. Atzel hat mir gestern sein Vertrauen geschenkt und mir viel aus seinem Leben erzählt, ich glaube, ich handle in seinem Sinne, wenn ich das Hauptsächlichste davon hier wiedererzähle.”

Aufmerksam hörten die Kameraden zu.

„Der arme Teufel kann einem ja leid thun und nach meiner Meinung war es das Verständigste, was er thun konnte, daß er dem schuftigen Freund eine Kugel in die Brust jagte,” sagte der dicke Retzow, als der Lord geendet hatte, „aber ich sehe nicht ein, warum das mich hindern soll, Atzel um ein paar tausend Mark anzuborgen, das ist doch für ihn eine Bagatelle.”

Unwillkürlich gedachte der Lord der Worte, die Atzel zu ihm gestern abend gesprochen hatte: Was man borgen will, ist stets nur eine Kleinigkeit, was man zurückzahlen soll, ist eine große Summe.

„Nicht darum handelt es sich,” erwiderte der Lord, „die Höhe der Summe kommt gar nicht in Betracht, sondern es handelt sich um das Prinzip. Ich würde mich genieren, Atzel anzuborgen, ich thäte es nicht, soviel weiß ich. Was soll er von uns denken, wenn auch wir ihn als lebendigen Geldbeutel betrachten, heute Sie, gestern Griebow.”

„Bitte sehr, ich habe das Geld schon zurückgesendet,” verteidigte der junge Offizier sich.

„Das ist sehr brav von Ihnen,” lobte der Lord, „schafft aber die Thatsache nicht aus der Welt, daß Atzel gestern angepumpt wurde, heute angepumpt wird und morgen aller Wahrscheinlichkeit nach angepumpt werden wird.”

„Na, das letztere bleibt ja noch abzuwarten,” meinte der dicke Retzow, „aber selbst, wenn Ihre Cassandra-Prophezeiung einträfe, würde ich darin so Schlimmes nicht finden. Wir borgen uns doch auch gegenseitig an, warum sollen wir denn bei Atzel, noch dazu dem reichsten von uns allen, eine Ausnahme machen? Das wäre beinahe lächerlich und kindisch.”

„Ihr wollt mich nicht verstehen,” rief der Lord erregt, „thut, was Ihr nicht lassen könnt. Das aber sage ich noch einmal, anständig finde ich das nicht.”

Er war aufgestanden und schickte sich an zu gehen. „Nun, bleiben Sie doch noch! Seien Sie doch nur friedlich. Machen Sie keine Geschichten,” klang es ihm von allen Seiten entgegen, aber der Lord lehnte ab: „Ich wollte sowieso nur kurze Zeit bleiben, ich habe mir mein Pferd bestellt und will etwas spazieren reiten.”

Als der Lord bald darauf vom Kasernenhof, wo der Bursche ihn bereits mit den Pferden erwartete, fortritt, begegnete er Atzel: „Woher kommen Sie denn?” sagte der Graf, der ebenfalls zu Pferde war und neben dem Lord herritt, „hatten Sie lange Dienst?” Und als er von dem Frühstück erfuhr, sagte er: „Schade, daß ich erst jetzt davon höre, ich wäre gerne gekommen. Glauben Sie, daß es sich noch lohnt hinzugehen?”

Der Lord wußte ganz genau, daß die Kameraden noch viele Stunden beisammenbleiben würden, aber er wollte nicht, daß Atzel, sobald er sich im Kasino sehen ließe, angeborgt würde, und so sagte er: „Die meisten der Herren brachen gleich mir auf, Sie würden nur noch einige der Jüngsten antreffen. Wie ist es, haben Sie schon geritten oder wollen Sie noch reiten?”

„Ich habe mein Tagewerk hinter mir,” gab Atzel zur Antwort. „Drei Pferde habe ich schon geritten; was darüber ist, ist vom Uebel. Wie ist es, sehen wir uns bei Tisch?”

„Wir würden die einzigen sein,” meinte der Lord; „am Tage nach dem Liebesmahl pflegen wir nicht im Kasino zu essen; aber wenn es Ihnen recht ist, hole ich Sie heute abend ab, wir essen dann in der Weinstube zusammen.”

Atzel willigte ein, und gemeinsam suchten sie am späten Nachmittag das Restaurant auf. Der Lord war verstimmt; er hatte Retzow gesehen, der aus der Richtung von Atzels Wohnung kam, und vermutete mit vollem Recht, daß seine Bitten und Vorstellungen erfolglos geblieben wären. Daran, daß Atzel gegeben hatte, konnte er keinen Augenblick zweifeln, und nun war er traurig, daß sein erster Versuch, dem Freunde Enttäuschungen zu ersparen, gescheitert war. In diesem Sinne sprach er sich offen gegen Atzel aus und dieser drückte ihm dankbar die Hand: „Sie meinen es gut mit mir, aber Sie müssen, was ich Ihnen gestern erzählte, auch nicht zu wörtlich nehmen; es macht mir doch auch Freude, helfen zu können. Thun Sie mir den Gefallen, lassen Sie uns nie wieder das Thema berühren, versprechen Sie es mir.”

In der Folge entwickelte sich zwischen dem Grafen Atzel und dem Lord ein immer herzlicherer und intimerer Verkehr — sie wohnten beide in derselben Straße, so sahen sie sich auch außerhalb des Kasinos oft. Sie trafen sich häufig auf dem Weg nach der Kaserne, sie verabredeten sich zu gemeinsamen Spazierritten, holten sich auch oft gegenseitig aus ihren Wohnungen ab und nicht selten kam Atzel auch zu dem Lord, um bei ihm den Abend zuzubringen, wenn er in diesen [recte wohl: dessen! D.Hrsgb.] Zimmern von der Straße aus Licht gesehen hatte. Der Lord lebte jetzt wirklich solide, er hatte einmal wieder seine Tour, wie die Kameraden sagten, in der nichts mit ihm anzufangen war, er war in allem die Mäßigkeit selbst, nicht einmal in der Weinstube ließ er sich mehr sehen. Er hatte sich zum Schutzpatron des Grafen Atzel aufgeworfen, er ließ ihn kaum allein und bemühte sich nach Kräften, diesem Gesellschaft zu leisten. In das Wirtshaus ging Atzel nur selten und nur höchst ungern, er fand keinen Gefallen an der Unterhaltung, die dort gepflogen wurde und die dort stets damit endete, daß man sie selbst zu langweilig fand und Karten spielte. Die langen Winterabende boten sonst auch gar keine Abwechslung, gar keine Zerstreuung. Atzel litt sehr unter der Einsamkeit, unter dem Mangel an Verkehr, und mehr und mehr wurde der Vorsatz in ihm lebendig, in nicht zu ferner Zeit seinen Abschied zu nehmen und sich auf eins seiner Güter zurückzuziehen. Er sprach einmal mit dem Lord darüber, der ihm voll und ganz beistimmte.

„Ich wußte es ja, daß Sie es hier nicht aushalten würden; der Dienst und die Beschäftigung entschädigt für vieles, aber nicht für alles. Warum sind Sie überhaupt erst hierher gekommen?”

„Weil ich auch nicht den leisesten Verdacht aufkommen lassen wollte, als ob ich hätte gehen müssen. Hätte ich nach dem unglücklichen Duell gleich meinen Abschied eingereicht, hätte es geheißen, ich wäre nicht freiwillig gegangen. Das durfte nicht sein, es ist genug, daß einer meines Namens gehen mußte — ich blieb und ein Jahr oder zwei muß ich noch aushalten, dann aber gehe ich. Thun Sie mir aber den einzigen Gefallen und sprechen Sie nicht darüber. Sie wissen ja, wie es ist: äußert erst einmal jemand seine Absicht, den Abschied zu nehmen, so ruhen die guten Freunde nicht eher, als bis man den Abschied hat.”

„Und wie gefällt es Ihnen hier sonst im Regiment? Sie sind nun fast ein halbes Jahr hier und ich glaube, ich habe diese am nächsten liegende Frage noch nie an Sie gerichtet, sind Sie hier gern?”

Einen Augenblick zögerte Atzel, dann sagte er: „Wenn Sie mich offen und ehrlich fragen: nein. Verstehen Sie mich recht, ich habe gegen keinen der Kameraden etwas einzuwenden, gegen keinen einzelnen, aber das ganze Offiziercorps als solches gefällt mir nicht. Es herrscht ein Ton, eine Auffassung in vielen Dingen, eine Unwissenheit und Begrenztheit der Ansichten, die mich oft starr macht. Ich weiß es sehr wohl: Schuld daran hat allein die kleine Stadt, aber das Resultat bleibt eben dasselbe, mag die Veranlassung sein, welche es will. Ich finde das Leben, wie es hier geführt wird, der Zeit, in der wir leben, unwürdig — statt vorwärts zu schreiten, gehen wir hier zurück, es wird nicht mehr lange dauern, dann haben wir Zustände, wie Winterfeldt sie in seinen Soldatenromanen schildert. Schön ist der Friede, ein lieblicher Knabe, singt der Dichter — ein zu langer Friede aber ist für die ganze Nation, für den Offizierstand am allerwenigsten, etwas wert. Unser Offziercorps ist dafür das glänzendste Beispiel: es geht unter im Gamaschendienst, beim Trinken und beim Spiel. Haben Sie übrigens den Karten ganz abgeschworen?”

„Fragen Sie mich nicht,” bat der Lord, „erst gestern bin ich in einer empörenden Art und Weise gerupft worden, na, es geschieht mir ganz recht. Ich bin ja Kummer und Elend gewöhnt, ich verliere eigentlich immer, aber gestern war es denn doch etwas zu hart.”

„Sind Sie in Verlegenheit?” fragte Atzel, „darf ich Ihnen helfen?”

„Nein, ich danke,” gab der Lord zur Antwort, „ich bin reichlich versehen, aber selbst wenn das Gegenteil der Fall wäre, würde ich Ihre Güte nicht in Anspruch nehmen und wenn es auch nur meinetwegen wäre. Bitte, brechen wir das Gespräch ab und erzählen Sie mir lieber von Ihren Reisen, die Sie in aller Herren Länder herumgeführt haben, dann bekommt man doch wenigstens im Geiste etwas von der Welt zu sehen. Die einzige Stadt, die ich außer unserer Garnison kenne, ist Berlin — ja, lachen Sie nur. Mehr als vier Wochen Urlaub giebt es hier nicht im Jahr, und ist der Urlaub da, so wollen die Eltern, daß man bei ihnen ist, verdenken kann man es ihnen ja auch nicht und man selbst hat ja auch Sehnsucht nach den Seinen. Hätten Sie nicht einmal Lust, mit mir zu meinen Eltern zu fahren, sie würden sich sicher sehr freuen, Sie kennen zu lernen.”

Mit Freuden nahm Atzel das Anerbieten an und es wurde verabredet, daß sie gelegentlich einmal auf ein paar Tage auf das Gut reisen wollten. Man wollte das Frühjahr abwarten, im Winter waren Lords Eltern meist selbst auf Reisen und das Landleben bot in dieser Jahreszeit ja auch absolut keine Zerstreuung.

„Wissen Sie wohl, Lord,” sagte Atzel zu seinem Freunde, als sie sich am Abend trennten,„daß Sie mir mit Ihrer Einladung eine wirkliche, große Freude bereitet haben. Es ist das erste Mal, daß mir jemand etwas giebt, bisher habe ich immer geben müssen. Ob etwas aus der Reise wird oder nicht, ist ganz gleichgültig, wenngleich ich mich natürlich sehr freuen würde, die Ihrigen kennen zu lernen, aber diesen Beweis Ihrer Freundschaft werde ich Ihnen nie vergessen.”

Und es wurde nichts aus der Reise, die Nachrichten, die der Lord von zu Hause erhielt, waren schlecht. Die Mutter konnte die Folgen einer starken Erkältung, die die Lungen angegriffen zu haben schien, nicht überwinden, und die Stimmung des Vaters, der über den Niedergang der Landwirtschaft und das Fehlgehen einiger Spekulationen klagte, war die denkbar schlechteste. Zugleich ermahnte der Vater den Sohn von neuem, sparsam zu sein und keine Schulden zu machen, er hoffe, daß es ihm auch fernerhin möglich sei, die alte Zulage zu senden, wenngleich es ihm schwer fallen würde.

Der Lord legte den Klagen seines Vaters wenig Gewicht bei, er kannte diese Stimmungen, die eintraten, wenn das Getreide im Preise sank, und die wieder schwanden, sobald es wieder stieg. Daß sein Vater spekuliert hatte, beunruhigte ihn nicht — warum sollte der reiche Mann sich nicht einmal mit einem Teil seines Kapitals an irgend einem neuen Unternehmen beteiligen? Erlitt er dabei wirklich einen Verlust, so hatte das bei seinen Mitteln doch wenig oder gar nichts zu bedeuten.

Um so mehr beunruhigte ihn der Gesundheits­zustand seiner Mutter, an der er stets mit zärtlichster Liebe gehangen hatte — sein erster Gedanke war, auf einige Tage nach Haus zu fahren, aber er gab die Absicht wieder auf. Bei der augenblicklichen Stimmung seines Vaters hätte dieser ihn sicher gefragt, ob er Schulden habe — der Lord hätte es nicht vermocht, die Unwahrheit zu sagen, und anstatt die Eltern durch sein Kommen zu erfreuen, hätte er ihnen schwere, ernste Sorgen verursacht, und das wollte er schon der Mutter wegen vermeiden.

Auf das äußerste erschrak der Lord aber, als er einige Tage später einen Brief seines Gelddarleihers erhielt, in dem dieser ihm mitteilte, daß er ihm vorläufig, bis die ihm wohlbekannten Verhältnisse seines Vaters sich geklärt hätten, keine weiteren Summen zur Verfügung stellen könne. Dieser Brief war die Antwort auf ein Telegramm Lords, in dem er um sofortige Uebersendung mehrerer tausend Mark gebeten hatte, derer er zur Tilgung einer ehrenwörtlichen Schuld an einen Gutsbesitzer bedurfte — er hatte sich das Geld am Abend vorher beim Spiel bar geliehen und auf Ehrenwort die Rückzahlung innerhalb dreier Tage zugesagt, mit Sicherheit glaubte er annehmen zu können, das Geld, das er fast stets innerhalb von achtundvierzig Stunden in Händen hatte, dann in seinem Beistz zu haben.

Stand es so schlecht um die Finanzen seines Vaters? Wie war es möglich, daß das große Kapital hatte zusammenschmelzen können, welche enormen Verluste mußte der Vater erlitten haben, daß sein Kredit anfing, zu erlöschen? So sehr erschreckte ihn die Nachricht, daß er an sich selbst, an seine eigene Lage gar nicht dachte, und doch mußte er seine Schuld tilgen, wenn er sein Wort nicht brechen, nicht ehrlos dastehen wollte. Mit entsetzlicher Deutlichkeit trat ihm dies erst allmählich vor die Augen.

„Atzel” war sein erster Gedanke, als Retter in der Not tauchte er vor ihm auf.

Aber mit Entrüstung, sich vor sich selbst schämend, wies er diesen Gedanken zurück.

Jeder andere sollte ihm helfen, nur Atzel nicht.

„Armer, armer Atzel,” sprach er zu sich, „das ist der Fluch, der auf dir und deinem Gelde ruht, daß jeder, der in Not ist, sofort an dich denkt. Man giebt sich kaum die Mühe, über einen anderen Ausweg nachzudenken, man betrachtet es als ganz selbstverständlich, daß nur du, nur du und kein anderer hilft. Nein, ich will dich nicht auch noch quälen, ich muß eine andere Hilfe finden.”

Er ließ sein Pferd satteln und eilte auf das in der Nähe gelegene Gut, um mit seinem Gläubiger zu sprechen und einen Aufschub der Frist zu erreichen. Aber seine Bemühungen waren vergebens, der Gutsbesitzer erklärte, selbst zur Zahlung einer größeren Summe verpflichtet zu sein, und so gerne er ein anderes Mal bereit sei, wieder gefällig zu sein, so sehr bedauere er, in diesem Falle nicht dienen zu können. „Uebrigens verstehe ich Ihre Angst gar nicht,” schloß er. „Sie sind doch mit Graf Atzel so befreundet, es kostet Ihnen doch nur ein Wort, um von diesem nicht nur diese, sondern auch jede andere Summe sofort zu erhalten.”

Atzel, Atzel, Atzel und immer wieder Atzel, das war das Wort, das dem Lord zugerufen wurde, wohin er sich auch in seiner Not und Verzweiflung wandte.

„Sie sind mehr als kindisch, Lord,” sagte der dicke Retzdorf, „wenn ich mich nicht geniere, Atzel um fünfzehntausend Mark zu kränken, die ich ihm nun übrigens nächstens wirklich wiedergeben will, so brauchen Sie sich wegen der paar lumpigen tausend Mark wirklich nicht zu grämen. Was Sie da sagen, daß Sie ihm einmal versprochen haben, ihn nie anzupumpen und ihm ihrerseits den Glauben an die Menschheit zurückgeben zu wollen, klingt ja sehr schön und macht Ihrem Herzen alle Ehre, aber unpraktisch war es, na, der Atzel ist ein zu verständiger Mensch, um es Ihnen auch nur eine Sekunde zu verdenken, wenn Sie zu ihm kommen. Wenn Sie sich übrigens genieren — was ich, wie gesagt, nicht begreife — will ich gerne für Sie zu ihm gehen, ich bin nicht so empfindlich.”

Aber der Lord lehnte dies Anerbieten dankend ab, Graf Atzel durfte überhaupt von der Notlage, in der er sich befand, gar nichts erfahren.

Und immer wieder Atzel — überall gab man ihm denselben Rat, man lachte ihn aus, daß er nicht von selbst auf diesen schlauen Gedanken gekommen war, man nahm die Situation, in der er sich befand, überhaupt nicht ernst.

Aber je mehr die anderen ihn auf Atzel hinwiesen, desto fester wurde in ihm selbst der Entschluß, sich unter keinen Umständen an ihn zu wenden.

Mit großen Schritten ging er, über Hilfe nachdenkend, in seinem Zimmer auf und ab: „Ich will es nicht und ich thue es nicht — heute nachmittag habe ich ja erst von neuem erfahren, daß sie ihm alle Geld schulden, alle, alle, alle — von dem jüngsten Sekond bis zu dem ältesten Premier fehlt auch nicht ein einziger. Doch einer fehlt, und das bin ich selbst! Soll nun auch ich in die Fußtapfen der anderen treten? Retzdorf mag recht haben, mein Schwur war vielleicht etwas poetisch, à la Schwur auf dem Rütli oder à la Freundschaftsbund zu Zeiten des seligen Werther. Aber auch ohne dem würde ich ihn nicht anborgen, es ist gegen meine Empfindung, ich kann nicht dagegen an, ich will es seinet- und meinetwegen nicht — ihm will ich die Freude gönnen, wenigstens einen Menschen gekannt zu haben, der nichts von ihm haben wollte, als nur seinen Verkehr, mir selbst aber will ich die Freude bereiten, dieser einzige gewesen zu sein. Und nachdem ich nunmehr zu diesem festen Entschluß gekommen bin, habe ich ja eigentlich nichts mehr auf dieser Welt zu thun. Es giebt keine Möglichkeit, das Geld aufzutreiben — ich belüge mich selbst, wenn ich es mir dennoch einrede — was soll's noch? Ob ich heute oder morgen gehe, ist gleichgültig, gehen muß ich, und wie unrecht, bis zum letzten Augenblick damit warten zu wollen, ich will meinem Vater schreiben und ihm ein Verzeichnis meiner Schulden senden, dann ist das Lebenswerk gethan.”

Der Lord setzte sich an seinen Schreibtisch und begann an seine Eltern zu schreiben. Aber kaum hatte er die ersten Zeilen beendet, als er draußen auf dem Korridor Atzels Stimme vernahm. „Ist der Herr Leutnant zu Hause? Ich muß ihn unbedingt sofort sprechen, melden Sie mich.”

Gleich darauf erschien der Bursche: „Herr Graf Atzel wünscht den Herrn Leutnant zu sprechen.”

„Bitten Sie den Herrn Grafen, einen Augenblick mich entschuldigen zu wollen, führen Sie ihn nach vorne in das Rauchzimmer — ich komme sofort.”

Der Bursche verschwand und der Lord hörte auf dem Korridor Atzels Schritte und gleich darauf das Oeffnen und Schließen der Thüren.

„Armer Atzel,” dachte der Lord, während seine Hand über das Papier hinflog, „ich möchte dir wohl den Schmerz ersparen, daß ich von dir gehe, ohne dich noch einmal zu sehen. Aber es darf nicht sein. Dein Kommen beweist mir, daß du von meiner Not gehört hast, du willst mir helfen, mir das Geld aufdrängen, und um dich nicht zu erzürnen, würdest du mich zwingen, die Summe von dir anzunehmen. Und ich will nicht und ich will nicht, und darum gehe ich, bevor ich dich gesehen, bevor deine Bitten meine Entschlüsse wankend gemacht haben. Ich könnte mich fortan selbst nicht mehr achten, wenn ich unterläge.”

Wenige Minuten später krachte ein Schuß, und als Graf Atzel entsetzt in das Wohnzimmer stürzte, fand er den Lord in seinem Schreibstuhl zusammengesunken — aus einer Wunde an der Schläfe rieselte noch das Blut hervor.

Erschüttert stand Atzel neben der Leiche: „Ruht denn ein Fluch auf mir, daß ich die beiden einzigen Menschen, die ich auf der Welt Freunde nannte, meines Geldes wegen verlor? Ich hätte mein Letztes gegeben, um gerade dich zu retten. Ach, es ist mehr als grausam, alles zu besitzen, was dazu gehört, um glücklich zu sein und dennoch niemals glücklich zu werden!”

Und traurig strich seine Hand über das stille Antlitz des Toten.


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