Militärhumoreske von Freiherr von Schlicht.
in: „Zur guten Stunde”, Jahrgg. 1901, Seite 232 - 236,
in: „Die Fahnenkompagnie” und
in: „Meiers Hose”
Der Kommandeur des Infanterie-Regiment von Dingsda, Oberst von Bosse, gab in den Räumen des Offizierskasinos einen großen Ball, mit dem die diesjährige Gesellschafts-Saison abschloß. Er tat's der Not gehorchend, nicht dem eigenen Triebe, denn er für seine Person haßte alles, was Gesellschaft hieß. Man hatte nach seiner Ansicht nur Schererei und Unruhe davon, und eine Stange Geld kostete das sogenannte Vergnügen auch noch. So hatte er denn gestreikt, so lange er konnte, aber schließlich hatte er den Vorstellungen seiner Frau und den Bitten seiner Tochter doch nachgegeben. Die erstere wollte den Ball aus praktischen Gründen für ihre Tochter, die letztere wollte lediglich tanzen und sich amüsieren. So fand der Ball statt, und die Wirte empfingen nun ihre Gäste: Mutter und Tochter liebenswürdig und heiter, der Herr Oberst aber mit einem Gesicht, das er für gewöhnlich nur dann zu machen pflegte, wenn bei dem Parademarsch in der Regimentskolonne die beiden jüngsten Leutnants mit den Fahnenträgern trotz aller Ermahnungen nicht geradeaus gingen. Das konnte er nämlich auf den Tod nicht vertragen. Jetzt befand er sich in einer eben so schlechten Stimmung, und seine Laune wurde dadurch nicht besser, daß er beständig Hände küssen und drücken und fortwährend seiner Freude über das Erscheinen seiner Gäste Ausdruck geben mußte. In seinem tiefinnersten Innern wünschte er alle zum Teufel.
„Aber Alfred,” ermahnte ihn seine Frau, eine große, schlanke Erscheinung, jetzt mit halblauter Stimme, „nimm dich doch etwas zusammen, was sollen die Gäste denken, wenn du sie mit einer solchen bärbeißigen Miene willkommen heißt.”
„Du kannst ihnen ja hinterher erzählen, ich hätte Zahnschmerzen oder Magenverstimmung,” gab er ebenso leise zurück. „Du weißt, ich habe kein Talent, mich zu verstellen.”
In demselben Augenblick trat der Regimentsadjutant heran, der heute abend als maître de plaisir fungierte: „Herr Oberst, die jungen Damen werden ungeduldig. Darf ich der Musik das Zeichen zum Beginn geben?”
„Nur immer los, Meidlich, nur immer los,” erwiderte der Kommandeur. „Je eher daran, desto eher davon. Das heißt, ich meine — — —” verbesserte er sich, als seine Frau ihm einen strafenden Blick zuwarf. „Na, Sie kennen mich ja, Ihnen gegenüber brauche ich keine Komödie zu spielen. Also lassen Sie anfangen. Aber was ich Sie noch fragen wollte, haben Sie der Division telegraphiert und ihr mitgeteilt, daß wir für die befohlene dreitägige Schießübung nur zehntausend Patronen zur Verfügung haben?”
„Zu Befehl, Herr Oberst, und die Division hat auch bereits geantwortet. Sie macht dem Regiment den Vorwurf, mit der Munition nicht sparsam genug umgegangen zu sein. Nach ihrer Berechnung müßten wir wenigstens noch zwölftausend Patronen haben?”
„Das ist ja eine schöne Geschichte,” schalt der Kommandeur ingrimmig. „Notieren Sie gleich, morgen mittag um zwölf Uhr wünsche ich die Herren Bataillonskommandeure, die Herren Hauptleute und die Schießunteroffiziere im Bureau zu sprechen, und vertraulich können Sie bekannt machen, daß es ein heilloses Unglück gibt, wenn sich bei der Gelegenheit nicht herausstellt, wo die fehlenden Patronen geblieben sind.”
„Aber Papa, können wir denn immer noch nicht anfangen? Herr Leutnant Meidlich, wo bleiben Sie denn nur?”
Fräulein Lisbeth, das einzige Kind des Herrn Oberst, war herangetreten und ergriff nun den Arm ihres Vaters: „Nicht wahr, Papa, die Musik darf anfangen?”
Der Herr Oberst sah das Gesicht seiner Tochter, aber selbst die freudige Erregtheit, die aus ihren Zügen sprach, war nicht imstande, seine schlechte Laune zu verjagen: „Hast du es denn so eilig mit dem Tanzen? Na, meinetwegen, fangt an, aber das sage ich Ihnen, Meidlich, wenn die Sache mit den Patronen morgen mittag nicht in Ordnung kommt, dann gibt es mehr als ein Unglück.”
Aber der Adjutant hörte die letzten Worte garnicht mehr, Fräulein Lisbeth hatte ihn bereits mit sich fortgezogen, und gleich darauf ertönten die ersten Walzerklänge. Einen Augenblick sah der Herr Oberst dem Tanz zu, dann schritt er nach dem Spielzimmer, in dem im Auftrage des Gastgebers ein Hauptmann es übernommen hatte, die älteren Herren zu den verschiedenen Skat- und l'Hombre-Partien zusammenzubringen.
„Dann ist ja alles in schönster Ordnung,”dachte der Herr Oberst, „da könnte ich ja eigentlich mich auf drei Stunden, bis zu Tisch gegangen wird, drücken und nach Hause gehen. Dort habe ich mehr als genug zu tun, hier gar nichts. Vermissen wird mich schon niemand, wenn ich in dem einen Zimmer gesucht werde, bin ich eben in dem anderen gewesen. Die Idee ist gar nicht so schlecht, ich schlage mich seitwärts in die Büsche, vorher zeige ich mich aber noch einmal ostentativ in allen Festräumen.”
Und so leutselig, so heiter und so liebenswürdig, wie er den ganzen Abend noch nicht war, schritt er durch alle Zimmer, um dann mit einemmale spurlos von der Erdoberfläche zu verschwinden. Unbemerkt war in das Billardzimmer geschlüpft! „Herrgott, ist das hier eine Finsternis,” schalt er im stillen, „warum brennt denn hier nicht eine einzige Gasflamme? Das ist ja unerhört, wie soll ich denn da die Tür finden, die auf den Korridor führt — — — nur auf diesem Wege kann ich unbemerkt fortkommen.”
Er tastete im Dunklen weiter, und plötzlich hätte nicht viel gefehlt, so hätte er der Länge nach auf der Erde gelegen, denn ehe er überhaupt wußte, wie ihm geschah, bekam er einen kräftigen Fußtritt.
„Au!” rief der Herr Oberst, denn der Stoß hatte ihn an einer sehr empfindlichen Stelle getroffen. Gleich darauf aber stand er unbeweglich und lauschte mit angehaltenem Atem. Gottlob, es kam niemand, sein Fluchtversuch wurde nicht vereitelt.
„Ist hier jemand?” fragte er mit halblauter Stimme.
Die Frage war überflüssig, denn der „jemand” hatte seine Anwesenheit ja deutlich verraten, aber er fragte dennoch — — — die Antwort blieb jedoch aus.
Der Herr Oberst griff in die Tasche, holte ein Streichholz hervor, zündete eine der Gasflammen an und sah sich im Zimmer um. Und plötzlich weiteten sich seine großen Augen mehr und mehr: in einem Schaukelstuhl lag der Länge nach der dicke Leutnant Schmidt und schlief den Schlaf des Gerechten. Er hatte sich den Waffenrock aufgeknöpft, die Halsbinde gelöst und hatte es sich so bequem wie nur möglich gemacht.
„Da hört sich denn doch aber alles auf,” dachte der Herr Oberst. „Ich lade meine Offiziere zum Tanzen ein, und der dicke Schmidt legt sich hier hin und schläft. Na, den will ich schnell wach bekommen.”
Der Schläfer mochte erraten haben, daß er nicht mehr allein sei. Für den zahnten Buchteil einer Sekunde öffnete er das eine Auge ein klein wenig, um es gleich darauf wieder fest zu schließen: „Sie, Ordonnanz, machen Sie mal gleich wieder das Gas aus, das stört mich, und wenn es Zeit zum Essen wird, dann wecken Sie mich. Zu trinken können Sie mir schon eher etwas bringen, verstanden? Und nun, Licht aus!”
Das klang so energisch, daß der Herr Oberst unwillkürlich den Gashahn zudrehte, so daß die Flamme erlosch. Un dmit einem Male durchfuhr ihn ein Gedanke. Er hatte vorhin einen zweiten großen Schaukelstuhl entdeckt, auf dem wollte er es sich bequem machen, besser war es vielleicht doch, wenn er wenigstens noch vorläufig in der Nähe seiner Gäste blieb. Gleich darauf rückte er den Stuhl zurecht und streckte sich in demselben aus.
„Was machen Sie denn da eigentlich für einen Skandal, Ordonnanz?” fragte der dicke Schmidt. „Scheren Sie sich gefällgst hinaus, ja?”
Einen Agenblick überlegte der Herr Oberst, ob er etwas entgegnen solle, dann sagte er, einem plötzlich Einfall folgend: „Schmidt, ich bin's ja!”
„Ach so, Sie sind's?” klang es gelassen zurück, „warum sagen Sie das denn aber nicht gleich? Den Fußtritt haben Sie weg, das läßt sich ja nun nicht mehr ändern, na, nichts für ungut.”
Der dicke Schmidt mußte an dem Klang der Stimme einen seiner guten Freunde erkannt zu haben glauben, denn er fragte gar nicht weiter nach dem Namen. „Ach so, Sie sind's ” wiederholte er noch einmal, „dann schlafen Sie nur. Hierher kommt kein Mensch. Na, gute Nacht.”
„Gute Nacht,” wiederholte der Herr Oberst, aber er schlief doch nicht. Er wußte nicht, ob er sich über seinen faulen Leutnant ärgern oder sich über ihn amüsieren sollte. Faul war der dicke Schmidt´, der tat in und außer Dienst keinen Schritt mehr, als er unbedingt mußte, eigentlich war es doch ein starkes Stück, eine Einladung zum Ball anzunehmen, und sich dann hier schlafen zu legen.
„Schlafen Sie schon?” fragte der dicke Schmidt nach einer langen Pause. „Diese infame Musik macht einen niederträchtigen Radau. Na, überhaupt solch Lämmerhops, das fehlte nur noch, daß man da selbst mitspringt — — — da kann der Oberst lange warten. Und zu trinken gibt es auch nichts. Zur Strafe dafür, daß Sie mich in meinen schönsten Träumen störten, könnten Sie eigentlich einmal nach einer Ordonnanz klingeln.”
Doch der Herr Oberst, der kein Verlangen daenach trug, hier gesehen zu werden, lehnte dankend ab: „Lassen wir das lieber. Daß ich Sie störte, tut mir ja aufrichtig leid. Was träumten Sie denn gerad?”
„Mir träumte, ich brauchte an der dreitägigen Schießübung, die die Division befohlen hat, nicht teilzunehmen.”
Dem Kommandeur fielen die fehlenden Patronen wieder schwer aufs Herz, trotzdem sagte er nur: „Schmidt, Sie sind zu faul.”
„Sie etwa nicht?” fragte der andere gelassen, „das wollen Sie mir doch nicht einreden, daß Sie freiwillig mitgingen, wenn sich Ihnen nur eine Möglichkeit böte, zurücktreten zu können. Ich aber bleibe hier, ich glaube an Träume. Wie ich es anfangen werde, mich zu drücken, ist mir allerdings noch schleierhaft, aber mir wird schon etwas einfallen.”
„Da bin ich aber neugierig,” meinte der Oberst, und im stillen schwur er sich einen Eid, senen Leutnant selbst dann an der Übung teilnehmen zu lassen, wenn dieser sich etwa krank melden sollte. Dann aber brachte er gewaltsam das Gespräch auf etwas anderes. Dienstliche Dinge hier zu berühren, konnte unter Umständen doch etwas gefährlich werden. So sagte er denn: „Was meinen Sie, Schmidt, wollen wir nicht doch lieber einen Augenblick in den Saal gehen und uns dort zeigen? Einen Walzer wenigstens sind wir den jungen Damen doch schuldig. Gehen Sie voran, ich komme gleich nach.”
Dem Kommandeur fing dieses Tête à tête mit seinem Leutnant an ungemütlich zu werden. Wenn Schmidt seinen Vorschlag annahm, konnte auch er sich entfernen. Ihm mußte jetzt noch mehr als vorhin daran liegen, nicht gesehen und nicht erkannt zu werden.
Aber der dicke Schmidt lehnte ab: „Nichts zu machen, lieber Freund, nichts zu wollen. Ich bin vielen Leuten etwas schuldig, Gott sei es geklagt, aber den Damen einen Walzer? Nicht daß ich wüßte. Und wer ist denn überhaupt von den jungen Damen da? Doch eigentlich nur die Lisbeth, na, Sie wissen ja, auf die lasse ich nichts kommen, die söhnt mich sogar damit aus, daß sie den Oberst zum Vater hat. Wie kommt der Mann zu der Tochter? Verstehe ich nicht.”
Der Oberst hatte sich in seinem Stuhle aufgerichtet und starrte durch das Dunkel nach der Stelle, wo sich der dicke Schmidt befinden mußte. Das waren ja schöne Dinge, die er da zu hören bekam, er mußte den Mund halten, er durfte sich nicht verraten. Daß sein Leutnant Schulden hatte und auf ihn schalt, war ihm nicht gerade angenehm, aber daß der Faulpelz da drüben in dem Lehnstuhl sich für seine Tochter zu interessieren schien, ging ihm denn doch über den Spaß. Und mit einem Male sträubten sich dem Herrn Oberst fast die Haare, Plötzlich fiel ihm ein, wie warm seine Tochter den dicken Schmidt stets in Schutz nahm, wenn zu Hause das Gespräch einmal auf ihn kam und wenn er seinem Unmut über den geistig zwar sehr befähigten, aber körperlich sehr trägen Offizier Luft machte. Sollte seine Tochter sich etwa für den Leutnant interessieren? Das konnte, das durfte nicht sein, und allen Gedanken, die in diesem Augenblick auf ihn einstürmten, gab er Ausdruck, indem er fast gegen seinen Willen „Lisbeth!” rief.
Da aber kam er schön an. „Erlauben Sie 'mal,” klang es da aus dem anderen Schaukelstuhl, „so haben wir denn doch nicht gewettet. Für Sie ist die junge Dame nicht ,Lisbeth', sondern Fräulein von Bosse, und wenn Sie etwa die Absicht haben sollten, mir da in den Weg zu kommen, wie es nach Ihrem Seufzer fast den Anschein hat, so warne ich Sie. So ohne weiteres lasse ich mich da nicht aus dem Felde schlagen, das merken Sie sich, bitte.”
„Na, beißen Sie doch nicht gleich,” versuchte der Oberst, der zuerst überhaupt nicht wußte, was er sagen sollte, zu scherzen, „ich meinte doch nur — — — —”
„Und ich meinte ja auch nur,” unterbrach ihn der dicke Schmidt, „dann sind wir uns ja wieder einig, und das ist nur gut, denn von Streitigkeiten zwischen Kameraden, besonders zwischen so alten Freunden, wie wir sind, halte ich nicht viel. Nun ist ja alles wieder in schönster Ordnung, wir wollen einmal auf Fräulein Lisbeths Wohl anstoßen, ich werde etwas zu trinken holen. Es ist hier zwar niederträchtig finster, aber den Weg zur Sektflasche werde ich schon noch finden. Und dann soll die Ordonnanz hier Licht machen, oder haben Sie noch ein Streichholz, Bolten?”
„Also, für den hat er mich gehalten,&rdquo dachte der Oberst, dann bedauerte er, nicht dienen zu können.
„Na, es geht auch so — — — verwünscht noch mal, was steht denn hier im Wege, da stößt man sich ja die Kniescheibe ein, — — — hier ist endlich die Tür, in einer Minute komme ich wieder.”
Aber als der dicke Schmidt mit einer Ordonnanz zurückkam, Gas anzünden ließ und in der erhobenen Rechten triumphierend eine Sektflasche schwang, war der andere verschwunden. Verwundert sah er sich um. „Na, aber so was,” sagte er, „läuft der Bolten wahrhaftig vor einer vollen Flasche davon. Na, mir kann's recht sein, ich werde schon allein mit ihr fertig.”
Und bei der Flasche Schaumwein blieb er sitzen, bis eine Ordonnanz ihm meldete, daß gleich zu Tisch gegangen würde. Da verließ er seinen Schlupfwinkel und begab sich in den Saal zurück, mit einem seidenen Tuch die Stirn trocknend, als sei er vom Tanzen erhitzt. Gleich darauf gaben die Fanfaren das Zeichen, daß serviert sei, und mit Verwunderung sah der dicke Schmidt, daß Fräulein Lisbeth vergebens auf ihren Tischherrn wartete. Er eilte auf sie zu: „Gnädiges Fräulein, darf ich Sie bitten, mir den Namen Ihres Herrn zu nennen, ich werde ihn suchen und zu Ihnen führen.”
„Denken Sie sich nur, Herr Leutnant,” gab sie halb ärgerlich, halb belustigt zur Antwort, „jeder der Herren scheint angenommen zu haben, daß ich schon engagiert sei, so bin ich sitzen geblieben.”
„Aber das ist ja herrlich, gnädiges Fräulein — — — ich meine, solches Glück kann auch nur ich haben. Ich sag's ja immer, es hat gar keinen Zweck, sich Hacken und Zehen abzulaufen, was der Mensch haben soll, bekommt er doch.”
Er hatte ihr den Arm geboten und sie zu einem der kleinen Tische geführt, an denen das Souper serviert wurde, und plauderte in seiner heiteren Sektstimmung fröhlich darauflos.
„Wo haben Sie denn eigentlich den ganzen Abend gesteckt, Herr Leutnant?” erkundigte sich Fräulein Lisbeth. „Ich habe oft nach Ihnen ausgesehen, aber Sie nicht ein einziges Mal entdeckt.”
„Ich hatte sehr starkes Nasenbluten,” log er.
Sie erhob drohend den Finger und sah ihn mit ihren schönen Augen schelmisch lächelnd an, so daß er verlegen den Blick senkte. „Das heißt,” sagte er, „Nasenbluten war es eigentlich nicht, aber ich fürchtete, ich würde es bekommen, und da — — — und da — — —”
„Zogen Sie es vor, Karten zu spielen, nicht wahr?” unterbrach sie ihn.
„Wenn Sie denn die Wahrheit wissen wollen — — — ja. Aber die Wahrheit ist das eigentlich auch nicht. Ich weiß nicht, woran es liegt, es wird mir schwer, Sie zu belügen. Fragen Sie mich, bitte, nicht weiter, lassen wir die jüngste Vergangenheit ruhen, genießen wir den Augenblick.”
Sie stimmte ihm bei, sie freute sich, an seiner Seite zu sitzen, ihn in ihrer Nähe zu haben, und so unglücklich sie zuerst gewesen war, als Tochter des Gastgebers nicht engagiert zu sein, so froh war sie jetzt, daß Leutnant Schmidt ihr Nachbar war.
Und wie es dem Fräulein Lisbeth ging, so ging es auch dem dicken Schmidt, er war von einer ausgelassenen Heiterkeit, und beide äußerten ihren Unmut, als schon nach einer halben Stunde die Tafel aufgehoben wurde.
„Den Tischwalzer aber müssen Sie mit mir tanzen, Herr Leutnant.”
Er stöhnt auf in unnennbarem Weh: „Muß das sein, gnädiges Fräulein?”
„Ja, ja,” gab sie zur Antwort.
Da fügte er sich in das Unvermeidliche. Aber als er jetzt mit ihr nach den Klängen des Walzers dahintanzte, als er ihre schlanke, graziöse Gestalt in seinen Armen hielt, als er in ihr süßes Gesicht und in ihre leuchtenden Augen blickte, als er es wagte, ihre Hand zu drücken und einen sanften Gegendruck zu verspüren glaubte, da vergaß er, daß er sich fest vorgenommen hatte, höchstens einmal „die Bahn zu nehmen”. Er tanzte, bis sie ihn schließlich bat, aufzuhören.
„Das hätte ich Ihnen nie zugetraut, daß Sie ein so guter und vor allen Dingen ein so leidenschaftlicher Tänzer sind.”
„Ich mir auch nicht, gnädiges Fräulein,” stimmte er ihr bei. „Ich glaube, Sie allein sind die Veranlassung, daß ich plötzlich das Talent zu einem Ballettänzer in mir entdeckte. Wenn Sie gestatten, tanzen wir auch den nächsten Walzer zusammen.”
Sie nickte ihm freundlich zu, und bis zum Schluß des Balles wich er nicht von ihrer Seite.
Es war sehr spät, als endlich das Fest sein Ende erreichte. Als letzte verließen der Herr Oberst und seine Damen das Kasino, aber während Frau von Bosse und ihre Tochter sich lebhaft miteinander unterhielten, saß der Oberst schwigend in seiner Wagenecke.
„Was hast du nur, Alfred?” fragte seine Frau, „du hättest doch jede Ursache, über den schönen Verlauf des Balles sehr froh zu sein. Alle haben sich herrlich amüsiert, sogar Leutnant Schmidt hat fleißig getanzt, das ist das beste Zeichen, daß Stimmung vorhanden war. Leutnant Schmidt hat heute abend auf mich überhaupt einen sehr guten Eindruck gemacht.”
„Auf mich nicht,” knurrte der Oberst, dann versank er wieder in tiefes Schweigen. Mit einem Male aber wurde er lebendig. „Herrgott, wie ist es nur möglich, daß mir das erst jetzt einfällt! Der dicke Schmidt muß wissen, wo die fehlenden zweitausen Patronen sind. Als er damals hier das Wachtkommando hatte, sind sie ihm übergeben worden, und er hat es natürlich verbummelt, sie wieder abzuliefern. Na, Schmidt, freue dich, mit dir werde ich morgen einmal ein ernstes Wort reden, ich habe heute abend überhaupt so manches gesehen und gehört, was mir an dir nicht gefällt.”
„Vater,” bat Lisbeth, „sei nicht so hart mit ihm, du kennst ihn nicht, du weißt nicht, wie nett er ist, viel, viel netter, als alle anderen.”
„Lisbeth, darüber werde ich mit deinem Vater sprechen,” nahm Frau von Bosse das Wort, und sie mußte ihr Versprechen gehalten haben, denn als der Herr Oberst am nächsten Mittag mit dem Herrn Leutnant Schmidt auf dem Regimentsbureau sprach, war er zuerst in der Freude seines Herzens, seine Patronen wiederzuhaben, sehr milde und nachsichtig. Nach und nach redete er sich aber doch in Zorn hinein, umsomehr, als der Adjutant abgerufen wurde und er mit dem Sünder allein war: „Solche Bummelei gibt es überhaupt nicht wieder — — — ein Glück, daß die Patronen wieder da sind, sonst hätte ich Sie eingesperrt. Sie sind überhaupt zu träge, zu faul — — — anstatt zu tanzen, setzen Sie sich hin und schlafen, stoßen mit den Füßen, trinken Champagner, sprechen von Ihren Schulden, schelten auf Ihren Oberst, wünschen, sich vom Dienst befreit zu sehen, und genieren sich nicht, zu erzählen, daß Sie in meine Tochter verliebt sind. Und einem solchen Leutnant soll ich mein einziges Kind geben? Da können Sie lange warten.”
„Ei verflucht.”
Das war alles, was der dicke Schmidt voller Schrecken denken konnte, und wider Willen entschlüpften ihm diese Worte. Er hatte sich heute vormittag bei Bolten erkundigt, warum denn der so plötzlich aus dem Billardzimmer geflohen sei, der hatte geleugnet, überhaupt dort gewesen zu sein, und seit Stunden zerbrach er sich den Kopf, mit wem er gestern zusammen gesessen hatte. Nun wußte er es!
Der dicke Schmidt machte ein maßlos dummes Gesicht, und sehr intelligent sah der Herr Oberst auch nicht aus. Nun hatte er sich doch hinreißen lassen, alles zu sagen, was er auf dem Herzen hatte. Es wäre besser und diplomatischer gewesen, zu schweigen. Und so sagte er denn jetzt: „Vergessen Sie, was ich Ihnen gegenüber soeben äußerte, ich will dann auch vergessen, was ich gestern aus Ihrem Munde hörte.”
„Zu Befehl, Herr Oberst,” klang es da zurück, „ich habe bereits vergessen, und daß der Herr Oberst ebenfalls vergessen wollen, finde ich sehr liebenswürdig. Nur eins bitte ich ganz gehorsamst nicht zu vergessen, daß ich Fräulein Lisbeth liebe und glücklich sein würde, sie einst mein zu nennen.”
„Sie sind nicht gescheit,” rief der Oberst, „Sie sind mir viel zu dick, ein so dicker Leutnant macht keine Karriere, und einem Offizier, der keine Zukunft hat, gebe ich meine Tochter nicht.”
„Wenn das der einzige Hinderungsgrund ist, da bitte ich gehorsamst um sechs Wochen Urlaub nach Karlsbad. Dort werde ich schon schlank werden. Wenn der Herr Oberst gestatten, fahre ich gleich heute abend.”
Der Kommandeur stand einen Augenblick in tiefes Nachdenken versunken, dann sagte er: „Allzu bescheiden sind Sie gerade nicht, und was Sie jetzt schon Ende April in Karlsbad wollen, weiß ich nicht recht, die Witterung ist für die Kur noch nicht günstig. Aber trotzdem können Sie heute reisen, ich werde Ihr Gesuch bei den höheren Instanzen warm befürworten. Reisen Sie, und wenn Sie dünner geworden sind, und wenn Sie über mein Kind nach sechs Wochen noch ebenso denken wie heute, und wenn die Lisbeth sich dann auch noch nicht eines anderen besonnen hat, dann, na, dann meinetwegen. Die Hauptsache ist für mich, mein Kind glücklich zu wissen. Und nun danke ich Ihnen sehr, Herr Leutnant.”
Abends um sechs Uhr fuhr der dicke Schmidt auf Urlaub, und in derselben Minute, in der der Zug sich in Bewegung setzte, schlug der Herr Oberst zu Hause dröhnend mit der Faust auf den Schreibtisch. Nun war der Traum des dicken Schmidt doch in Erfüllung gegangen, nun brauchte er an der dreitägigen Übung, die die Division befohlen hatte, doch nicht teilzunehmen.