Der genügsame Diensttuer.

Militärische Humoreske von Freiherr von Schlicht.
in: „Ihre Durchlaucht der Regimentschef” und
in:
„Seine Hoheit”


Leutnant Berger liegt auf seiner Chaiselongue und denkt nach, nein, er denkt nicht nach. Nicht etwa, als ob er nicht die geistigen Fähigkeiten besäße, um denken zu können, nein, das nicht, aber er hat sich das Denken seit einiger Zeit vollständig abgewöhnt. Und das deshalb, weil er zu der Überzeugung und zu der Erkenntnis gekommen ist, daß alles Denken gar keinen Zweck hat. Es kommt ja doch immer anders, und wenn es wirklich einmal so kommt, wie man es sich dachte, was hat es da für einen Zweck, sich erst den Schädel über die Entwicklung der Dinge zu zerbrechen, die sich ganz von selbst entwickeln? Nein, das Denken ist wirklich zwecklos: an seinem eigenen Leib hat er es erfahren. Welche ehrgeizige Pläne erfüllten seine Brust, als er Leutnant wurde! Er wollte sein Wissen und sein Können auf seine Untergebenen übertragen, sie sollten viel bei ihm lernen, und sie selbst sollten für ihn das Sprungbrett sein, von dem er hinaufschnellte zu hohen militärischen Stelle in der Armee. Aber sein Hauptmann war mit seiner Erziehungsmethode nicht einverstanden. Gewiß, das Reglement verlangt die Selbständigkeit der Unterführer als etwas unbedingt Nötiges, aber diese Selbständigkeit darf natürlich nie dahinführen, daß der Untergebene wirklich selbständig wird. So duckte und duckte er denn seinen Leutnant immer tiefer und tiefer, und mit dem Hauptmann duckte ihn der Major, und mit dem Major der Herr Oberst, und sie duckten ihn so lange und so tief, bis er sich eines Tages sagte: mag die Armee sehen, wie sie ohne mich fertig wird. Ich nehme zwar nicht meinen Abschied, denn ich wüßte nicht, was ich sonst anfangen sollte, aber ich gelobe es mir von dieser Sekunde an, nie wieder einen selbständigen Gedanken zu haben, überhaupt nie wieder etwas zu denken. Ich tue meine Pflicht, ich halte den Dienst ab, der mir angesetzt wird, und im übrigen pfeife ich aufs Ganze.

Und von der Minute an erfreute Leutnant Berger sich der größten Beliebtheit bei allen seinen Vorgesetzten. Früher hatte der heilige Eifer, der ihn beseelte, diese oft in Verlegenheit gebracht. Man mußte ihn auf der einen Seite loben, auf der anderen Seite aber in ernstester Weise darauf aufmerksam machen, daß der Einzelne sich im Interesse des Ganzen der Gesamtheit unterzuordnen habe. Und da das schwer zu vereinen war, und da man nicht nur loben wollte, war man ihm schließlich nur grob geworden. Und das Grobwerden hatte bei ihm geholfen, denn jetzt konnte man ihn stets nur loben, und sie lobten ihn um so lieber, als Berger ja das glänzendste Beispiel dafür war, daß aus einem auf den falschesten Wegen wandelnden Offizier bei richtiger Erziehung etwas Bedeutendes werden kann.

Die Vorgesetzten waren sehr stolz auf ihn, denn welcher Mensch ist nicht stolz auf das Produkt seiner Erziehung?

Berger ist aus einem ehrgeizigen Offizier, der die Absicht hatte, weit mehr als nur seine Pflicht zu tun, ein genügsamer Diensttuer geworden, der sich damit genügen läßt, seinen Dienst zu tun, und nicht den Ehrgeiz besitzt, seine allgemeine Bildung oder seine militärischen Kenntnisse irgendwie zu bereichern.

Leutnant Berger liegt auf seiner Chaiselongue und pfeift auf das Ganze. Zwischendurch denkt er über die Umwandlung, die im Laufe der Jahre mit ihm vorgegangen ist, zwar nicht weiter nach, denn alles Denken haben die Vorgesetzten, als im Interesse der Armee zu selbständig, in ihm unterdrückt; nein, aber so etwas Ähnliches wie Gedanken beschäftigen doch bei ihm die Stelle, wo früher sein Gehirn saß.

Und der Gedanke, oder besser gesagt das Gefühl, das ihn beseelt, ist: Wie bin ich glücklich; wie schön ist es jetzt, Leutnant zu sein!

Wie hatte er sich früher geärgert, wenn er vor versammelter Mannschaft oder im Kreise der Kameraden angeschnauzt wurde, wenn man alles, was er vorbrachte, lediglich schon deshalb für Unsinn erklärte, weil es von der Schablone abwich und weil es seinem eigenen Gehirn und nicht dem der Vorgesetzten entsprang! Wie hatte es ihn gekränkt, wenn die Kameraden und auch die sogenannten wohlwollenden Vorgesetzen, die es angeblich wirklich gut mit ihm meinten, ihn nur deshalb für einen Streber hielten, weil er den Wunsch besaß, seine eigene Persönlichkeit, sein Wissen und Können irgendwie zur Geltung zu bringen! Wie oft hatte er da die Fäuste geballt und an dem Verstand der Vorgesetzten, an einer freundschaftlichen Zuneigung der Kameraden gezweifelt!

Und nun ist er der Liebling aller. Erst heute morgens hat ihn der Oberst in einer langen Rede wieder über den grünen Klee gelobt, weil er sich streng an die bestehenden Vorschriften gehalten und sie auf das genaueste ausgeführt hatte, obgleich sie nach seiner tiefinnersten Ueberzeugung falsch und töricht waren. Als ein glänzendes Beispiel treuester Pflichterfüllung, als das Muster eines Offiziers war er allen hingestellt worden. Und deutlich hatte er in den Gesichtern der Kameraden gelesen, daß sie ihm das Lob gönnten. Seitdem er keinen Ehrgeiz mehr hat(1), seitdem er es nicht mehr wünscht, irgendwie sein Licht leuchten zu lassen, ist er für sie der beste Kamerad, den sie sich nur wünschen können. Er ist ebenso wie sie ein Herdentier geworden, er läuft dahin, wohin er getrieben wird, und er grast mit seinen Leuten die Stelle ab, die man ihm zuweist. Und wenn dann der Hirte mit seinem Stab, pardon! der Vorgesetzte mit seinem Säbel das Zeichen gibt, daß es für heute genug ist, dann trabt er mit den anderen seinem Stall, seiner Wohnung entgegen, und da bleibt er ruhig und friedlich, bis das Horn des Hirten ihn von neuem aus dem Stall ruft.

Er ist glücklich und pfeift auf das Ganze. Nicht in dem stolzen Bewußtsein, seine Pflicht zu tun, sondern lediglich, weil er wunschlos geworden ist. Was das Schicksal ihm auch in Gestalt von Dienst­obliegenheiten aller Art bringt, er hadert nicht, er schimpft und flucht und räsoniert nicht, er tut alles, was von ihm verlangt wird, aber auch ohne jedes Widerstreben. Er ärgert sich über nichts, aber er freut sich auch über nichts. Ein Tag geht für ihn dahin wie der andere.

Ohne sich irgendwie etwas dabei zu denken, erteilt er seine Kommandos und korrigiert deren Ausführung. Er sieht nie nach der Uhr, ob die für den Dienst festgesetzte Zeit noch nicht herum ist, und wenn die Uhr dann doch schlägt, ist ihm dies ganz gleichgültig; dann ist der Dienst eben beendet. Ob er auf dem Kasernenhof steht oder ob er zu Hause auf der Chaiselongue liegt, das ist für ihn kein Unterschied. Daheim erwarten ihn keine Freuden, und der Dienst bringt ihm keinen Ärger. Für ihn ist alles dasselbe.

Er lebt, das ist alles. Aber für ihn ist das die Hauptsache, und er macht sich gar nicht klar, daß andere Leute dieses Leben nicht einen Monat geschweige denn Jahr für Jahr aushalten können, daß das für sie überhaupt gar(2) kein Leben ist. Er würde sie verständnislos ansehen: er ist glücklich, er ist es geworden dank der Erziehung seiner Vorgesetzten, denen die genügsamen Diensttuer die liebsten Untergebenen sind, weil sie nicht denken und infolgedessen zu allem Ja und Amen sagen.

Für die Armee sind die genügsamen Diensttuer von dem allergrößten Werte, denn sie geben dafür Gewähr, daß keine selbständigen Gedanken aufkommen, Gedanken, die nur dazu beitragen können, das Denken in der Armee allgemein einzuführen. Das aber darf im Interesse der Disziplin und der Subordination nicht sein . . .

Leutnant Berger liegt auf seiner Chaiselongue. Er ist glücklich und pfeift auf das Ganze.


Fußnoten:

(1) In der Fassung von „Seine Hoheit” heißt es hier: „hatte”. (Zurück)

(2) In der Fassung von „Seine Hoheit” fehlt das Wort „gar”. (Zurück)


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