Im Druck.

Humoreske von Freiherrn von Schlicht.
in: „Hamburger Fremdenblatt” vom 12.Dez. 1907,
in: „Sie will nicht heiraten” und
in: „Deutscher Humor”.


Es war für die Zivilbevölkerung, vor allen Dingen aber natürlich für die in der Garnison untergebrachten Truppen sehr ehrenhaft und es bildete für sie eine große Auszeichnung, daß auch der Herr Divisions­kommandeur in derselben Stadt seinen Sitz hatte, aber daß diese Sache außer ihren vielen Vorzügen, von denen zwar immer gesprochen wurde, die aber trotzdem noch kein Mensch gesehen hatte, auch ihre großen Nachteile hatte, bewies heute wieder einmal auf das deutlichste der Alarm, mit dem Exzellenz die ihm unterstellte Soldateska mobil machte.

Die Zivilisten schalten, daß sie so früh geweckt wurden, dann aber hatten sie wenigstens die stille Genugtuung, sich die Decke wieder bis an die Nasenspitze hinaufzuziehen und nach bekannter Melodie das schöne Lied singen zu können: „Ans Aufstehen, ans Aufstehen, ans Aufstehen denk' ich nicht.” Für die Zivilisten war der Ton des Signalhorns weiter nichts als ein unangenehmes Geräusch, für das Militär aber war es der strenge Befehl, sofort mit beiden Beinen aus dem Bett heraus- und in die Beinkleider hineinzufahren.

Es gibt wenig Fahrten, bei denen der Soldat so flucht, wie bei der Fahrt in die Hosen, denn er weiß ganz genau, daß ihm in diesen Hosen mancherlei bevorsteht, was er lieber nicht erleben möchte.

Seine Exzellenz hatte alarmiert. Bevor er das aber tat, hatte er nach englischer Manier sehr gut und reichlich gefrühstückt, sich eine gute Zigarre angezündet und ritt nun in behaglichster Stimmung zu dem Rendezvousplatz, auf dem er die Truppen erwartete.

Der erste, der dort auf schnaubendem Roß, gefolgt von seinem Adjutanten, erschien, war der Herr General, der Kommandeur der in der Stadt liegenden Infanterie–Brigade. Sein schnelles Kommen entlockte der Exzellenz ein lautes Bravo der Anerkennung, aber das täuschte den Herrn General doch nicht darüber hinweg, daß er derjenige war, dem zu Ehren alle so früh hatten aufstehen müssen. Exzellenz würde ihm sicher einen Auftrag geben, um ihm bei dieser Gelegenheit einmal auf den Zahn zu fühlen. Es war zwar nicht das erste Mal, daß Exzellenz das tat, aber gerade deshalb fing der Zahn allmählich an zu wackeln, denn nichts steht oder sitzt so fest, daß es durch ein beständiges Befühlen, Rütteln und Schütteln nicht allmählich in seinen Grundfesten erschüttert wird.

Der Herr General war nicht übertrieben glücklich, dazu kam, daß er auch noch nicht gefrühstückt hatte. Zwar war seine Gemahlin bei dem Alarmsignal mit aus dem Bett gesprungen und hatte sofort die Köchin alarmiert, um ihrem Otto wenigstens eine Tasse Kaffee und ein Brötchen mit auf den Weg zu geben, aber als der Kaffee fertig war, war er so heiß, daß man ihn nicht trinken, und das Brot von gestern war so alt, daß man es nicht beißen konnte. Nur mit einem Kuß auf die Stirn der treuen Ehehälfte hatte er sich für die bevorstehende Prüfung gestärkt, nun saß er auf seinem Gaul und wartete der Truppen, die da kommen sollten.

Auch das schnelle Eintreffen der Infanterie dand den Beifall Seiner Exzellenz: „Meine Anerkennung, Herr General.”

Der war nicht direkt(1) ganz unschuldig daran, daß die Unteroffiziere in den Kasernen mit einem unheiligen Himmel­kreuz­donnerwetter die Kerls „in Schwung” gebracht hatten, aber indirekt war es doch „sein Geist”, der in den Soldaten steckte, seinem Einfluß und seiner Erziehung war es zu verdanken, daß die Leute jetzt schon da waren. So legte er denn, für das ihm gespendete Lob dankend, die Hand an den Helm und erntete ein weiteres Lob, als Exzellenz die Front abritt und sich davon überzeugte, daß die Mannschaften gut angezogen waren, obgleich die Toilette doch Hals über Kopf gegangen war.

Der Herr General erntete die vollste Anerkennung, aber anstatt sich darüber zu freuen, bekam er es mit der Angst, und mit halblauter Stimme wandte er sich an seinen Adjutanten:

„Bei diesem Lob wird mir angst und bange. Wenn es heute nur gut geht.”

Der Hauptmann und Brigade-Adjutant lebte mit seinem Vorgesetzten in der glücklichsten Ehe, er wünschte ihm von Herzen alles Gute, und so sagte er denn: „Nur Mut, Herr General. Und wenn alle Stricke reißen, dann bin ich ja auch noch da.”

Das klang zwar etwas frech, aber der General wußte, das war nicht so gemeint und aus der Zeit, da er selbst einmal Adjutant gewesen war, wußte er aus eigener Erfahrung, daß es in der ganzen Armee keinen Adjutanten gibt, der nicht fest davon überzeugt ist(2), tausendmal klüger zu sein, als der Vorgesetzte es zu sein glaubt.

Wenig später rief der(3) Exzellenz die Offiziere zusammen: „Meine Herren, wir nehmen an, daß wir uns in der Kriegslage befinden. Ich habe heute nacht von dem Oberkommando ein Telegramm erhalten (natürlich angenommen), daß die Südpartei, die von der anderen Brigade meiner Division gebildet ist, plötzlich den Vormarsch angetreten hat, um die Eisenbahnbrücke bei Adorf zu zerstören. Es gilt für uns, dem Feind unbedingt, verstehen Sie, meine Herren, un—be—dingt zuvorzukommen, die Brücke in unseren Besitz zu nehmen und sie so lange gegen den Feind zu halten, bis die zur Unterstützung heranrückenden Truppen eingetroffen sein werden. Die Gefechtslage und die Situation ist so einfach wie nur möglich. Ihre Aufgabe, Herr General, wird es nun sein, sie zu lösen. Bitte.”

So töricht der General nach der Ansicht seiner Untergebenen und nach der seiner Vorgesetzten auch sein mochte, so schlau war er denn doch, um zu wissen, daß die einfachsten Aufgaben oft die schwierigsten sind, und er sah es voraus, daß ihm hier zwar(4) keine Falle gelegt, wohl aber eine Brücke gebaut war, über die er schwer hinwegkommen würde.

„Bitte,” sagte Exzellenz noch einmal, „bitte, Herr General.”

Der fuhr aus seinen Gedanken empor, das Grübeln half nichts, die Brücke mußte genommen werden, also los.

Mit klarer Stimme erteilte er den Befehl, und gleich darauf setzten sich die Truppen in Marsch. Allen voran ein Radfahrer–Detachement, das die Kavallerie ersetzte und Meldungen darüber einzuholen hatte, ob und wo von der anderen heran­marschierenden Brigade etwas zu sehen wäre. Das Tempo wurde beschleunigt, erst mußte man die Brücke haben, dann konnten die Leute sich ausruhen.

Sehr bald kamen die ersten Meldungen und der General hörte sie mit großer Genugtuung. Bis jetzt war vom Feinde nichts zu sehen, die Straße über Adorf hinaus war noch ganz frei von Truppen.

Aber die zuversichtliche Stimmung, als erster an die Brücke zu kommen, schwand für den General mehr und mehr dahin, je zahlreicher die Meldungen nach und nach eintrafen. Der Gegner war im Eilmarsch unterwegs, er war nur noch reichlich eine Stunde von der Brücke entfernt, und man selbst hatte beinahe noch anderthalb Stunden zu marschieren.

Der General sah ein, daß er zu spät kommen würde und er schalt nicht schlecht: „Exzellenz weiß natürlich ganz genau, daß ich nicht als erster eintreffen kann, er hat die Abmarschziten so geregelt, daß der Feind mir zuvorkommen muß. Und dann sagt er noch, wir sollten unbedingt vor dem Gegner da sein. Es ist ganz zwecklos, daß wir die Leute hier so anstrengen, na kommen Sie, wir wollen einmal nach vorn reiten und uns in der Welt umsehen.”

Im Galopp ritt er mit seinem Adjutanten nach vorn, dort hielt Exzellenz mit seinem Stabe.

„Nun, Herr General,” fragte der, „werden Sie noch zur Zeit kommen?”

Der war lange genug Soldat, um zu wissen, daß man immer das Gegenteil von dem sagen muß, was man meint, so sagte er denn: „Selbstverständlich, Euer Exzellenz.”

Die Vorgesetzten lieben es, wenn die Untergebenen selbstbewußt sind — zu selbstbewußt dürfen sie aber auch nicht sein, denn schließlich sind sie doch die Untergebenen.

Das Wort „selbstverständlich” verstimmte Exzellenz etwas: „Selbstverständlich ist im Gefecht nie etwas, Herr General, es kommt häufig ganz anders als man denkt, immerhin will ich Ihnen wünschen, daß Sie recht behalten.”

Aber der Herr General behielt nicht recht.

Plötzlich tauchte die Spitze der feindlichen Infanterie auf, und als die Truppe des Generals noch eine kleine halbe Stunde entfernt war, hatte der Gegener die Brücke schon in Besitz genommen.

Der General machte ein langes Gesicht und der Adjutant machte ein noch längeres.

„Was machen wir nun?” fragte der General, aber der Adjutant schwieg, auch seine Weisheit war hier zu Ende.

Da erschien von neuem Exzellenz und er strahlte vor Vergnügen, daß alles so gekommen war, wie er es gewollt hatte. Der Gegner war zwei Stunden früher abmarschiert, folglich hatte der auch zuerst eintreffen müssen.

Und seine Freude wurde noch erhöht, als er das lange Gesicht des Generals sah: „Na, Herr General, was sagen Sie jetzt?” Und lachend setzte(5) er hinzu: „Wissen Sie, wo Sie jetzt sind?”

Dem war gar nicht zum Scherzen zu Mute, trotzdem ging er auf den heiteren Ton des Vorgesetzten ein: „Ich bin jetzt im Druck, Exzellnz.”

Das war die Antwort, die Exzellenz erwartet hatte, es war auch die einzig richtige, die der General geben konnte, denn „im Druck” befindet sich der Soldat, ganz einerlei, welcher Charge er angehört, stets, wenn das Schwert des Damokles über seinem Haupte schwebt, wenn er sich der Unmöglichkeit gegenüber sieht, einen ihm gewordenen Auftrag auszuführen, und wenn er nicht so kann, wie er soll und wie er wohl möchte. Wenn aber jemand „im Druck” ist, dann ist es seine verdammte Pflicht und Schuldigkeit, aus diesem Druck herauszukommen — wie er das anfängt, ist seine Sache. Leichte Aufgaben lösen kann jeder, erst bei den schwierigen zeigen sich die Fähigkeiten, bei den anscheinend ganz Unmöglichen zeigt sich das Genie.

Und hier handelte es sich um etwas Unmögliches, wie sollte der General es nun, da der andere schon da war, es noch anfangen, als erster zu kommen?

Darauf hatte der General trotz allen Nachdenkens keine Antwort, und Exzellenz wußte auch keine, schon deshalb nicht, weil er gar nicht darüber nachdachte. Das war ja auch nicht seine Aufgabe, sondern die des Generals, war der im Druck, so mußte er auch selbst sehen, wie er wieder herauskam. Die Aufgabe Seiner Exzellenz war es dann nur, zu entscheiden, ob die Anordnungen, die der General traf, richtig oder falsch waren, da der aber gar keine traf, brauchte er selbst darüber kein Urteil zu fällen.

Exzellenz sah ein, leicht war es für den zu spät gekommenen General nicht, hinterher noch zu früh zu kommen, so drückte er sich bei der Kritik sehr diplomatisch aus:

Meine Herren, ich will gern zugeben, daß der Herr General sich in einer sehr schwierigen Lage befand, und ich muß Ihnen offen gestehen, daß ich im Augenblick selbst nicht weiß, was ich an Stelle des Generals getan hätte, ich weiß es schon deshalb nicht, weil ich mich selbst nicht in der Lage befand und für den Außenstehenden ist es natürlich noch viel schwieriger, einen Ausweg zu finden, als für den, der sich mitten im Druck befindet. So viel aber weiß ich, wenn ich mich in der Situation befunden hätte, ich hätte einen Ausweg gefunden, darauf können Sie sich verlassen, und wenn der Herr General eben keinen fand, so ist mir das kein Beweis dafür , daß sich kein Ausweg finden ließ, sondern nur ein Beweis dafür, daß der General keinen fand. Was aber zu finden ist, muß gefunden werden und deshalb kann ich dem Herrn General, so sehr ich das Schwierige seiner Lage auch anerkenne, den Vorwurf nicht ersparen, untätig im Druck verharrt zu haben, anstatt sich durch einen glücklichen Gedanken aus dem Druck zu befreien. Wobei ich allerdings nicht verhehlen will, daß der Druck drückt, in erster Linie natürlich auf den Geist und auf unsere Gedanken. Die aber müssen unter allen Umständen frisch und frei bleiben, denn wie sollen wir klar und scharf denken und die schwierigsten Fälle ruhig und kalt beurteilen, wenn wir uns im Druck wirklich niederdrücken lassen? Da müssen wir erst recht zeigen, was wir können, wir müssen uns gegen den Druck anstemmen und ihn von uns drücken, dürfen uns aber nie und nimmer von dem Druck drücken lassen. Das ist die Lehre, die wir alle aus der sehr interesanten Uebung ziehen wollen.”

Exzellenz schwieg, er hatte seine geistreiche Kritik beendigt und sich so klar und deutlich ausgesprochen, daß jeder ihn hatte verstehen müssen. Und er war felsenfest davon überzeugt, daß seine Belehrung nicht nur auf alle den tiefsten Eindruck gemacht hatte, sondern er besaß vor allen Dingen die freudige Gewißheit, daß auf Grund seiner eingehenden Instruktionen der General in Zukunft ganz sicher einen Ausweg finden würde, wenn er sich einmal wieder in derselben Lage befinden sollte. Daß es aber auch dann einen Ausweg gab, wenn es nach der Ansicht des Herrn Generals keinen gäbe, das würde der, wenn auch nicht als General, so ganz bestimmt dann einsehen, sobald er es zur Exzellenz gebracht hätte, denn mit dem Amt kommt ja auch der Verstand. Die große Frage war nur die, ob der Herr General jemals Exzellenz würde. Exzellenz glaubte es nicht und trotzdem der General nur ein General war, war er dennoch so klug, über diesen Fall schon wie eine Exzellenz zu denken — er glaubte es auch nicht.


Fußnoten:

(1) In den beiden Buchfassungen heißt es hier einmal: „Der war zwar direkt ganz unschuldig” und dann: „Der war direkt ganz unschuldig”. (zurück)

(2) In „Deutscher Humor” heißt es: „überzeugt sei”. (zurück)

(3) In „Sie will nicht heiraten” heißt es: „rief Exzellenz”. (zurück)

(4) In „Deutscher Humor” heißt es: „zwar hier”. (zurück)

(5) In „Deutscher Humor” heißt es: „fügte er hinzu”. (zurück)


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