Militärhumoreske von Freiherr von Schlicht.
in: „Der Parademarsch”,
in: „Der Gefechtsesel” und
in: „Meine Kabarettgeschichten”
Der gefürchtete Tag war gekommen, wir Offiziere standen auf dem Kasernenhof in einer Gruppe, uns gegenseitig tröstend und Mut zusprechend. Da näherten sich uns die Feldwebel: „Herr Leutnant, die Rekruten sind auf die Kompagnien verteilt.” Noch einen kummervollen verständnisinnigen Blick warfen wir einander zu, dann ging jeder auf den Appelplatz der Kompagnie, wo die heute eingestellten Rekruten sich aufgebaut hatten. In gehöriger Entfernung, um den richtigen Überblick zu bekommen, blieb ich vor der Front stehen und musterte meine Heerscharen. Wenn man sechsmal Rekruten ausgebildet hat und nun die böse Sieben voll machen soll, hat man einen Blick für die Leute, man sieht sofort bis in ihr innerstes Herz, und wenn man bei dem linken Flügelmann angekommen ist, weiß man ganz genau, wes Geistes Kind die Mannschaften sind — oder man bildet es sich wenigstens ein.
Neben mir stand der Feldwebel, die unvermeidliche dicke Brieftasche geöffnet in der Linken, den Bleistift in der Rechten, bereit, jedes Vergehen seiner neuen Kinder sofort zu notieren und es ihnen gelegentlich einmal beizubringen, wie ein königlich preußischer Rekrut sich am Tage seiner Einstellung zu benehmen hat.
Es waren etwa sechzig Leute jeglichen Alters, jeglichen Standes und jeglicher Gesinnung, über die mein Auge bewundernd streifte.
„Wirklich nicht übel, Feldwebel,” bemerkte ich, als ich mit Wohlgefallen die meist geraden Beine betrachtete, „da wird sich schon etwas machen lassen! Sehen Sie sich mal den dritten Mann vom linken Flügel im ersten Gliede an, — der wird gut werden!”
Ich wies mit der Hand auf den von mir Bezeichneten. Er war ein mittelgroßer, tadellos gebauter Mensch, gerade Beine, gerade Hüften, schöne Brust und ein jugendliches Gesicht mit roten Wangen und großen blauen, treuen Augen.
„Das macht doch noch Freude, solche Rekruten zu bekommen,” fuhr ich in meiner Rede fort, „dem sieht man auch den zukünftigen Gefreiten auf der Stelle an.”
Aber der Feldwebel schüttelte sein ehrwürdiges, im Dienst ergrautes Haupt.
„Der? Wenn der Herr Leutnant sich nur nicht irren, in seinen Augen drückt sich etwas Furchtbares aus: Dummheit.”
„Aber, Feldwebel!”
Ich ging auf den Mann los, ich wollte beweisen, daß mein Seherblick mich nicht getäuscht hatte.
„Wie heißen Sie?”
„Schneekloth, Herr Leutnant.”
„Wo sind Sie her?”
„Aus Mecklenburg, Herr Leutnant.”
Das klang meinem Ohr nun schon weniger verlockend.
„Wo sind Sie geboren?”
„Das weiß ich nicht, Herr Leutnant.”
Erstaunt sah ich in die Höh, das war mir denn doch in meiner ganzen militärischen Laufbahn noch nicht vorgekommen, daß einer nicht wußte, wo er geboren war. Aber ich fand sofort einen Entschuldigungsgrund, man hört und liest ja soviel von ausgesetzten und geraubten Kindern, vielleicht traf etwas derartiges auch bei ihm zu.
„Schneekloth, wo sind Sie denn großgezogen?”
„In meiner Vaterstadt.”
„Wie heißt die denn?”
„Ja, Herr Leutnant, das kann ich im Augenblick wahrhaftig nicht sagen, das ist so'n ganz komischer Name,” lautete die mit mecklenburgischer Breite und Gemütlichkeit erteilte Antwort.
Ich sah meinen Feldwebel heimlich von der Seite an, ein triumphierendes Lächeln lag auf seinen Zügen, so hatte er sich doch nicht geirrt. Sofort abe rlegte sich sein Gesicht wieder in ernste Falten, und er fuhr den Armen an:
„Das ist aber doch geradezu unerhört! Kommt solch ein Kerl, der nicht mal seine Vaterstadt kennt, hierher und will Soldat werden. Was denken Sie sich eigentlich dabei? Wenn Sie nicht bis heute mittag den Namen Ihres Geburtsortes wissen, schreiben Sie ihn bis heute abend hundertmal auf, verstanden?”
Die Generalmusterung war beendet. Die Mannschaften wurden auf die Kammer geführt, um eingekleidet zu werden, und ich ging in das Kasino, um bei einer Flasche Sekt mir Mut zu trinken für die schweren, bevorstehenden Tage. Als ich den Saal betrat, waren wir zwölf Rekrutenoffiziere vollzählig und die Wogen der Unterhaltung gingen hoch. Jeder renommierte mit dem Wunderkind, das er entdeckt hatte. Der eine hatte unter seinen Rekruten einen „berühmten Akrobaten vom Cirkus Renz”, ein anderer „eine ganz neue Spezialität auf dem Gebiete der Kopfequilibristik”, ein dritter hatte einen „Meermann”, das allerneueste statt der abgethanen „Meerweiber”, der eine hatte diese Berühmtheit, der andere jene.
„Und was haben Sie denn Großartiges?” fragten mich endlich die Kameraden, da ich auf alles, was sie als Wunder darstellten, nur mit Ben Akibas bekanntem Ausspruch geantwortet hatte, „wodurch zeichnet sich denn Ihr Jüngling aus?”
„Er ist so dumm, daß er nicht einmal weiß, wo er geboren ist.”
Sofort erhob sich ein Sturm der Entrüstung: „Sie lügen.” „Das ist nicht wahr.” „Das ist ja gar nicht denkbar.” „Solche Menschen giebt es ja gar nicht.” So ging es im bunten Gerede durcheinander.
„Ich erhob meine Hände zum Himmel: „Ich schwöre.”
Aber selbst da glaubte man mir nicht.
Ungefähr vierzehn Tage waren vergangen. Ich war abkommandiert gewesen und hatte mich um meine Rekruten nicht kümmern können, da sah ich an dem Morgen, an dem ich zum erstenmal wieder bei meiner Kompagnie Dienst that, Schneekloth lachend und grinsend im Gliede stehen. Lachen im Dienst wird bekanntlich wenigstens mit dem Tode bestraft und sofort fuhr ich den Sünder an:
„Schneekloth, worüber lachen Sie?”
„Mir ist heute nacht etwas eingefallen.”
„Was denn?”
„Wo ich geboren bin.”
Mein Zorn war verraucht und ich fragte: „Nun und wo sind Sie denn geboren?”
Da sah er mich an mit seinen großen, treuen blauen Augen und sagte freudestrahlend: „Ja, Herr Leutnant, nu hab ich es all wieder vergessen.”
Diese Erzählung taucht auch in der Sammlung „Meine Kabarettgeschichten” auf; da sie aber zum Vortrag auf der Bühne gedacht war, hat Schlicht sie leicht verändert, hauptsächlich etwas gekürzt:
Vor vielen Jahren, als ich noch königlich preußischer Leutnant war und keine Ahnung davon hatte, daß ich auf dem Umweg von Wolzogens Überbrettl, bei dem ich oft zu Gaste war, jemals wieder auf das Brettl gelangen würde, habe ich viele, viele Rekruten ausgebildet, darunter auch einen, der den Ehrgeiz besaß, von allen Dummen, die ich jemals hatte, der Allerdümmste sein zu wollen. Und da er sich in der Hinsicht die redlichste Mühe gab, gelang ihm das auch.
Eines Morgens, als der brave Musketier, den ich, damit er überhaupt einen Namen hat, mal Schneekloth nennen will, sich wieder wahnsinnig dumm angestellt hatte, sagte ich zu ihm: „Schneekloth, Menschenskind, nun sage mir mal, wenn du mit Gottes Hilfe hoffentlich bald gestorben, aber nicht wieder auferstanden bist, wo wird man da dir und deiner Dummheit das Denkmal errichten? Wo bist du denn geboren?”
„Das weiß ich nicht, Herr Leutnant,” gab er zur Antwort.
„Aber Mann,” rief ich ihm zu, „überlege dir doch, was du sagst, rede keine Konsonanten ohne Vokabeln, du wirst doch wohl wissen, wo du geboren bist?”
Da gab er mir zur Antwort: „Nein, Herr Leutnant, der Ort hat einen solchen komischen Namen, den kann ich nicht behalten.”
„Na, denn nicht,” sagte ich, „mir ist es einerlei.”
Die Zeit verging, und als ich eines Morgens wieder zum Dienst kam, stand Schneekloth im Gliede und grinste, und jeder, der nur einmal auf dem Kasernenhof gestanden hat, der weiß, daß Grinsen im Gliede früher mit sofortiger Todesstrafe belegt wurde. Grinsen durfte man nur dann, wenn der Vorgesetzte einen Witz gemacht hatte — aber entweder machte der keinen, oder wenn er einen gemacht hatte, konnte man nicht grinsen.
Eigentlich hätte ich Schneekloth gleich totschießen müssen, das tat ich aber nicht, sondern fragte ihn nur: „Schneekloth, du krummgebogene Mondsichel, worüber grinst du denn so?”
Worauf er mir freudestrahlend zu Antwort gab: „Herr Leutnant, mir ist heute nacht eingefallen, wo ich geboren bin.”
„Na, lange genug hat das ja auch gedauert,” meinte ich, „nun aber heraus mit dem großen Geheimnis, nun verrate es mal, wo bist du denn geboren?”
Da sah er mich mit seinen großen, ehrlichen blauen Augen an und sagte freudestrahlend: „Ja, Herr Leutnant, nu hab ich es all wieder vergessen.”