Von Freiherr von Schlicht
in: „Unverstandene Frauen”
Frau Dodo — auf den Namen Dorothea getauft, aber schon im Elternhaus und auch in der Schule nie anders als Dodo genannt, sitzt in ihrem mit behaglicher Wohlhabenheit eingerichteten Wohnzimmer und erwartet ihren Mann, mit dem sie schon fünf Jahre verheiratet ist. Gestern sind es genau fünf Jahre gewesen. Mit einem hübschen kleinen Diner, zu dem sie nur die intimsten Freunde einluden, haben sie den Tag gefeiert. Das heißt, gefeiert hat ihn eigentlich nur Max, denn sie hat es ja den ganzen Tag vorausgesehen, wie der Abend für sie enden würde. Und es ist noch schlimmer gekommen, als sie dachte. Max hat sie fast die ganze Nacht hindurch nicht schlafen lassen, denn auch ohne daß er dem Wein fleißig zugesprochen hätte, war er ja berauscht von heißester Sinnenlust.
Und dabei sind sie doch schon fünf Jahre miteinander verheiratet und doch ist er noch genau so verliebt in sie, wie an dem ersten Tag. Ja, es kommt ihr sogar vor, als wüchse seine Liebe zu ihr immer mehr und mehr. Vielleicht lag das mit daran, daß sie schöner geworden ist, seitdem sie verheiratet ist, wie das ja vielen Frauen so geht. Ihr hübsches, feingeschnittenes Gesicht mit den dunkelschwarzen Augen hat einen ruhigeren Ausdruck angenommen und ihre Formen haben sich mehr entwickelt, ohne daß sie dabei irgendwie stark geworden wäre. Sie hat eine etwas mittelgroße Figur, sie ist tadellos gewachsen und gebaut, sie hat eine stolze, freie Haltung und stolz und frei trägt sie auch den Kopf mit den dichten weichen tiefschwarzen Haaren, wie eine Frau, die sich ihrer Person und des Wertes ihrer Erscheinung bewußt ist. Aber sie ist dabei absolut nicht stolz auf ihr Äußeres, absolut nicht, ja, manchmal wünscht sie sich sogar, weniger hübsch und verführerisch zu sein, etwas weniger dieser Dudu zu gleichen, von der Wieland in seinem Oberon singt: „Was sag' ich zu dem Lob der Dudu bloß? Die Dudu schien so recht gemacht, ins Bett gebracht zu werden.”
Wie unzählige Male hat Max ihr nicht diese Worte schon ins Ohr geflüstert, wenn sie auf seinem Schoß sitzt oder wenn er seine Arme um sie schlingt, um sie in das gemeinsame Schlafzimmer zu führen. Was hat es geholfen, daß sie ihn schon tausendmal bat, ihr nicht so etwas zu sagen. Er ist ja so wahnsinnig verliebt in sie.
Aber er liebt sie nicht nur mit dem Herzen, sondern auch mit den Sinnen, denn das eine ohne das andere ist für ihn ganz undenkbar.
Sie hat dem bisher noch nie zu widersprechen gewagt, weil sie fürchtete, ihn zu betrüben, aus Furcht, ihn jäh aus all seinen Himmeln herunterzustürzen. Sie hat noch nie den Mut gefunden, ihm zu widersprechen, so oft sie es sich auch schon vornahm.
Und er ist ja auch so rührend gut mit ihr, er verzieht sie, wo er nur immer kann, arbeitet unermüdlich, um ihr das Leben möglichst sorglos zu gestalten und um ihre Zukunft für den Fall zu sichern, daß er einmal nicht mehr ist. Er besitzt ein kleines Vermögen, dessen Zinsen alleine ausreichen würden, um sie später vor Not zu schützen, aber er hat sich außerdem noch für sie mit einer hohen Summe bei einer Lebensversicherung eingekauft. Sein Einkommen erlaubt es ihm, die jährliche hohe Prämie zu zahlen, denn obgleich er erst achtundzwanzig Jahre alt ist, bekleidet er auf Grund seiner großen Fähigkeiten bei dem weltbekannten Bankhaus eine ausgezeichnet dotierte Stellung. Er hat eine überraschend schnelle Karriere gemacht und er wird es noch viel weiter bringen. Nur ihretwegen freut er sich darüber, nur um sie dann noch mehr verziehen zu können, denn auf der ganzen Welt gibt es für ihn nur eine Frau, seine Dodo. Selbst als sie vor zwei Jahren in Monte Carlo(1) zusammen waren, hat er für all die verführerisch schönen Kokotten, denen sie dort begegneten, und für all die anderen schönen Frauen, die sie dort sahen, keinen einzigen Blick gehabt. Und wenn sie ihn dann selbst auf die eine oder andere Erscheinung aufmerksam machte, hatte er immer nur die eine Antwort: „So schön wie du ist doch keine andere.”
Er liebt nur sie, er ist ihr treu und überschüttet sie immer aufs neue mit Beweisen seiner Liebe. Gewiß, sie hat alle Ursache, grenzenlos glücklich zu sein und eine andere Frau wie sie würde es an ihrer Stelle auch sicher sein. Gewiß, auch sie ist ja glücklich, sie hat ihren Max von ganzem Herzen lieb, aber trotzdem, sie hat fortwährend die Empfindung, als wäre sie noch viel glücklicher, als würde sie ihn noch viel mehr lieben, wenn nur das eine nicht wäre und wenn er nicht gerade das fortwährend von ihr verlangte. So rücksichtsvoll und so voller Aufmerksamkeiten er auch sonst immer gegen sie ist, dann kennt er kein Erbarmen und kein Mitleid, dann denkt er nur an sich, und so oft sie ihm auch schon andeutete, daß sie nicht ganz dasselbe empfindet, wie er, er antwortet darauf stets nur mit einem frohen Lachen, weil er glaubt, daß ihre frauenhafte Scheu ihr verbietet, es ihm einzugestehen, daß auch sie in seinen Armen das höchste Glück genießt.
Wenn nur das eine nicht wäre! Sie findet es gesitteter und gebildeter Menschen so unwürdig, diesen Naturtrieb zu befriedigen und zu stillen, ja zuweilen packt sie sogar der Ekel und mit Gewalt hat sie oft an sich halten müssen, um es ihm nicht zu verraten, wie sie in Wahrheit bei seinen Umarmungen leidet.
Aber heute will sie es ihm sagen, das hat sie sich heute nacht geschworen, und so glücklich sie ja auch darüber ist, daß er sie liebt — du großer Gott, sie haben sich doch nicht nur deswegen geheiratet? Als wäre er ein Tier, so hat er sich auf sie gestürzt und sie mit seinen starken Armen umklammert, daß ihr fast der Atem verging.
Nein, heute will sie endlich einmal mit ihm darüber sprechen, und schon, damit sie ihrem Vorsatz auch wirklich treu bleibt und diese Aussprache nicht doch wieder verschiebt, wünscht sie, daß Max bald zurückkommen möge. Eigentlich wollte sie ihm schon heute mittag alles sagen, dann aber hat sie es doch wieder auf die Abendstunde verschoben. Wenn sie gegessen haben und dann in Ruhe zusammensitzen, wenn er seine Zigaare raucht und dazu sein Glas Rotwein trinkt, dann will sie mit ihm sprechen.
Endlich kommt er zurück und küßt sie stürmisch . Dann bittet er: „Sei nicht böse, Dodo, daß ich habe auf mich warten lassen. Es gab viel zu tun und denke dir nur, die Direktoren haben mich in einer wichtigen Angelegenheit um Rat gefragt. Nein, nicht gerade um meinen Rat, dazu bin ich ja noch zu jung, aber sie wollten meine Meinung hören, sie wollten wissen, wie ich über ein neues Unternehmen, das sie planen, denke. Und sie haben erklärt, ich hätte schon oft bewiesen, daß ich einen guten Blick dafür hätte, ob eine Sache erfolgreich sein würde oder nicht. Du kannst dir denken, Dodo, wie ich mich darüber freute. Es ist das erstemal, daß ein Herr meines Alters und meiner Stellung von den Direktoren um seine Ansicht gefragt wurde, das ist eine große Auszeichnung, die mir die Gewähr dafür gibt, daß ich schon bald auf einen höheren Posten heraufrücken werde.”
Sein hübsches männliches Gesicht mit den braunen Augen und dem dichten dunkelblonden Schnurrbart strahlt vor Freude und seine hohe, kräftige, sehnige und muskulöse Gestalt streckt und dehnt sich, als er nun die Arme ausbreitet, um in seinem Glücksgefühl die ganze Welt zu umarmen, seine Dodo, die für ihn die ganze Welt bedeutet.
Gleich darauf sitzen sie beim Abendessen zusammen. Er läßt sich das Essen gut schmecken, er hat fleißig gearbeitet und sein Körper verlangt nach Nahrung. Auch Dodo war vorhin hungrig, als sie auf ihn wartete, aber nun genießt sie doch nur wenig von den Speisen, denn sie ist verwirrt und zerstört. Soll sie es ihm nun wirklich heute abend sagen, gerade heute, wo ihm solche Auszeichnung zuteil wurde, wo er so froh und glücklich nach Hause kam? Das findet sie gerade heute doppelt grausam, bis sie sich dann doch sagt: „Es bleibt dabei, ich sage es ihm heute, gerade heute, denn da weiß er ja selbst am besten, daß es doch noch andere, reinere und höhere Freuden auf der Welt gibt, als nur das und immer nur das.”
Endlich bemerkt er, daß sie nicht so lustig und lebhaft ist, wie sonst, und so sieht er sie denn plötzlich ganz besorgt an: „Fehlt dir etwas, kleine Dodo, ist dir nicht wohl?”
„Doch,” gibt sie zur Antwort, „ich bin nur ein klein wenig abgespannt. Es war gestern abend auch etwas zuviel für mich. erst die Gesellschaft und dann hinterher — ich glaube, ich habe heute nacht keine Stunde geschlafen.”
Er lachte glücklich auf: „Ich auch nicht, kleine Dodo, aber mich ermüden diese Liebesnächte auch nicht, im Gegenteil, sie erfrischen und verjüngen mich. Bei euch Frauen ist das ja aber etwas anderes, schon deshalb, weil ihr bei diesen Umarmungen ein noch viel größeres Glück genießt, als wir Männer.”
„Darin sind die weiblichen Naturen doch wohl sehr verschieden,” wirft sie ein, froh darüber, daß das Gespräch schon jetzt eine solche Wendung genommen hat.
„Glaubst du wirklich, Dodo?” fragt er ganz verwundert.
„Ich weiß es sogar, Max,” antwortet sie fest und bestimmt.
Wieder lacht er hell und froh auf: „Aber hoffentlich weißt du das nicht von dir selbst, kleine Dodo.” Und ohne ihre Antwort abzuwarten, ergreift er ihre Hand, und sie mit einem heißen leidenschaftlichen Blick ansehend, fragte er: „Kannst du dir etwas Schöneres denken, Dodo, als einander in den Armen zu halten?”
Nun bringt sie es doch nicht über das Herz, ihm mit einem kurzen „Ja” zu antworten, ihm mit einem Schlage alle Illusionen zu rauben, und so meint sie denn ausweichend: „Du weißt es doch, Max, wie ich über solche Gespräche denke, ich habe dich schon so oft darum gebeten, am Tage nicht von dem zu sprechen, was die Nächte bringen. Solche Gespräche gehören höchstens in das Schlafzimmer, wenn sie denn überhaupt geführt werden müssen.”
Er küßte ihre Hand: „Sei nicht böse, Dodo, ich kann doch nichts dafür, daß ich dich so lieb habe, daß du mein ganzes Denken und Empfinden ausmachst, sobald ich deine Nähe nur spüre.”
Ein leises Zittern überfällt sie: Wie soll sie ihm nur alles sagen, was er erfahren muß, und wie wird er es aufnehmen?
Nur ein wahres Glück, daß ein Brief gebracht wird und daß das Gespräch dadurch eine andere Wendung nimmt.
Bald darauf gehen sie in sein Herrenzimmer hinüber. Wie allabendlich, wenn sie alleine zu Hause sind, setzt er sich in seinen großen bequemen Klubsessel, während sie an seiner Seite auf einem runden Ecksofa sitzt. Sie plaudern über dies und jenes, über den Verlauf des gestrigen kleinen Diners, über die Freunde des Hauses, über die Neuigkeiten, die er in der Stadt hörte, über die letzten eingegangenen Depeschen, bis er dann plötzlich sagt: „So, Dodo, nun sind wir aber wirklich lange genug vernünftig gewesen, nun komme her, setze dich auf meinen Schoß und gib mir einen Kuß.”
Aber anstatt wie sonst gleich aufzustehen und zu ihm zu kommen, bleibt sie ruhig sitzen: „Aber Max, ich kann doch nicht jeden Abend auf deinem Schoß sitzen, als wären wir erst ein paar Wochen verheiratet. Wir sind doch schon ein ganz altes Ehepaar.”
Er lacht hellauf: „Findest du, Dodo?” fragt er gleich darauf übermütig. „Und fühlst du dich wirklich schon als alte Frau, du mit deinen fünfundzwanzig Jahren? Ich bilde mir jedenfalls ein, noch ein ganz junger Ehemann zu sein, mir ist, als hätte ich dich erst gestern geheiratet. Also nun komm schon, Dodo, und laß mich nicht länger warten, ich habe dich ohnehin schon heute genug entbehren müssen.”
Aber auch jetzt verläßt sie ihren Platz nicht: „Nein, Max, laß mich nur, wo ich bin. Ich habe dir vorhin schon gesagt, ich bin heute etwas müde und angegriffen.”
„Deshalb wirst du dich doch wohl auf meinen Schoß setzen und mich küssen können?” fragt er ganz verwundert.
Aber sie widerspricht: „Ich kenne das, Max, damit fängt es an, und wie es endet, wissen wir ja beide.”
„Und ist das Ende denn so schrecklich, daß du dich davor fürchtest oder dem wenigstens wie jetzt aus dem Wege gehst?”
Nun ist der große Augenblick da, nun muß sie es ihm sagen, wenn sie es überhaupt sagen will, und sie weiß, wenn sie auch heute, wenn sie auch jetzt nicht den Mut findet, ihm alles zu gestehen, dann sagt sie es ihm nie. Einen Moment zögert sie noch, dann aber nimmt sie ihren ganzen Mut zusammen, und mit fester und energischer Stimme gibt sie zur Antwort: „Ja, Max, wenn du mich offen danach fragst, will ich es dir auch ebenso offen sagen, ja, Max, dieses Ende ist gräßlich, wenigstens für mich.”
Einen Augenblick sieht er sie ganz verdutzt an, aber dann bricht er in ein schallendes Gelächter aus. Er lacht, daß ihm die Tränen in die Augen steigen, und es dauert lange, bis er sich endlich wieder beruhigt hat. Dann aber springt er auf: „Dodo, das ist der beste Witz, den du bisher in unerer Ehe gemacht hast.” Aber als er sie dann umarmen und küssen will, wehrt sie ihm ab und sagt mit klarer Stimme: „Du irrst dich, Max, es ist kein Witz, was ich sagte, es ist die Wahrheit, die ich dir schon lange eingestehen wollte und zu der ich bisher nur noch nicht den Mut fand.”
Er hört es aus ihren Worten heraus, er liest es deutlich in ihren Augen: Sie hat wirklich die Wahrheit gesprochen.
Und diese Wahrheit trifft ihn so, daß er sich schwer mit beiden Händen auf einen Tisch stützen muß, um nicht zu taumeln. Er fühlt, wie ihm jeder Blutstropfen aus dem Gesicht weicht, und auch ohne daß er sich selbst sieht, weiß er, daß er plötzlich totenblaß geworden ist. Er fühlt es, wie schwer und tief ihm die Augen in den Höhlen liegen.
Eine ganze Weile blickt er sie starr und schwiegend an, dann fragt er endlich mit müder, matter Stimme: „Und wenn du mir das bisher verschwiegen hast, warum sagst du mir es gerade heute?”
„Weil du mich heute nacht mit deinen Liebkosungen beinahe getötet hast,” entgegnet sie. „So hast du mich noch nie umarmt, ich weiß nicht, was gestern in dich hineingefahren ist.”
„Das Glück,” gibt er zur Antwort, „das Glück, dich mein eigen zu nennen.”
Das klingt so froh und doch so traurig, daß es ihr schwer fällt, weiterzusprechen, aber es muß sein, und so sagt sie denn: „Ich weiß ja, Max, wie lieb du mich hast, aber mußt du es mir denn immer wieder auf diese Art beweisen? Der Ekel hat mich diese Nacht gepackt und am liebsten hätte ich dich von mir gestoßen. Mein Gott, wir sind doch keine Tiere, daß wir uns so viehisch benehmen.”
„Das nennst du viehisch, Dodo,” ruft er ganz außer sich. „Wenn wir den besten und edelsten Trieben folgen, die ein Gott uns verlieh, das nennst du viehisch? Du solltest dich schämen, Dodo, und wenn mein Wunsch nach einem Kind, nach einem süßen kleinen Kind von dir noch einmal erfüllt werden sollte, ich habe dann immer geglaubt, das Kind sollte dann unserer Liebe entsprungen sein, aber nicht unseren viehischen Trieben, wie du es nennst.”
Sie sieht es ein, sie ist in ihrem Abscheu vor diesen Umarmungen zu weit gegangen, sie muß ihn wieder versöhnen, und so sagt sie denn ausweichend: „Wir haben doch aber kein Kind, Max.”
„Und jetzt wünsche ich auch, daß wir nie eins bekommen,” ruft er immer noch ganz erregt, „denn wenn du das nicht mit Liebe von mir empfängst, dann niemals, dann ist es für uns und für das Kind besser, es würde nie geboren. Es müßte denn sein, daß du mit der Zeit doch noch lernst, wieder anders zu denken.”
„Das wird niemals der Fall sein,” will sie zur Antwort geben, aber sie schluckt die Worte dann doch wieder herunter, sie darf ihn auch nicht zu sehr erzürnen, und sie hat ihn doch von ganzem Herzen lieb.
In dem Zimmer herrscht ein langes, tiefes und banges Schweigen. Mit großen erregten Schritten geht er im Zimmer auf und ab, während sie mit ihren Augen jede seiner Bewegungen verfolgt, bis er dann plötzlich vor ihr stehen bleibt: „Was du mir da vorhin sagtest, Dodo, kommt mir so überraschend, ist mir so neu und so völlig unverständlich, daß ich es immer noch nicht fassen kann. Und vor allen Dingen sage mir eins, seit wann denkst du so?”
Sie hat sein Hand ergriffen und hält sie nun fest, wenn er auch den Versuch macht, sich ihr zu entziehen. Dann bittet sie: „Komm, Max, setz dich her zu mir und höre mich einmal ganz ruhig an.” Und als er dann fast willenlos an ihrer Seite Platz genommen hat, sagt sie: „Du fragst mich, Max, wie lange ich schon so denke, und wenn ich ganz offen und wahr gegen dich sein soll, und das will ich in dieser Stunde, da muß ich dir sagen: Ich habe eigentlich vom ersten Tag unserer Ehe an so gedacht. Erinnerst du dich noch n unsere Hochzeitsnach? Was du damals für mädchenhafte Scheu hieltest, das war in Wirklichkeit nichts anderes, als dasselbe Empfinden, das damals schon in mir schlummerte und das mit der Zeit immer stärker und stärker wurde. Und wenn ich mich dir dann doch hingab, Max, ich tat es nicht nur, weil es meine gesetzliche Pflicht war, weil du das Recht hattest, es von mir zu verlangen, daß ich mich dir hingab, ich tat es, weil ich dich liebte und weil ich glaubte und hoffte, daß ich es mit der Zeit lernen würde, anders zu denken.”
„Und hast du es nicht gelernt?” fragte er.
„Auch da will ich dich nicht belügen,” gibt sie zur Antwort. „Ja, in den ersten Wochen bin ich auch glücklich gewesen, wenn du mich in deine Arme nahmst, ich liebte dich und sah auch, wie du mich liebtest. Und dazu kam der Glaube, mit der Zeit würden diese Umarmungen immer seltener und seltener werden. Da wollte ich dir das Glück, das du bei mir empfandest, nicht rauben, und vorübergehend wurde dein Glück so auch mein Glück. Aber als ich es dann einsah, es einsehen mußte, daß die Liebe für dich gleichbedeutend ist mit sinnlicher Leidenschaft, als du immer wieder dasselbe bei mir suchtest, immer und immer wieder, da wurde der Abscheu, den ich dagegen empfand und der nur geschlummert hatte, von neuem in mir wach. Er wuchs, je mehr deine Sinne immer aufs neue nach mir verlangten. Und immer wieder sagte ich mir: Nur deshalb haben wir uns doch nicht geheiratet.”
„Nein, ganz gewiß nicht nur deshalb,” stimmt er ihr bei, „aber doch deshalb mit, und ein Eheleben ohne Sinnes- und Liebesleben gibt es doch nicht.”
„Aber man kann doch auch in der Liebe Maß halten,” wirft sie ein.
„Auch dann, wenn man sich wirklich liebt?” fragt er ganz verwundert. „Und liegt nicht für die Frau eine Kränkung und Beleidigung darin, wenn man sie nur dann und wann in die Arme nimmt, nur dann, wenn einem gerade die Lust dazu anwandelt? Zeigt man ihr damit nicht, für gewöhnlich bist du mir gleichgültig, aber heute habe ich Appetit auf dich?”
„Bis zu einem gewissen Grade magst du vielleicht recht haben,” pflichtet sie ihm bei, „aber trotzdem, man lebt doch nicht nur deshalb, es gibt doch auch noch andere, reinere und edlere Freuden. Du hast es ja heute nachmittag auf deiner Bank selbst erfahren.”
Völlig verständnislos sieht er sie an: „Glaubst du wirklich, Dodo, daß das für mich das wirkliche Glück bedeutet? Kann eine Freude denn überhaupt jemals das Glück ersetzen? Für mich gibt es kein höheres Glück, als in deinen Armen zu ruhen, und bis zu dieser Stunde habe ich auch immer geglaubt, daß auch du —”
Er springt empor und geht von neuem mit großen Schritten auf und ab, bis er dann abermals vor ihr stehen bleibt: „Sag mir nur noch eins, Dodo, wenn du darüber so denkst, warum hast du mich da denn eigentlich geheiratet? Hast du mich denn damals wirklich liebgehabt und hast du mich auch heute noch lieb?”
Nur ein wahres Glück, daß er auch diese Frage stellt, denn warum sie ihn heiratete, trotzdem sie über das andere so denkt, wie sie es tut, das ist nicht mit einem Wort gesagt, und so antwortet sie ihm nun: „Ja, Max, ich hatte dich lieb und ich liebe dich auch heute noch genau so wie damals, aber ich werde dich noch viel mehr lieben, wenn du fortan — na, auch ohne daß ich zu Ende spreche, verstehst du mich?”
„Ja, ich verstehe dich,” gibt er zurück, aber seine Stimme klingt fast tonlos, und ihr ist, als wäre aus seinem Gesicht plötzlich jede Spannkraft und jede Frische gewichen.
Wieder herrscht eine ganze Weile zwischen ihnen tiefes Schweigen, bis er dann plötzlich mehr zu sich als zu ihr mit halblauter Stimme sagt: „Warum lebt man denn eigentlich noch?”
Ganz entsetzt sieht sie ihn an: „Max, versündige dich nicht. Ich habe es dir doch vorhin schon erklärt, man lebt doch nicht nur deshalb. Daß du bei deiner Veranlagung unter meinen Worten im ersten Augenblick leiden würdest, habe ich vorausgesehen, aber um meiner selbst willen konnte ich dir diese Aussprache nicht ersparen, ich hätte geglaubt, sittlich und moralisch immer tiefer und tiefer zu sinken, wenn es so weitergegangen wäre, wie bisher. Und wenn du erst ruhiger geworden bist, wirst du das auch selbst einsehen.”
„Niemals,” ruft er mit erregter Stimme, „und wenn ich alt werden sollte, wie Methusalems Esel, das werde ich nie einsehen, das ist mir zu hoch.”
Und wieder geht er erregt auf und ab, bis sie sich dann plötzlich von ihrem Platz erhebt: „Sei nicht böse, Max, wenn ich mich schon schlafen lege, aber ich bin wirklich müde und abgespannt und auch unser Gespräch hat mich mehr ergriffen, als ich glaubte.”
Sie bietet ihm die Lippen zum Kuß, aber er küßt sie nur auf die Stirn: „Gute Nacht, Dodo.”
„Lege auch du dich nicht so spät nieder,” bittet sie, „auch dir wird die Ruhe gut tun.”
„Sorg dich nur nicht um mich,” meint er gelassen, „ich verspüre nichts von Müdigkeit, ich will auch erst noch meinen Wein trinken und muß noch einmal in Ruhe über alles nachdenken, was du mir da sagtest.”
Gleich darauf sucht Frau Dodo ihr Schlafzimmer auf, und als sie dann in ihrem Bett liegt, grübelt sie noch lange darüber nach. warum sie Max eigentlich geheiratet hat. Warum hat sie üb erhaupt geheiratet, ja warum? Vor dem geschlechtlichen Eheleben hat ihr schon immer gegraut: schon als junges Mädchen von vierzehn oder fünfzehn Jahren, von dem Tage an, da die Freundinnen sie darüber aufklärten, wie die Kinder auf die Welt kämen. Es hat ihr nie wie den anderen Spaß gemacht, schlüpfrige oder gar unanständige Bücher zu lesen und obszöne Bilder zu betrachten, aber wenn sie einem wirklichen Kunstwerke gegenüberstand, einem schönen nackten Frauenkörper oder einem künstlerisch vollendeten männlichen Akt, dann, aber auch nur dann, begannen auch ihre Sinne sich zu regen, aber ohne daß sie nach Befriedigung verlangten. Es war lediglich ein süßes, wohliges Gefühl, das ihren Körper durchdrang, das sie die Augen schließen ließ, um ungestört vor sich hinträumen zu können. Aber niemals dachte sie bei diesem Träumen an häßliche Dinge. Der Gedanke daran kam ihr nie, und wenn ihre Freundinnen, die mehr oder weniger ungeduldig auf den Mann und auf die Befriedigung ihrer Sinneslust warteten, ihr dann von dem sprachen, was deren Phantasie ausschließlich beschäftigte, dann hat sie die nie verstanden, es war ihre ehrlichste Überzeugung, wenn sie sich und den anderen immer wieder erklärte: „Ich heirate überhaupt nicht.” Mochten die Freundinnen sie ruhig auslachen und für verrückt erklären, sie blieb bei ihrer Ansicht.
Bis sie sich dann doch eines Tages in Max verliebte und noch dazu so plötzlich, daß sie sich selbst nicht verstand. Aber auch diese ihre Liebe war frei von jeglicher Sinnlichkeit, seine Küsse und seine Liebkosungen erregten sie nicht. Sie ließ sich küssen, weil sie ihn liebte, und weil sie ihn liebte, küßte sie ihn auch wieder. Und während andere junge Mädchen während der Brautzeit fortwährend von der Hochzeitsnacht träumen, die kaum erwarten können, wünschte sie sich, diese Nacht möge niemals kommen, und immer wieder fragte sie sich: „Ist deine Liebe zu Max so groß, daß du ihn auch dann noch lieben wirst, wenn er dir das angetan hat?” Sie prüfte sich ganz ehrlich, bis sie sich dann sagte: „Ja, ich werde ihn auch dann noch lieben.” Und schon damals nahm sie sich vor, wenn die Flitterwochen erst vorüber wären, ihn zu bitten, sie zu schonen, und schon damals sagte sie sich: „Je seltener er mich in seine Arme nimmt, um so größer wird meine Liebe zu ihm werden, und wenn er das weiß, wird er mich bald gar nicht mehr anrühren.” Ebenso wie sie die Kunst, das Theater und schöne Musik liebte, ebenso wie sie sich daran berauschen konnte, so wollte sie versuchen, diese Interessen auch in ihm zu wecken, und dann würden seine Sinne schon von ihr abgelenkt werden.
Und wenn sie erst von der Hochzeitsreise zurückkamen, dann wollte sie sofort ihr eigenes Schlafzimmer haben.
Ja, was wollte sie nicht alles.
Aber es kam so ganz anders, als sie es sich gedacht hatte.
Von dem Augenblick an, da er zum erstenmal ihren schönen nackten Körper vor sich sah, von dem Augenblick an, da sie sich ihm hingab, war ein Sinnestaumel über ihn gekommen, der sich mit der Zeit nicht nur nicht legte, sondern immer leidenschaftlicher wurde, je länger sie ihm angehörte. Er hatte keinen anderen Gedanken, als sie immer wieder zu besitzen. Was galt ihm Kunst, Theater und Musik? Er hatte ja sie, das war ihm genug, und nur zu bald mußte sie einsehen, daß sie dagegen machtlos war. Sie ertrug seine Zärtlichkeiten, weil sie ja wußte, wie er sie liebte, und weil sie ihn wieder liebte. Sie ertrug alles zuerst mit einem Gefühl des Gleichmutes, bis dann der Abscheu in ihr immer stärker wurde, bis sie ein Grausen vor seinen Umarmungen verspürte, bis sie dann endlich heute den Mut fand, ihm alles zu gestehen.
Sie hatte ja gesehen, wie er bei ihren Worten litt, aber sie empfand kein Mitleid mit ihm.
Wenn sie ihm vorhin auch das Gegenteil sagte, um ihn zu beruhigen, sie weiß es besser, er wird sie nie verstehen. Aber wenn er sie nicht versteht, dann — ja, was dann?
Auf diese Frage gibt es nur eine Antwort und die lautet: „Dann bist du eine unverstandene Frau.”
Im ersten Augenblick bekommt sie es mit der Angst, sie ist noch so jung, das ganze Leben liegt noch vor ihr, da will sie nicht schon unverstanden sein, bis sie dann plötzlich anders denkt, bis die Erkenntnis, unverstanden zu sein, ihr ein großes Gefühl der Beruhigung verschafft. Seit langer Zeit, eigentlich schon seit dem ersten Tag ihrer Ehe, hat sie etwas bedrückt und gequält, ohne daß sie sich darüber klar zu werden vermochte, was das war. Nun weiß sie es, es ist die Erkenntnis, unverstanden zu sein.
Sie hat immer gehört, unverstandene Frauen wären auch stets unglückliche Frauen, aber trotzdem kann sie sich in diesem Augenblick gar nicht unglücklich fühlen. Im Gegenteil, sie ist glücklich darüber, daß sie nun endlich weiß, woran sie ist. Und vor allen Dingen kommt sie sich jetzt auch unendlich würdevoll vor. Eine junge Frau ist schließlich jede Frau von fünfundzwanzig Jahren, aber in dem Alter schon eine unverstandene Frau zu sein, das muß sie nach ihrer Ansicht, wenn auch nicht gerade mit einem Heiligenschein, so doch mit einem gewissen ehrfurchterregenden Nimbus umgeben.
Ob sie als unverstandene Frau noch genau so aussieht wie früher?
Sie kann der Versuchung nicht widerstehen, sie knipst das elektrische Licht an und tritt vor den großen Spiegel.
Natürlich hat sich in der letzten Viertelstunde in ihrem Gesichtsausdruck nicht das Geringste verändert, sie ist noch genau so hübsch und verführerisch wie immer, aber trotzdem, sie selbst findet sich plötzlich gealtert, wenn auch nicht gerade um Jahre oder Wochen, so ganz bestimmt um Tage oder Stunden, wenn nicht sogar um Minuten. Sie merkt es an sich selbst, ohne zu wissen, woran sie es merkt, sie ist in dieser kurzen Spanne Zeit eine andere geworden. Aber das ist nach ihrer Meinung auch kein Wunder, denn ganz ohne eine Spur zu hinterlassen, kann doch nicht die Umwandlung in eine unverstandene Frau vor sich gehen.
Lange steht sie vor dem Spiegel, bis sie doch dann endlich sich wieder hinlegt. Und dann kommen ihr plötzlich die Tränen. Sie wiß selbst nicht, warum, aber sie muß immerfort weinen, denn sie ist doch noch so jung und doch schon unverstanden.
Auch sie ebenso wie zahllose andere! Sie hat nie so recht gewußt, wie eine Frau unverstanden sein könne, aber jetzt sind ihr darüber die Augen aufgegangen, und plötzlich versteht sie auch all die anderen unverstandenen Frauen, denen geht es in der Ehe gewiß ebenso wie ihr, auch da wollen die Männer immer nur das eine, als wenn man sich nur deswegen geheiratet hätte. Und immer reichlicher fließen ihre Tränen, bis sie dann endlich vor Müdigkeit einschläft.
Ein Geräusch im Zimmer läßt sie wieder erwachen und mit einem leisen Schrei auffahren. Das elektrische Licht brennt, ihr Max geht zu Bett, er hat dabei einen Stuhl umgeworfen und jetzt einen zweiten. Er stößt einen halblauten Fluch aus, und als er sich nun bückt, taumelt er und fällt gegen den Schrank. Jetzt sieht sie es, Max ist betrunken. So lange sie ihn kennt, ist das noch nicht dagewesen. Um zu vergessen, was sie ihm gesagt hat, um darüber hinwegzukommen, mag er dem Wein wohl mehr als reichlich zugesprochen haben.
Das hat sie nicht gewollt, und daß er nun ein Trinker wird — sie zittert und fiebert bei dem Gedanken vor Erregung. Und nach Frauenart sieht sie es gleich voraus, daß er nun fortan täglich bei dem Wein ein Vergessen suchen und finden wird.
Sie muß sich Gewalt antun, um nicht laut aufzuschluchzen. Das hat sie nicht gewollt. Ihr erster Impuls ist, aus dem Bett zu springen, ihm zu helfen und ihm ein Wort der Teilnahme zu sagen. Aber das darf nicht sein. Wenn er sie so im Nachthemde vor sich sieht, wenn er merkt, daß sie Mitleid mit ihm empfindet, dann wird er glauben, sie bereue ihre Worte. Er wird sie an sich ziehen und sie küssen, und dann — dann wird alles wieder so sein, wie es war, und sie hat ganz umsonst mit ihm gesprochen.
Und sich einem Betrunkenen hingeben? Niemals!
So schließt sie denn wieder die Augen und stellt sich schlafend, so schwer es ihr auch wird. Es dauert lange, bis ihr Mann sich endlich entkleidet hat. Er fällt förmlich in das Bett und gleich darauf verraten laute Schnarchertöne, daß er eingeschlafen ist. Da steht sie auf, dreht das Licht wieder an und macht Ordnung im Zimmer, sie hebt die umgeworfenen Möbel wieder auf, legt seinen Anzug und seine Wäsche, die er achtlos auf den Boden geworfen hat, ordentlich auf den Stuhl und den Tisch, damit er morgen sich nicht in Grund und Boden zu schämen braucht, wenn er bei dem Erwachen die Spuren seiner Trunkenheit noch vorfindet.
Erst als sein Schnarchen immer leiser und leiser wird, schläft auch sie endlich ein, um erst wieder wach zu werden, als das Mädchen am nächsten Morgen an die Tür klopft, um den Herrn zu wecken. Mit einem schnellen Satz springt er aus dem Bett, und sie sieht es ihm an, er hat nicht die Spur eines Katers. Seine kräftige Natur hat auch diesen schweren Rausch spielend überwunden, er sieht frisch und blühend aus wie immer. Und genau wie sonst hört sie gleich darauf aus seinem nebenan gelegenen Ankleidezimmer seine tiefen Töne des Wohlbehagens, als er nun an seinem Waschtisch steht unbd seinen ganzen Körper in eiskaltem Wasser badet. Nur daß er nicht wie sonst bei dem Ankleiden halblaut eine lustige Melodie vor sich hin trillert, aber sie weiß, daran ist nicht der Wein schuld, sondern sie selbst.
Wie stets, wenn er fix und fertig angezogen ist, tritt er an ihr Bett, um ihr Adieu zu sagen, denn er geht gleich nach dem ersten Frühstück fort, um erst zu Tisch zurückzukehren.
Aber er beugt sich nicht über sie, um sie zu küssen, sondern er reicht ihr nur die Hand: „Guten Morgen, Dodo, und auf frohes Wiedersehen bei Tisch.”
Freundlich und herzlich sieht sie ihn an: „Einen Kuß könntest du mir trotzdem schon noch geben, Max,” aber er widerspricht: „Es ist schon besser so, Dodo, ich habe es mir gestern abend reiflich überlegt. Und dann — nicht wahr, was wir gestern besprochen haben, ist erledigt. Ich bitte dich, komm mit keinem Wort mehr darauf zurück, wie auch ich das nicht tun werde.”
Sie reichte ihm die Hand: „Ich verspreche es dir, Max.”
„Dann bin ich beruhigt,” gibt er zur Antwort. „Und nun noch schnell eine Bitte. Laß doch gleich heute morgen das Fremdenzimmer für mich einräumen, ich werde fortan dort schlafen, denn ich gehe jetzt vielleicht doch manchmal später zu Bett und ich möchte dich nicht jede Nacht stören, wie ich es heute wohl bestimmt getan habe.”
„Das allerdings,” gibt sie zur Antwort. „Dein Wunsch soll natürlich erfüllt werden, aber auch ich habe eine Bitte, versprich mir, daß du kein Trinker werden willst.”
Er sieht sie ganz verwundert an: „Du meinst, weil ich gestern abend in der ersten Erregung des Guten zu viel getan habe? Sei unbesorgt, zum Trinker habe ich nicht die leiseste Anlage.”
Gleich darauf ist er gegangen und Frau Dodo hat mit dem Umräumen der Zimmer und mit tausend anderen Dingen so viel zu tun, daß ihr die Zeit bis zum Mittag wie im Fluge vergeht. Ach und sie ist ja so glücklich, nun hat sie doch endlich ihr Schlafzimmer für sich allein.
Erst als die Tischzeit herannaht, überfällt sie eine leise Unruhe. Wie wird die Mahlzeit verlaufen? Wird nicht doch eine gewisse Spannung und Entfremdung zwischen ihnen liegen, wird er ebenso heiter und fröhlich mit ihr plaudern wie sonst?
Aber ihre Befürchtungen erweisen sich als grundlos. Max benimmt sich gegen sie genau wie in früheren Tagen, nur daß er sie nach Tisch nicht wie sonst zu sich auf den Schoß zieht, nur daß er ihr die Hand und die Stirn küßt anstatt den Mund. Wie er heute ist, bleibt er auch weiter. Sie durchschaut nur zu bald seine Taktik, und sie weiß, er kommt nur deshalb mit keinem Wort auf die Aussprache zurück, weil er sich sagt: „Du mußt Dodo nur Zeit lassen, sich wieder auf sich selbst zu besinnen, dann wird die Natur des Weibes schon in ihr erwachen und sie wird von selbst begehren, was sie jetzt als ekelhaft empfindet.”
„Armer Max,” sagt sie sich, „der Tag wird nie kommen. Wenn du mich einmal hin und wieder in die Arme zu nehmen wünschst, aus Liebe zu dir will ich es dir erfüllen, aber daß ich dich jemals darum bitten werde, daß meine Natur jemals danach verlangt, das ist ganz ausgeschlossen.”
Am liebsten würde sie ihm das offen und ehrlich sagen, damit er sich keinen falschen Hoffnungen hingibt, aber sie hat ihm ja fest versprochen, mit keinem Wort das Gespräch wieder zu berühren, da muß sie schweigen.
Nein, sie wird ihn nie darum bitten, aber all ihren Erwartungen entgegen bittet auch er sie nicht darum. Mit keinem Wort, mit keinem Blick deutet er ihr an, daß er sich nach ihr sehnt. Es ist ihr ein vollständiges Rätsel, wie er das Leben so erträgt, daß er sein Sinnesleben so vollständig aus seinem Dasein ausgeschaltet hat. Das war auch gar nicht ihre Absicht, hin und wieder wäre sie gern bereit gewesen, seine Geliebte zu sein, denn sie liebt ihn doch, aber wenn er gar kein Verlangen danach trägt, um so besser für sie.
Aber sie wundert sich doch, wie er es so aushält. Ob er wohl eine Geliebte hat, ob er in deren Armen genießt, was er bei ihr entbehrt? Nicht die Spur von Eifersucht wird bei diesem Gedanken in ihr wach. Er kann ihretwegen ruhig eine andere umarmen, das hat doch mit seiner Liebe zu ihr nicht das geringste zu tun. Weil sie die Gewißheit hat, daß er nie wieder den Wunsch äußern wird, das frühere Leben mit ihr von neuem zu beginnen, wünscht sie ihm sogar, er möchte eine Geliebte haben. Bis sie sich dann doch sagen muß, daß das nicht der Fall ist. Ebenso wie früher geht auch er jetzt keinen Schritt ohne sie aus, er ist auf die Minute pünktlich zu den Mahlzeiten da, er verläßt sie nie, um ein Restaurant oder einen Klub aufzusuchen — nein, er hat keine Geliebte. Sie muß auch immer wieder an das Wort zurückdenken, das er ihr einmal sagte: „Ich glaube, selbst wenn ich einmal das entsetzliche Unglück haben sollte, dich durch den Tod zu verlieren, selbst dann würde es mir nicht möglich sein, jemals ein anderes Weib zu berühren. Wenn ich die vor mir sähe, müßte ich fortwährend an dich denken, ich würde ihren Körper mit dem deinigen vergleichen, ihr Gesicht mit dem deinen, und wenn sie auch noch so hübsch und verführerisch wäre, ich dächte an dich und würde sie völlig reizlos finden. Nein, auch nach deinem Tode würde ich dich nie betrügen, denn selbst, wenn ich es wollte, ich könnte es nicht.”
Nein, er hat keine Geliebte, und das Leben nimmt seinen ruhigen Fortgang. Nur daß sie jetzt vielleicht etwas häufiger als früher Freunde bei sich sehen, daß sie nicht mehr so oft wie sonst die an sie gelangenden Einladungen ausschlagen, um zu Hause sich selbst und ihrer Liebe leben zu können.
Sie gehen jetzt häufiger aus und auf einer Gesellschaft lernt sie den Doktor Georg Mackensen kennen. Die Freundin, in deren Haus das Diner stattfindet, hat ihr schon viel von diesem Doktor erzählt. Er ist ein ganz berühmter Mann, trotzdem er die Mitte der Dreißig kaum überschritten hat. Er steht im Begriff, ein großes, populär-wissenschaftliches Werk über die verschiedenen Menschenrassen, über ihre Abstammung und über ihre Lebensgewohnheiten herauszugeben. Er ist jahrelang auf Reisen gewesen, alle Weltteile hat er aufgesucht und es ist „wahnsinnig interessant”, sich mit ihm zu unterhalten. Was hat der nicht alles gesehen und erlebt. Und dabei ist er absolut kein trockener Gelehrter, sondern so frisch und so lustig wie nur einer. Und dabei so hübsch, ja man könnte ihn eigentlich sogar schön nennen: „Na, Dodo, du wirst ihn ja nun in den nächsten Tagen mit eigenen Augen sehen. Leicht wird es mir nicht, auf ihn als Tischherrn zu verzichten, aber trotzdem sollst du neben ihm sitzen. Er ist für Frauenschönheiten sehr empfänglich, und als Mann, der so viele Frauen in seinem Leben sah, natürlich auch sehr verwöhnt. Du bist von all meinen Freundinnen und Bekannten die schönste und darum soll er dich führen. Mach dich also so hübsch wie nur möglich, damit du die Ehre unserer Stadt rettest, damit er hinterher nicht sagt, hier gäbe es keine schönen Frauen.”
Die in jedem Weibe schlummernde Eitelkeit ist in Frau Dodo erwacht, ja, sie will sich schmücken und sich putzen. Sie hat in dem großen Konfektionsgeschäft, in dem sie zu kaufen pflegt, eine wundervolle hellgelbe Robe gesehen, die ihr ausgezeichnet steht. Sie hat das Kleid schon anprobiert, und wenn sie in den Gürtel und in ihr Haar noch ein paar dunkelrote Rosen steckt, dann werden selbst seine Augen bewundernd auf ihr ruhen. Sie will das Kleid haben , und auch ohne nur einen Augenblick zu zögern, erfüllt ihr Mann ihr den Wunsch, und auch, als sie ihm den hohen Preis nennt, verliert er darüber kein Wort.
Wie gut er ist! Und plötzlich überfällt sie so etwas wie ein schlechtes Gewissen. Sie will sich ja nicht für ihn schmücken, sondern für einen anderen. Aber nein, auch nicht für den, was geht der sie an? Nein, für den putzt sie sich ganz gewiß nicht, das tut sie nur um ihrer selbst willen, sie will lediglich schön sein.
Und als sie an jenem Tage zum Ausgehen bereit ist, ist sie verführerischer und schöner als je. Wenn der Spiegel es ihr nicht schon gesagt hätte, sie liest es in den Augen ihres Mannes, als der nun bei ihr eintritt, um ihr zu sagen, daß der Wagen vorgefahren ist. Er ist ihr behilflich, den Mantel umzulegen, sie fühlt, wie seine Hände vor Erregung ein klein wenig zittern, aber sein Mund bleibt auch heute stumm, mit keiner Silbe verrät er ihr, wie begehrenswert er sie findet und daß er sie begehrt. Auch als sie nun zusammen im Wagen sitzen, plaudern sie nur über völlig gleichgültige Dinge zusammen.
Nach einer Fahrt von einer guten Viertelstunde sind sie am Ziel, und wenig später hat sie die Bekanntschaft dieses Doktor Mackensen gemacht. Dodo sieht es auf den ersten Blick, die Freundin hat nicht zu viel behauptet, wenn sie ihn eigentlich sogar einen schönen Menschen nannte. Er ist groß und schlank, dabei sehnig und muskulös, in seiner äußeren Erscheinung gleicht er ihrem Mann, nur daß er etwas derber und plumper ist. Und diese wundervollen Augen, die er hat, dazu der schöne, ein klein wenig sinnliche Mund mit den schneeweißen Zähnen, die unter dem dichten, ganz schwarzen Schnurrbart noch weißer zu sein scheinen, und dazu dieser dunkle, von dem langen Aufenthalt im Süden fast dunkelbraun gebrannte Teint. Aber das schönste an ihm sind doch seine Hände, seine schlanken, feinen Hände. Die muß sie immer wieder ansehen, als sie dann bei Tisch neben ihm sitzt und sich lebhaft mit ihm unterhält. Sie plaudern über tausend dinge, bis er dann plötzlich zu ihr sagt: „Gnädige Frau, ich muß Ihnen aus ehrlichster Überzeugung ein Kompliment machen. Sie sind die erste Dame, die nicht zu mir gesagt hat: ‚Ach, Herr Doktor, Sie haben auf Ihren Reisen doch gewiß sehr viel Interessantes erlebt, ach, bitte, erzählen Sie mir doch davon.’ Als wenn man das, was man auf einer Forschungsreise von vielen Jahren kennen lernte, in Form eines Tischgespräches wiedergeben könnte. Sie sind, seitdem ich wieder in Deutschland bin, die erste Frau, die nicht so zu mir gesprochen hat. Das danke ich Ihnen herzlich, aber vor allen Dingen beweist es mir, daß sie nicht nur eine sehr schöne, sondern auch eine sehr kluge Frau sind.”
Sie freut sich über seine Worte. Die doppelte Anerkennung, die er ihr zollt, stimmt sie glücklich, und sie weiß nicht gleich, was sie ihm erwidern soll, bis sie ihm dann endlich sagt: „Ich kann mir denken, wie gräßlich Ihnen diese weibliche Neugierde sein muß, und es wundert mich, daß Sie da überhaupt noch auf Gesellschaften gehen?”
„Ich tue es auch nur ungern, gnädige Frau, und wenn ich die Einladung zu dem heutigen Diner annahm, geschah es nur Ihretwegen.”
Ganz verwundert sieht sie ihn an: „Nur meinetwegen?”
„Allerdings, gnädige Frau, denn die Dame des Hauses, die ja zu Ihren Freundinnen zählt, erklärte mir, daß ich in Ihnen eine so schöne Frau kennen lernen würde, wie sie selbst mir nicht oft begegnet sein dürfte. Das machte mich neugierig, nur deshalb schlug ich die Einladung nicht aus, und jetzt, gnädige Frau, seitdem ich Sie sah, freue ich mich, daß ich es nicht getan habe, ja noch mehr, ich bin aufrichtig glücklich darüber.”
Ihre Wangen färben sich vor freudiger Erregung ein klein wenig rot und ihe Augen blitzen und leuchten in freudiger Genugtuung.
Sie schweigt, sie ist im ersten Augenblick zu verwirrt, um gleich etwas erwidern zu können, da hört sie, wie er zu ihr sagt: „Sie sind wirklich eine sehr kluge Frau, meine Gnädigste, denn eine andere hätte mich an Ihrer Stelle schon längst mit ihrem kokettesten Augenaufschlag gefragt: ‚Finden Sie mich denn wirklich so schön, Herr Doktor?’”
Sie lacht fröhlich auf: „Es kommt mir fast so vor, als hätten Sie in Ihrem Leben schon viele dumme Frauen kennen gelernt.”
„Sogar entsetzlich viele,” stimmt er ihr bei, „und merkwürdigerweise unter den Damen der Gesellschaft am häufigsten. Die überfeinerte Kultur, in der wir leben, scheint den Geist und den Verstand des weiblichen Geschlechtes der ersten Kreise völlig einzuschläfern. Ich habe das auf meinen Reisen so oft beobachtet.” Und plötzlich beginnt er doch von seinen Erlebnissen zu erzählen. Aber es sind keine Anekdoten, die er zum besten gibt, keine mehr oder weniger amüsanten Abenteuer, sondern es ist mehr eine wissenschaftliche Abhandlung über Schädelbildung, geistige Entwicklungsfähgkeiten und geistige Abnormitäten, wie er sie nicht nur bei den wilden Völkerstämmen, sondern auch bei den zivilisierten vorfand.
Sie hört mit der gespanntesten Aufmerksamkeit zu, und durch einige Fragen und Bemerkungen, die sie von Zeit zu Zeit einwirft, beweist sie, daß sie ihm völlig zu folgen vermag, und daß sie ein scharfes und sicheres Urteil hat. Sie merkt, daß er sich gerne mit ihr unterhält, und darüber vergißt sie alles.
Und als sie dann die Unterhaltung einen Augenblick unterbrechen müssen, weil das Hoch auf die Damen ausgebracht wird, als alle sich von ihren Plätzen erheben, und als ihre Augen dann ihren Mann treffen, da fällt es ihr erst wieder ein: Ach, so, ja richtig, einen Mann hat sie auch noch.
Endlich ist das Hoch verklungen, man setzt sich wieder hin, und es deckt sich völlig mit ihrer Ansicht, als ihr Tischherr jetzt zu ihr sagt: „Wenn die Redner nur wüßten, wie entsetzlich langweilig diese Toaste sind. Aber die meisten Menschen lieben es ja, sich sprechen zu hören, und dabei wissen doch nur die wenigsten entwas zu sagen.”
Dann nehmen sie das Gespräch wieder auf, bis er anfängt, ihr von seinen Sammlungen zu sprechen, von den großen Mappen voller Photographien: „Es wird noch eine Riesenarbeit sein, die zu sichten, das Wichtige von dem Unwesentlichen zu trennen, aber es befindet sich sehr viel Interessantes darunter. Und ich würde es Ihnen sehr gerne einmal zeigen, gnädige Frau, aber zu Ihnen bringen kann ich sie unmöglich, da müßte ich schon einen Möbelwagen neben mir herfahren lassen, so viel Sachen habe ich mitgebracht, es ist das reine Museum.”
„Ich würde es mit dem größten Vergnügen bewundern,” stimmt sie ihm bei.
„Vielleicht erweisen Sie mir mit Ihrem Herrn Gemahl einmal die Ehre Ihres Besuches,” meint er. „Allerdings weiß ich nicht, ob Ihr Gatte es ganz passend finden würde, wenn ich Ihnen in seiner Gegenwart die Aufnahmen zeigte. Allzu reichlich bekleidet sind die Männer und Frauen natürlich gerade nicht, sie dürfen es ja aber auch nicht sein, wie könnte man sonst wohl die Körper und die Körperentwicklung feststellen.”
„Daran würde mein Mann auch sicher nichts Unpassendes finden,” entgegnet sie, „denn sonst könnte ich in seiner Gesellschaft ja auch nie eine Galerie oder ein Museum besuchen, aber trotzdem, daß mein Max mich begleiten soll, mein Max —”
Sie muß plötzlich bei dem Gedanken lachen, daß Max die Mappen durchblättern und dabei vielleicht einen wissenschaftlichen Vortrag mit anhören soll — er würde vor Verzweiflung die entsetzlichsten Gesichter schneiden und fortwährend zum Aufbruch drängen.
Ihr Tischherr versteht ihre Heiterkeit sofort richtig, und so sagt er denn: „Es tut mir aufrichtig leid, gnädige Frau, daß Ihr Herr Gemahl für solche Dinge kein Verständnis hat, es tut mir auch Ihretwegen leid, gnädige Frau, denn eine Frau wie Sie mit einem so scharfen Verstand und mit solchem Interesse für Kunst und Wissenschaft —”
Er hält mitten im Satz inne, als dürfe er nicht weitersprechen, als habe er die Empfindung, schon zu viel gesagt zu haben.
Sein Mund verstummt, aber seine Augen ruhen voll ehrlichster Anteilnahme auf ihr. Aber in diesem Blick liegt noch etwas anderes, das ihr entgeht, eine starke Sinnlichkeit und der Wunsch, sie zu besitzen. Seitdem ihr Lachen ihm verraten hat,daß auch sie eine unverstandene Frau ist, sich wenigstens einbildet, es zu sein, hofft er, daß es ihm gelingen wird, sie zu gewinnen. Allerdings, so ganz einfach wird das nicht sein. Er hat ihr auf den ersten Blick angesehen, daß sie anders ist, als andere Frauen, daß sie andere Neigungen hat, als nur zu flirten und sich den Hof machen zu lassen. Er hat auf seinen Reisen gelernt, mit Frauen umzugehen, er hat die Frauen aller Länder studiert, und er bildet sich nicht nur ein, die Frauen zu kennen, sondern er kennt sie auch wirklich. Jede Frau ist ein Rätsel, aber er ist ein ausgezeichneter Rätsellöser.
Frau Dodos Schönheit und Gestalt und ihr Wuchs haben ihn vom ersten Augenblick an fasziniert, wenngleich er ihr sofort ansah, daß sie absolut nicht sinnlich ist, daß sie alles, was damit zusammenhängt, völlig kalt läßt. Er bedauert den Mann, der das Unglück hat, mit ihr verheiratet zu sein, bis er sich dann doch sagt: Warum den bedauern? Er muß ein Dummkopf sein, sonst hätte er schon längst verstanden, ihre Glut zu entflammen, denn einmal brennt jede, so oder so, man muß es nur verstehen, diese Glut zu entflammen. Und gerade, daß sie kalt und gefühllos ist, reizt und lockt ihn. Er will doch sehen, ob er die Flammen der Leidenschaft bei ihr nicht zu entflammen vermag, ob sie auch in seinen Armen keine heiße sinnliche Liebe empfindet. Er will sie gewinnen, und so hat er alle seine Worte mit Absicht so gewählt, daß sie ihr schmeicheln müssen, und er weiß, wenn sie erst heute nacht in ihrem Bett liegt, wird sie an ihn denken und sich immer wieder fragen: „Warum kann mein Mann nicht so sein, wie dieser Doktor? Dann wäre alles anders.”
Und wenn eine Frau erst so weit ist, daß sie so denkt, dauert es nicht mehr lange, bis sie sich dem anderen hingibt. Er schweigt absichtlich eine ganze Weile, dann sagt er: „Schade, wirklich sehr schade, gerade Ihnen hätte ich meine Mappen so gern gezeigt, und Ihr Urteil über dieses oder jenes Blatt wäre für mich von großem Wert gewesen. Nun muß ich leider darauf verzichten, es müßte denn sein, gnädige Frau, daß Sie sich entschließen könnten, ohne Ihren Herrn Gemahl zu mir zu kommen.”
„Wenn mein Mann nichts dagegen hat, sehr gerne, Herr Doktor,” gibt sie ruhig zur Antwort.
Er muß sich beherrschen, um sie nicht ganz verwundert anzusehen. Mein Gott, wie kalt muß sie sein und wie sicher muß sie sich fühlen, daß sie allein zu ihm kommen will. Aber ob sie bei ihm so kalt und ruhig bleibt, muß die Zukunft lehren.
Daß ihr Mann ihr niemals erlauben wird, alleine zu ihm zu gehen, unterliegt für ihn keinem Zweifel, und ebenso genau weiß er, daß sie ihren Mann überhaupt gar nicht fragen wird. Er muß es nur verstehen, ihr Interesse an seinen Sammlungen immer noch weiter zu erwecken, und immer wieder muß er ihr andeuten, daß ihr Besuch ja selbstverständlich nur seinem Museum gilt.
So sagt er denn: „Sprechen Sie also mit Ihrem Herrn Gemahl, gnädige Frau, ich bin sicher, daß er nichts gegen Ihr Kommen einzuwenden haben wird. Vielleicht haben Sie später die Güte, mich anzutelephonieren oder mir ein paar Worte zu schreiben, ob und wann ich Sie erwarten darf.”
Dann beginnt er wieder von seinen Reisen zu sprechen, und so lebhaft versteht er es zu schildern, daß sie alles ganz deutlich vor sich sieht. Sie ist mit ihm in Tunis, sie sieht dort die schönen schlanken Frauen und Mädchen durch die Straßen gehen, dann besucht sie mit ihm ein Negerdorf, sie betritt mit ihm zusammen die elenden Hütten, sie sieht dort die Frauen und Mädchen auf ihren Matten kauern, um dann plötzlich an seiner Seite ein glänzendes Fest in dem Hause eines amerikanischen Millionärs zu besuchen. Und er spricht immer nur von den Frauen und Mädchen, bis er dann anfängt, die Männer zu erwähnen. Und wie versteht er, ihr die vor Augen zu führen. Als ständen sie vor ihr, so sieht sie diese schön gewachsenen Gestalten, ihre Muskulatur, ihren kraftstrotzenden Rücken, den stolzen Nacken, die sehnigen und kräftigen Arme und Beine.
Ihr ist, als säße sie in einem Museum, und dasselbe wohlige Gefühl überkommt sie, das sie bei dem Anblick künstlerisch vollendeter Marmorfiguren oder schöner Bilder empfindet.
Und als dann endlich die Tafel aufgehoben wird, da weiß er, daß sie heute nacht noch lange wach liegen und an alles zurückdenken wird, was er ihr mit kluger Berechnung erzählte.
Und als sie dann endlich wieder zu Hause ist und in ihrem Bett liegt, denkt sie wirklich an alles zurück, aber sie denkt auch sehr viel an ihn selbst. Wie hübsch er ist, wie vollendet seine Manieren sind, trotz seines langen Aufenthaltes in den fremden Ländern, und was er für wundervoll schöne Hände hat. Von diesen Händen möchte sie einmal gestreichelt werden, weiter nichts, nur gestreichelt. Leise und zärtlich müßten die einmal über ihr Gesicht, über ihr Haar und über ihre Hände gleiten, das würde sie glücklich machen. Nicht die Spur von Sinnlichkeit regt sich in ihr, aber trotzdem sehnt sie sich nach seinen Händen, und unwillkürlich denkt sie daran, wie derb und fest die Hände von Max immer gleich zugreifen. Selbst ein Händedruck verriet immer die Begierde, die er nach ihr empfand, und seitdem sie in gewisser Hinsicht nicht mehr seine Frau ist, ist sein Händedruck so kalt, so völlig unpersönlich geworden, und nur für flüchtige Sekunden hält er ihre Finger in den seinen.
Wieviel Kunstwerke wohl in den Mappen enthalten sein mögen? Und alles nur nackte Menschen, Männer, Frauen und Kinder, jeglichen Alters und jeglichen Standes. Wieviel wahrhaft schöne Körper wird sie da nicht zu sehen bekommen, aber sicher auch sehr viel verwachsene und verkrüppelte. Auf jeden Fall wird es sehr lehrreich sein, und gleich morgen will sie Max bitten, ihr den Besuch zu erlauben. Eigentlich wollte sie ihn schon vorhin danach fragen, als sie im Wagen nach Haus fuhren, aber die Furcht, er könnte heute vielleicht doch nein sagen, hielt sie davon zurück. Und sie wurde auch den Gedanken nicht los, er könne als Gegenleistung für sein „Ja” von ihr verlangen, daß sie wieder seine Frau würde wie früher. Sicher hätte er das heute verlangt, denn seine Augen haben ihr mehr als einmal verraten, wie schon er sie findet.
Da hat sie sich doch vorgenommen, lieber erst morgen mit ihm zu sprechen, morgen oder übermorgen, es eilt ja nicht, sie wird einen günstigen Augenblick abwarten.
Sie kann nicht einschlafen, sie muß immer wieder an alles denken, was der Doktor ihr erzählte, aber auch an ihn selbst. Wenn ihr Max doch auch solche oder ähnliche Interessen hätte wie er. Dann wäre alles ganz anders geworden, dann hätte er nicht fortwährend dasselbe von ihr verlangt, oder wenn doch, er hätte es wenigstens in anderer Form getan, nicht so roh und brutal, und dann wäre ihr Abscheu dagegen niemals so stark und lebendig geworden, wie er es heute ist.
Ob der Doktor auf seinen weiten Reisen wohl viele von den schönen Frauen und Mädchen, denen er begegnete, in seine Arme nahm? Sicher, denn wenn eine Frau für so etwas überhaupt empfänglich ist, muß er sie ja reizen. Wie hübsch er ist und was er für schöne Hände hat.
Und plötzlich überfällt sie der Wunsch, seine Hände möchten sie jetzt gleich einmal streicheln.
Nicht die Spur von Sinneslust wird in ihr wach, wenigstens nicht die leiseste Sehnsucht nach seiner Umarmung, aber sie möchte einmal von seinen weichen zarten Händen geliebkost werden. Das muß schön sein, viel schöner als das andere. Und wenn sie erst bei ihm ist, wird sie ihn bitten, ihr das Gesicht und die Hände zu streicheln.
Und plötzlich fühlt sie in Gedanken ganz deutlich seine Hände auf ihrem Körper.
Sie schließt die Augen und ein Seufzer des Wohlbehagens entringt sich ihr.
Gott, ist das schön! Nun sind ihre Sinne doch wach geworden, aber in ganz anderer Art, als früher in der ersten Zeit ihrer Ehe. Vielleicht nicht so leidenschaftlich, aber dafür reiner und erquickender. Zum erstenmal begreift sie jetzt, wie Max sagen kann, eine Liebesnacht erfrische und verjünge ihn.
Ein Zucken und Beben geht durch ihren Leib, sie streckt und dehnt die Glieder, und ruhelos wälzt sie sich hin und her. Aber sie will auch noch gar nicht schlafen, sie will dieses wonnige Gefühl auskosten bis zum letzten Augenblick.
Ob Max wohl schon schläft? Sie weiß selbst nicht, warum sie plötzlich an ihn denkt. Verlangt sie nach ihm? Nein, nur das nicht.
Aber trotzdem, ob er wohl schon schläft?
Sie muß es wissen, es duldet sie nicht länger im Bett. Sie dreht das Licht an, sie erhebt sich, wirft sich einen Schlafrock über und gleitet leise und unhörbar durch die Zimmer, bis sie dann vor der Tür seines Schlafzimmers stehen bleibt und lauscht. Es ist ganz still, also schläft er doch wohl schon. Da hört sie plötzlich ein lautes Stöhnen und Klagen, schwere Seufzer, und sie hört, wie er sich hin und her wirft.
Sie weiß, das ist die Sehnsucht nach ihr, der Wunsch, sie in seine Arme zu nehmen. Der arme Max, wie muß er leiden! Das Mitleid mit ihm wird in ihr wach, soll sie zu ihm gehen, soll er in ihren Armen glücklich sein? Aber sie kann sich nicht überwinden. Rasend vor Sinneslust, wie er ist, würde er sie beinahe umbringen, mit roher Kraft würde er sie packen, um sie an sich zu ziehen, nein, sie kann es nicht, heute noch weniger als sonst, heute nicht, wo sie vorhin, wenn auch nur in Gedanken, in der zartesten Weise geliebkost wurde.
Leise, wie sie gekommen, flieht sie wieder davon, und als sie dann von neuem im Bett liegt, fühlt sie bald von neuem die süße Glut, die ihren Körper durchströmt.
Mit dem festen Vorsatz, Max zu bitten , ihr den Besuch bei dem Doktor zu erlauben, schläft sie endlich ein, aber am nächsten Tag bittet sie Max doch nicht, auch nicht an dem nächsten, sie verschiebt es fortwährend aus Furcht, er könne „nein” sagen. Männer sind ja manchmal unberechenbar.
Und doch kann sie kaum noch den Tag erwarten, an dem die schlanken Hände sie streicheln, natürlich nur ihr Gesicht und ihr Haar, sonst nichts, aber sie weiß nicht, wie sie den Besuch ermöglichen soll, denn sie wagt es nicht, Max zu bitten, und ohne seine Erlaubnis will und darf sie natürlich nicht hingehen.
Da kommt Max eines Tages zu einer ganz ungewohnten Stunde nach Haus. Im ersten Augenblick glaubt sie, er ist krank geworden oder es ist sonst ein Unglück passiert, bis sie dann den wahren Sachverhalt erfährt. Er hat von seiner Bank den Auftrag erhalten, sofort nach London zu fahren. Es handelt sich um eine wichtige Angelegenheit, bei der das Bankhaus persönlich vertreten sein muß. Und man hat ihn damit beauftragt, die Interessen seines Hause zu vertreten. Das ist von neuem eine große Auszeichnung, die ihm da zuteil wird, allerdings, er wird vielleicht acht Tage, wenn nicht noch länger fortbleiben müssen, und so lange kann er seine Dodo nun nicht sehen. Bis er dann mit den Worten schließt: „Allerdings, viel habe ich ja jetzt überhaupt nicht mehr von dir.”
Sie tut, als hätte sie seine letzten Worte gar nicht gehört, sie spricht nur davon, wie es sie für ihn freut, daß gerade er mit dieser Reise betraut worden ist, dann ist sie ihm behilflich, seinen Koffer zu packen, denn schon in zwei Stunden geht sein Zug.
Es ist das erstemal, daß sie am Mittag die Mahlzeit ohne ihn einnimmt. Ohne sie ist Max auch noch nie gereist, wie hätte er es auch wohl früher auch nur einen Tag ohne seine Dodo ausgehalten.
Wie langweilig dieses Alleinsein ist — wenn sie Max vor seiner Abreise wenigstens noch darum gebeten hätte, den Besuch bei dem Doktor machen zu dürfen.
Es ist zu dumm und ärgerlich, daß sie nicht daran gedacht hat, und doch war ihr erster Gedanke, als Max ihr von seiner Reise erzählte: „Nun kannst du den Doktor besuche.” Und trotz alledem hat sie vergessen, ihn um Erlaubnis zu bitten.
Warum hat sie ihn nur nicht gefragt? Er hätte ganz sicher ja gesagt, warum auch nicht? Es handelt sich doch nur darum, daß er ihr seine Mappen zeigt, er will doch lediglich ihr Urteil hören. Kein Mensch kann doch in diesem Besuch etwas Unpassendes finden, es braucht auch niemand etwas davon zu erfahren. Selbstverständlich wird sie ihn auch nicht darum bitten, sie zu streicheln — was sollte er da wohl von ihr denken. Die dummen Gedanken sind ihr nur in der stillen Nacht gekommen, und wenn sie den Wunsch auch später bei Tag hatte, in Wirklichkeit wird sie natürlich nicht davon sprechen, ebensowenig, wie sie in Wirklichkeit Sehnsucht empfinden wird, seinen Mund küssen zu dürfen.
Ach, und doch küßte sie ihn so gern, nicht weil sie den Doktor liebte, davon kann gar nicht die Rede sein, aber er hat einen so wunderschönen Mund.
Ganz sicher hätte Max es ihr erlaubt, zu ihm hinzugehen. Je länger sie darüber nachdenkt, desto deutlicher glaubt sie sein „Ja” zu hören.
Wie dumm, daß sie ihn nicht vor der Abreise danach gefragt hat, und wie dumm, daß er in diesem Augenblick nicht noch „Ja” sagen kann.
Ganz bestimmt hätte er „Ja” gesagt. Er ist ja so gut, er hat ihr noch nie einen Wunsch abgeschlagen, selbst neulich das teuere Kleid nicht, nein, ganz bestimmt, er hätte ihr auch diese Bitte erfüllt, dennh die ist doch so völlig harmlos. Was ist denn dabei, wenn sie zu dem Doktor hingeht, um sich seine Sammlung anzusehen? Absolut gar nichts. Und wenn sie ihn nun heute besucht und Max dann hinterher davon erzählt, wird er gar nichts daran finden, und er wird sie auslachen, wenn sie ihm sagt, sie hätte geglaubt, er würde ihr diesen Wunsch nicht erlauben.
Und plötzlich kann sie sich nicht länger beherrschen und eilt an das Telephon. „Würde es Ihnen vielleicht passen, Herr Doktor, wenn ich heute nachmittag zu Ihnen käme? Vielleicht in einer halben Stunde? Ich habe mit meinem Mann darüber gesprochen, er hat selbstverständlich nicht das geringste dagegen einzuwenden. Wie meinen Sie? Ja, schön, dann komme ich also lieber erst in einer Stunde, damit wir ganz ungestört sind. Ja, gewiß, mein Mann wird sich über Ihre Grüße sehr freuen, ich werde sie ihm ausrichten, sobald er aus London wieder zurück ist. Vor einer halben Stunde hat er ganz plötzlich abreisen müssen — ja, gewiß, Sie haben ganz recht, ich fühle mich auch sehr einsam, dann also auf Wiedersehen nachher.”
Gleich darauf begibt sie sich in ihr Schlafzimmer. Ganz gut, daß er noch beschäftigt ist, daß er sie erst in einer Stunde erwartet, da hat sie noch Zeit, sich umzukleiden. Wenn er ihr so viel Frauenschönheiten zeigen will, dann muß sie doch auch selbst sehr schön sein. So wählt sie denn von ihre Straßentoiletten die eleganteste, von ihren Hüten den teuersten, von ihren Halbschuhen und von ihren seidenen Strümpfen die kokettesten. Sie ist sehr mit sich zufrieden, als sie sich nun im Spiegel betrachtet, und auch ihm entschlüpft ein Ausruf ehrlicher Bewunderung, als sie dann endlich bei ihm eintritt. Völlig unbemerkt ist sie zu ihm gelangt, denn in demselben Hause wohnt auch noch ein Zahnarzt, wer kann da wissen, wem ihr Besuch gilt? Sie hat nicht die Spur eines schlechten Gewissens, als sie ihm nun gegenübersitzt. Warum auch? Sie ist doch zu keinem Rendezvous gegangen. Sie liebt diesen Doktor doch absolut nicht, warum soll sie sich da schämen?
Und so ruhig und so unbefangen ist sie, daß er sich immer wieder fragt: „Wie soll ich es nur anfangen, um in ihr die Glut zu entflammen.”
Da bemerkt er, daß sie fortwährend auf seine Hände blickt.
„Also auch die,” denkt er im stillen. Er weiß, welche Macht seine Hände auf viele Frauen haben, und daß auch sie denen nun unterliegen wird, erfüllt ihn mit einem stolzen und glücklichen Gefühl des Triumphes.
Und als er ihr dann seine Mappen zeigt, als sie an seiner Seite Platz genommen hat, um mit ihm zusammen jedes Bild zu betrachten, da berührt er wie ganz zufällig mit seiner linken Hand ihre Rechte, und, als merke er es gar nicht, läßt er seine Hand auf der ihrigen ruhen.
Ihr ist, als ginge ein elektrisches Fluidum von seiner Hand aus, sie fängt leise an zu zittern, es beginnt ihr vor den Augen zu flimmern, es singt und summt ihr in den Ohren, ein Prickeln geht durch ihren ganzen Körper, ein süßes Gefühl durchströmt sie und sie hat nur noch einen Gedanken: „Wenn er seine Hand nur nicht wieder fortnehmen möchte.”
Da fühlt sie plötzlich, wie er ihre rechte Hand immer fester und fester drückt, gleichsam wie ein Hypnotiseur, der durch einen Händedruck seinen eigenen Willen auf das Medium übertragen will. Sie weiß selbst nicht, was mit ihr ist, ihre Sinne sind so ruhig und leidenschaftslos wie sonst, aber so wie heute ist ihr doch noch nie gewesen, höchstens neulich nachts, als sie seine Hände zu fühlen glaubte. Immer stärker wird das Flimmern vor den Augen, immer stärker das Singen und Summen in ihren Ohren, immer stärker das prickelnde Gefühl, das ihre Glieder durchdringt. Mit Gewalt will sie sich beherrschen, sie will sich dem Einfluß seiner Hände entziehen, aber sie kann es nicht, sie befindet sich in einer Art Hypnose — ach und es ist ja auch so schön, so unbeschreiblich schön.
Und jetzt streichelt er ihr sogar das Gesicht und ihr Haar, seine schlanken Finger gleiten über ihre Stirn, über ihre Wangen und über ihre Ohren.
Ein halblauter Ruf des Entzückens entschlüpft ihr und, ihr selbst ganz unbewußt, lehnt sie ihren Kopf an seine Schulter.
Sie befindet sich wirklich in einer Art Hypnose, ihre Willenskraft ist erloschen, sie hat nur noch den einen Wunsch: Wenn er doch auch ihren Körper so streicheln möchte, wie bis jetzt ihre Hände und ihr Gesicht.
Dann liegt sie plötzlich vor ihm auf der breiten Chaiselongue. Hat er sie dort hingetragen, oder hat er sie nur hingeführt? Sie weiß es nicht. Wie im Starrkrampf liegt sie da, die Augen geschlossen, während seine Hände sie liebkosen. Ihr schöner Körper zuckt und bebt, ihr Busen hebt und senkt sich, sie hat den Mund halb geöffnet und von Zeit zu Zeit gibt sie einen fast klagenden Ton von sich, wie ein Mensch, der narkotisiert wird, der da weiß, daß er bald ganz willenlos sein wird und doch noch den Versuch macht, sich dagegen aufzulehnen.
Und es ist ja so schön — mein Gott, warum kann nicht auch ihr Max — diese ekelhaften Umarmungen — ach, er versteht sie ja nicht und sie ist doch noch so jung und so schön — ganz bestimmt hätte Max ihr diesen Besuch erlaubt — er ist doch so gut — ob er wohl ahnt, wie glücklich sie jetzt ist — sie tut doch kein Unrecht, und sicher wird er sich in London eine Freundin nehmen, er kann nun doch einmal ohne das nicht leben, und ob sie Max nicht lieber doch nichts sagt, daß sie hier war —
Ihre Gedanken verwirren sich, immer stärker und wilder geht das Zucken und Beben ihres Körpers, immer süßer das heiße Gefühl, das sie durchströmt.
Bis dann plötzlich — sie will aufschreien: „Nein, das nicht, nur das nicht —” Da hält er sie schon in seinen Armen.
Sie ist seine Geliebte geworden!
Gewiß, sie hat auch jetzt bei der Umarmung nichts empfunden, sie hat nur seine Hände gefühlt, die sie umklammerten, und je fester er sie an sich preßte, desto größer war ihr Glück.
Sie ist seine Geliebte geworden! Das hat sie nicht gewollt und er doch ganz sicher auch nicht. Das ist ganz plötzlich über ihn gekommen, wie über sie das andere. Da darf sie ihm auch nicht böse sein, und er hat sie auch nicht voll wilder Leidenschaft an sich gerissen, sondern so zart und feinfühlend. Und er hat ihr doch auch das höchste Glück gegeben, das sie je genoß, da mußte sie ihm doch auch geben, was er von ihr verlangte.
Kein Wort der Klage oder des Vorwurfs kommt über ihre Lippen, bis sie ihn dann plötzlich bittet:„Küsse mich.”
Und er küßt sie so rein und so keusch, wie ein Schüler seine erste Liebe zu küssen pflegt. Sie ahnt nichts davon, daß das Absicht ist. Ein wilder, heißer, sinnlicher Kuß würde sie demütigen, sie beleidigen, ihr zum Bewußtsein bringen, was geschah, ein keuscher Kuß läßt sie weiter träumen.
Und selbst, als sie endlich wieder zu Hause ist, träumt sie immer noch weiter. War es nicht auch wirklich ein Traum, kann man in Wirklichkeit so glücklich sein, wie sie es vorhin war?
Ach, sie ist ja so glücklich, daß sie ihren Georg hat, und ihr Glück wächst von Tag zu Tag, je öfter sie ihn sieht. Gewiß, das gesteht sie sich selbst ein, ihr Glück wäre noch viel größer, wenn er nicht in einer Hinsicht ebenso wäre, wie Max. Aber bei ihm ist es, trotzdem es dasselbe ist, dennoch etwas anderes. Die Umarmungen erscheinen ihr nach und nach nicht mehr ekelhaft, ja, sie findet sogar mit der Zeit ein gewisses Vergnügen daran. Nicht, weil sie sich in ihren Anschauungen geändert hat, o nein, sie denkt darüber genau noch so wie früher, aber bei Georg ist es trotzdem etwas ganz anderes, denn Georg versteht sie.
Und der versteht sie wirklich. Erst gestern hat er es ihr gesagt, als er sie in seinen Armen hielt und als sie ihn da ganz plötzlich und nunvermittelt fragte: „Nicht wahr, mein Georg, du verstehst mich?”
Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, hat er „ja” geantwortet. Und so oft sie ihn in Zukunft wieder fragen wird, sie weiß es im voraus, daß er immer wieder „ja” sagen wird. Und seinem Ja kann sie glauben, denn Georg lügt nicht.
Aber sie braucht Georg gar nicht erst wieder zu fragen, sie glaubt ihm auch so, denn wenn eine Frau liebt, glaubt sie alles, und eine unverstandene Frau glaubt am allerleichtesten, denn wenn die nicht so leichtgläubig wäre, wie könnte sie dann in Wahrheit glauben, unverstanden zu sein?
Das weiß nur eine Frau — wenn sie es weiß.
(1) Schlicht/Baudissin und seine Frau waren im Februar/März 1909 selbst an der Riviera, circa zwei Jahre vor Niederschrift dieser Erzählung. (Zurück)