Humoristisch-satirische Plauderei von Freiherr von Schlicht
in: „Die süssen kleinen Mädchen — Was sie bereuen”
Abwechselnd blaß und rot werdend, die Hände fest zusammengepreßt, stand Deta, die nun schon siebzehnjährige Tochter des Oberregierungsrates von Alten in ihrem entzückend eingerichteten Zimmer und überlegte es sich nun schon seit fast mindestens fünf Minuten, ob sie aus Empörung über die ihr von der Mutter zugefügte Beleidigung, sie sei trotz ihrer siebzehn Jahre, oder gerade weil sie erst siebzehn wäre, weiter nichts als ein dummer Backfisch, ja, Deta wußte es immer noch nicht, ob sie über diese beleidigenden Worte ihrer Mutter in Tränen ausbrechen, ob sie über die lachen, oder ob sie über die ganz einfach zur Tagesordnung übergehen solle, bis sie sich nun dazu entschloß, ihrer Empörung, ihrem Unwillen und allem, was sich sonst noch in ihr angesammelt hatte, dadurch Luft zu machen, daß sie sich die Nägel ihrer hübschen schlanken Finger fest in das Fleisch der zur Faust zusammengeballten Hände hineinpreßte, so fest, daß es beinahe weh tat und daß sie dann mit ihren hübschen kleinen Füßen, die in kleinen Halblackschuhen steckten, so wütend auf dem Fußboden hin und her trampelte, daß ihre Mutter es ruhig hören konnte, wie wütend sie war. Ja, ihre Mutter konnte das nicht nur ruhig hören, die sollte es sogar ruhig hören, obgleich sie, Deta, es sich leider eingestehen mußte, daß ihre Mutter es nicht hören würde, da der weiche Teppich, der den ganzen Fußboden bedeckte, das Geräusch, das ihre strampelnden Füße hervorrief [sic! D.Hrsgb.], derartig dämpfte, daß auch nicht der leiseste Schall nach außen drang. Das war gemein und unter diesen Umständen hatte es eigentlich wenig Zweck, weiter zu strampeln, aber sie strampelte dennoch, denn vielleicht würde sie dadurch, daß sie nun den Versuch machte, ihrerseits ihre Mutter zu ärgern, ihren eigenen Ärger los werden. Ja, sie wollte ihre Mutter ärgern, obgleich die sonst die beste aller Mütter war, aber heute hatte die es wirklich verdient, daß sie, ihre Deta, gegen sie unartig war, denn wie hatte ihre Mutter sich nur so anstellen können, als die dahinter kam, daß der Brief, den sie mit der zweiten Post erhielt, als sie im Zimmer ihrer Mutter saß, von dem auffallend hübschen jungen Studenten war, den sie vor etwa acht Tagen ganz zufällig kennen lernte, als sie ihm zum erstenmal auf der Straße begegnete und dabei absichtlich ihr Taschentuch verlor, damit er es ihr aufhöbe und damit sich daraus vielleicht eine kurze Unterhaltung entwickle. Und nicht nur die hatte sich daraus entwickelt, sondern sogar ein Wiedersehen am nächsten und am übernächsten Tage und auch gestern hatten sie sich wieder sehen wollen. Sie hatte es ihm fest versprochen, denn er hatte so wunderhübsche lachende blaue Augen und er hatte einen so himmlischen Durchzieher auf der linken Wange und er ging so auffallend gut angezogen und außerdem blieb er höchstens nur noch vierzehn Tage hier. Er hatte, wie er ihr erzählte, hier eine ganz alte Tante mit begraben, er mußte nun noch etwas Familie simpeln und war mehr als froh, daß diese Trauerreise, vor der ihm mächtig gegraut hatte, nun durch sie einen so lustigen und netten Verlauf nahm, daß er seiner alten Tante gar nicht mehr böse sein konnte, weil sie schon jetzt gestorben war, schon jetzt, noch bevor sie Zeit gefunden hätte, in ihrem Testament auch seiner zu gedenken. Ja, auch gestern hatte sie sich mit ihm treffen wollen, sie war schon fix und fertig zum Ausgehen angezogen gewesen und hatte sich wie immer besonders hübsch für ihn gekleidet. Sie hatte ein entzückendes Schneiderkleid angelegt, das er noch nicht kannte und das ihre mittelgroße schlanke Gestalt zur besten Geltung kommen ließ. Aber gerade als sie sich zum Gehen anschickte, war Besuch gekommen, und der war erst um sieben Uhr wieder fortgegangen, sie selbst aber hatte sich um halb sechs Uhr mit dem hübschen Studenten treffen wollen. Ach der arme liebe Mensch tat ihr, während sie sich mit dem Besuch unterhalten mußte, so schrecklich leid, sie mußte, während sie mit den anderen über die gleichgültigsten Dinge plauderte, fortwährend an ihn denken und wie mochte der Ärmste erst auf sie warten, bis sie mit einem Mal vor Angst beinahe einen Herzschlag bekam, denn sie fürchtete im stillen, er könne, des langen Wartens müde, so unvorsichtig sein, bei ihnen anzutelephonieren, um zu fragen, wo sie denn nur bliebe. Und das machte sie mit der Zeit derartig nervös, daß sie plötzlich unter einem Vorwande für ein paar Minuten das Zimmer verließ, um das Telephon abzustellen, und daß sie sich erst wieder beruhigte, als die Gefahr beseitigt war.
Und daß diese ihre Vorsicht nicht unangebracht gewesen war, bewies der Brief, den sie vorhin erhielt, denn er schrieb in dem, er habe sie antelephoniert, sogar dreimal, allerdings vergebens, die Leitung müsse wohl in Unordnung gewesen sein, denn obgleich er das Fräulein vom Amt gebeten habe, an ihrem Apparat Sturm zu läuten, habe sich niemand gemeldet. Und ferner schrieb er — aber was er schrieb, war wenigstens jetzt im Augenblick ganz gleichgültig, denn es handelte sich nun für sie nicht mehr um das, was er schrieb, sondern darum, daß er geschrieben hatte. Wie hatte er nur so leichtsinnig oder wenigstens so unvorsichtig sein können, und wie hatte sie selbst so unglaublich beschränkt und borniert sein können, daß sie es nicht als selbstverständlich annahm, daß er ihr schreiben würde. Hatte sie gestern schon mit klopfendem Herzen und mit schlotternden Knien seinen Telephonanruf erwartet, dann hätte sie sich doch schon gestern abend an allen zehn Fingern abzählen können, daß heute ein Brief von ihm kommen würde, in dem er sie fragte, warum sie ihn gestern habe warten lassen, und in dem er sie beschwor, heute dafür desto bestimmter und länger als sonst bei dem Stelldichein zu erscheinen. Ja, dieser Brief hatte kommen müssen und sie hatte nichts, aber auch gar nichts getan, um den abzufangen. Und nun war sie hineingefallen und zwar so feste, daß sie festsaß. Drei Tage Stubenarrest hatte die Mutter ihr diktiert, nachdem sie ihr den Brief fortgenommen und den gelesen hatte. Drei Tage Stubenarrest, bis der Vater von seiner Dienstreise zurück wäre und bis der dann entschiede, was weiter mit ihr werden solle, ob sie länger in der Stadt bleiben oder ob sie nach auswärts in eine ganz, ganz strenge Pension geschickt werden solle. Aber wenn die Mutter geglaubt hatte, sie mit dieser Drohung einzuschüchtern, dann war ihr das vorbeigelungen, obgleich sie sich natürlich der Mutter zuliebe so anstellte, als ob deren Worte den tiefsten und niederschmetterndsten Eindruck auf sie machten. Ihr fiel nun aber wieder ein, daß ihre Mutter ihr im Anschluß daran den guten Rat erteilt hatte, ihr ganzes bisheriges Leben einmal in Gedanken an sich vorüberziehen zu lassen und alles Unrecht zu bereuen, das sie auf dem Gebiet der Liebe, oder was sie als Backfisch so Liebe nennen, hinter dem Rücken der Mutter vielleicht schon begangen habe. Zeit genug hätte sie ja in den drei Tagen, darüber nachzudenken und zum Bereuen würde die Zeit vielleicht auch reichen, sonst sei sie, die Mutter, gern bereit, den Stubenarrest und damit die Stunden der Reue und der inneren Einkehr zu verlängern.
Im ersten Augenblick war sie natürlich auch über diesen guten Rat empört gewesen, schon weil sie den absolut nicht gut fand, ganz abgesehen davon, daß sie gar nicht wußte, ob sie wirklich etwas zu bereuen habe. Aber schon aus Langeweile konnte sie ja einmal darüber nachdenken, vielleicht war das sogar ganz amüsant.
So traf sie denn zum Nachdenken und unter Umständen auch für das Bereuen ihre Vorbereitungen. Zunächst zählte sie ihre Zigaretten. Gott sei Dank, die reichten nicht nur für die nächsten Stunden, sondern auch für die nächsten Tage. Dann holte sie aus einer Schublade eine große Tüte Pralinés hervor, die sie sich bereits vor längerer Zeit gekauft, die sie sich aber, gleichsam als hätte sie diesen Stubenarrest vorausgeahnt, für besondere Fälle aufbewahrt hatte und mit denen sie so sparsam umgegangen war, daß die Tüte zwar nicht mehr ganz voll war, denn das wäre wirklich zuviel verlangt gewesen, aber daß die wenigstens noch beinahe zur Hälfte voll war. Und dann sah sie sich nach einem amüsanten Buch um, denn nur den eigenen Gedanken nachzuhängen, würde auf die Dauer doch zu einförmig werden. So wählte sie denn nach kurzem Besinnen Lord Byrons „Don Juan” und mit dem Buch, mit den Zigaretten und mit den Pralinés machte sie es sich auf ihrer zwar nur kleinen, aber trotzdem sehr molligen und behaglichen Chaiselongue bequem, schob sich ein weiches Kissen unter den Kopf, steckte sich eine brennende Zigarette in den Mund, legte sich ein paar Pralinés in den Schoß, legte den „Don Juan” neben die Chaiselongue auf einen kleinen Tisch und fing dem Wunsch der Mutter gemäß an zu bereuen. Nein doch nicht, sie fing an, darüber nachzudenken, ob und was sie denn auf dem Gebiet der Liebe schon zu bereuen habe.
Mit der ersten Versuchung, die in der Hinsicht an sie herangetreten war, fing sie, ordentlich und ordnungsliebend wie sie es von jeher gewesen war, an. Die erste Versuchung hieß Alfred und war sechszehn Jahre, während sie selbst fünfzehn zählte und noch mit aufgelöstem Haar und mit halbkurzen Kleidern in die höhere Töchterschule ging. Sie war erst fünfzeh Jahre, aber sie sah damals, wenn auch nicht gerade bedeutend älter, so doch immerhin schon beinahe wie fünfzehn einhalb Jahr aus, aber der Alfred war, obgleich er schon sechzehn Jahre zählte, natürlich noch ein Kind, ein vollständiges Kind, oder wenigstens war er nch ein ganz dummer Junge. Das hätte sie ihm am liebsten gleich bei dem ersten Mal erklärt, als sie sich begegneten und als er sie da in einer Art und Weise anblickte, daß er das Unpassende oder zum mindesten das Ungezogene seines Blickes wohl gleich darauf selbst einsah, denn er wurde plötzlich über und über rot, er bekam sogar ganz rote Ohren und die Ohren waren für sein Alter eigentlich etwas zu groß und standen auch ein klein wenig zu weit vom Kopfe ab. Und auch sonst war er kein allzu hübscher Junge, wenn er auch nicht gerade häßlich war, und aus einem allzu wohlhabenden Hause schien er auch nicht zu stammen, denn er ging zwar sehr auber und ordentlich angezogen, aber doch nicht wie der Sohn reicher Eltern. Aber er sah sie an und wurde dabei knallrot und wenn sie selbst auch nicht wieder rot wurde, weil dazu nach ihrer Ansicht keine Veranlassung vorlag, so wurde sie trotzdem ein klein wenig verlegen, weil es das erste Mal war, daß ein Junge sie so ansah. Er schämte sich wohl wirklich nicht, wenn er sich nach außen hin auch noch so sehr zu schämen schien und hoffentlich würde er sie nie, nie wieder so ansehen. Aber das tat er dann doch, so oft sie sich in den nächsten Tagen auf dem Wege zur Schule begegneten, und er wußte es so einzurichten, daß sie sich fortan täglich begegneten. Und dann sah er sie immer so seltsam an, ja wie denn nur? Jetzt war das schon eine Ewigkeit her, so daß sie sich nicht mehr auf alles besinnen konnte, was in seinen Blicken gelegen hatte, und das war ihr damals auch nicht recht klar gewesen, weil sie sich auf Blicke aus Knabenaugen noch nicht verstand. Aber trotzdem, eins begriff sie dennoch, sie durfte sich von dem Jungen nicht weiter so ansehen lassen, sie mußte das ihrer Mammi erzählen, damit die sie eines Tages zur Schule begleite und damit die es dem Jungen verböte, sie weiter so anzustarren. Aber sie sagte es ihrer Mammi dann doch nicht, denn ihre arme Mammi litt gerade damals so an nervösen Kopfschmerzen und außerdem, daß ihre Mammi oder gar der Papi, falls sie sich an den wenden würde, den armen Jungen ausschalt und den vielleicht seinen Eltern oder seinen Lehrern zur Bestrafung meldete, nein, das wollte sie denn doch nicht, das hatte er nicht um sie verdient, dazu hatte der viel zu hübsche und namentlich viel zu traurige dunkelbraune Augen. Ja, die waren so traurig und die wurden eigentlich immer trauriger, so daß sie oft an die denken mußte und sich fragte: was hat der arme Junge nur? Danach hätte sie ihn selbst gern einmal gefragt, aber sie konnte ihn doch unmöglich ansprechen, das ging auf keinen Fall, das wäre mehr als unpassend gewesen, höchstens hätte er sie einmal ansprechen können, obgleich sich auch das sicher nicht schickte. Und er sprach sie auch nicht an, er begnügte sich nach wie vor damit, sie im Vorübergehen anzusehen, bis er sie dann eines Tages auf der Straße dadurch grüßte, daß er ganz tief vor ihr seine Mütze zog. Das hatte er noch nie getan, ja, sie hatte nie daran gedacht, daß er das tun könne oder tun würde, und als er es nun doch tat, da blieb sie unwillkürlich stehen und starrte ihn ganz erstaunt und verwundert an, so verwundert, daß er bei ihrem Blick auch ganz unwillkürlich stehen blieb, die Mütze noch in der Hand haltend, und so sahen sie sich einander in die Augen, bis er vor Verlegenheit noch dunkelroter wurde, als er es sonst zu werden pflegte, und bis er, nachdem er sich die Mütze wieder auf den Kopf gestülpt hatte, im Galopp davonrannte, als wären sämtlich bösen Geister dieser Welt hinter ihm her. Aber als sie sich dann am nächsten Tage trafen, grüßte er sie wieder und von da an grüßte er sie täglich, während sein Gruß immer weniger verlegen und immer weniger linkisch wurde. Er dachte auch nicht mehr daran, wegzulaufen, sobald er die Mütze vor ihr abgenommen hatte, sondern er grüßte sie bald sehr artig und sehr manierlich. Und bald erwiderte sie seinen Gruß ebenso höflich und freundlich, wenngleich sie immer noch nicht recht wußte, wie er eigentlich dazu kam, vor ihr zu deckeln, wie man das in der Stadt nannte, wenn ein Schüler vor einem Mädchen die Mütze abnahm.
Aber er grüßte sie nur, wenn er sie allein traf. Wenn sie mit ihren Freundinnen ging, nahm er die Mütze vor ihr nicht ab, sondern grüßte sie nur mit seinen Augen und diese baten sie dann stets: sprich nicht mit den anderen über mich, sage denen nicht, daß wir beide uns kennen, damit die sich nicht vielleicht über mich lustig machen und damit die dir nicht abreden, in Zukunft meinen Gruß zu erwidern. Laß das, was zwischen uns beiden ist, unser Geheimnis bleiben.” — Das glaubte sie ganz deutlich in seinen hübschen Augen zu lesen und zum Zeichen, daß sie ihn verstände und daß er nichts zu fürchten brauche, blinzelte sie ihm dann im Vorübergehen in heimlich verstohlener Weise zu und so wurden sie nach und nach, ohne daß sie bisher auch nur ein Wort miteinander gewechselt hätten, gute Freunde, obgleich ihr selbst immer noch nicht recht klar war, warum er sie immer so ansah und warum er sie täglich grüßte. Aber eines Tages, als sie eine Woche hindurch wegen einer leichten Erkrankung die Schule hatte versäumen müssen, und als sie ihn dann zum erstenmal wiedersah und bei der Gelegenheit bemerken mußte, wie grenzenlos er sich über das Wiedersehen freute, wie es in seinen sonst immer so traurigen Augen aufblitzte und aufleuchtete, als wären in denen Hunderte von Lichtern angebrannt worden, als sie das glückliche Lächeln sah, das seinen Mund umspielte, als sie erriet, wie er sich mit Gewalt beherrschen mußte, um nicht stehen zu bleiben und um sie nicht anzusprechen, als er die Mütze nicht nur wie sonst vor ihr zog, sondern die beinahe jubelnd in der Luft schwenkte, da wurde ihr mit einemmal alles klar, was sie bisher nicht verstanden hatte, da wußte sie plötzlich, daß sie an ihm eine Eroberung gemacht hatte. Ihre erste Eroberung ! Ein unbeschreibliches Gefühl des Stolzes, aber auch des Glückes durchströmte sie. Sie war so glücklich, daß sie am liebsten allen ihren Freundinnen zugejubelt hätte: „Kinder, denkt Euch, freut Euch mit mir, ich habe eine Eroberung gemacht !” Aber die hätten sich sicher, schon weil die neidisch geworden wären, nicht mit ihr gefreut und so verschloß sie denn ihr junges Glück ganz ganz tief in ihrem Herzen. Niemand sollte etwas davon wissen, niemand außer ihr und ihm. Wenn sie nur erst gewußt hätte, wie er hieß, und warum er immer so traurige Augen machte. Und damit er die in Zukunft nicht mehr mache, schloß sie ihn des Abends in ihr Gebet und sie bat Gott so herzlich und so dringend, wie sie nur immer konnte, er möchte den Augen ihres Verehrers doch einen anderen, einen fröhlicheren Ausdruck verleihen. Und um das Gott zu erleichtern, blickte sie ihn, ihre Eroberung, fortan wenn sie ihn sah, immer so freundlich und so herzlich an, daß es ihr zuweilen so vorkam, als hätten seine Augen wirklich schon einen etwas anderen Schein.
Und eines Tages ging denn auch ihr Wunsch, ihn persönlich kennenzulernen und zu erfahren, wer er war und wie er hieß, in Erfüllung. Es war Winter geworden, die Eisbahn war eröffnet und sie hatte sich mit zwei Freundinnen zum Schlittschuhlaufen verabredet. Aber ob die Freundinnen die Verabredung vergaßen oder ob die eine Abhaltung bekommen hatten, wußte sie nicht, auf jeden Fall sah sie sich auf der Bahn, als sie sich dort die Schlittschuhe angeschnallt hatte und nun wartend auf und ab lief, vergebens nach denen um und sie mußte es wohl, als sie sich suchend umsah, an der nötigen Aufmerksamkeit haben fehlen lassen, denn mit einemmal wurde sie von einer Schar halbwüchsiger Bengels, die in voller Fahrt ankamen, umgerannt und zu Boden geworfen. Und anstatt daß die sich ihrer angenommen und ihr wieder aufgeholfen hätten, warfen die ihr noch ein paar unflätige Redensarten an den Kopf, so daß sie es schon aus Empörung über diese Niederträchtigkeit ganz vergaß, gleich wieder aufzustehen. Da aber stand er plötzlich vor ihr, er, ihre Eroberung, und so groß war ihre Freude, aber auch zugleich ihr Schrecken, über dieses unerwartete Zusammentreffen, daß sie fühlte, wie sie vor Verlegenheit dunkelrot anlief und daß sie nun, unfähig sich zu rühren, erst recht auf dem Eise sitzen blieb, bis er ihr seine beiden Hände entgegenstreckte, um sie aufzuheben und um gleich darauf auf die rohen Bengels zu schelten, die sie, wie er es mit angesehen hatte, umwarfen, und um sich mit einer geradezu rührend klingenden Stimme danach zu erkundigen, ob sie sich weh getan hätte. Nein, das hatte sie nicht, das fühlte sie gleich, als sie mit seiner Hilfe wieder auf den Beinen stand, aber selbst wenn sie sich noch so sehr weh getan hätte, sie würde es nicht fertig gebracht haben, ihm das zu sagen, mit einer solchen wahnsinnigen Angst in seinen Blicken sah er sie an. Und als er ihr dann glauben mußte, daß sie tatsächlich keine Schmerzen verspüre, da lachte er vor Freude und Glück hell auf, dann aber erfaßte er ihre beiden Hände und lief gleich darauf auf der spiegelglatten Bahn mit ihr dahin, ohne daß er sie erst gefragt hätte, ob sie auch damit einverstanden sei. Aber wie hätte sie ihm wohl auch einen Wunsch abschlagen können. Allerdings für ganz passend hielt sie es plötzlich denn doch nicht, daß sie so mit ihm dahinlief, und deshalb fragte sie ihn jetzt: „Dürfen wir denn eigentlich so Hand in Hand zusammen laufen, ich weiß doch noch nicht einmal, wer Sie sind.”
„Wer ich bin?” gab er ganz erstaunt zurück, um dann wie etwas ganz Selbstverständliches hinzuzusetzen: „Ich bin doch der Alfred, ich dachte, das wüßten Sie schon längst, ebenso wie ich es schon seit Monaten weiß, daß Sie die Deta sind.”
Also das wußte er schon seit Monaten ! Der gute Junge ! Nun schämte sie sich fast vor ihm, daß sie sich noch gar keine Mühe gegeben hatte, seinen Namen in Erfahrung zu bringen, wie er es tat, um ihren Namen zu erfahren. Deshalb meinte sie nun schnell: „Ach so, ja richtig, Sie sind ja der Alfred.” Aber nein, belügen wollte sie ihn nicht und deshalb setzte sie hinzu: „Gewußt habe ich es bis jetzt zwar noch nicht, daß Sie Alfred heißen, aber wenn ich an Sie dachte, habe ich mich oft gefragt, wie Sie wohl heißen könnten, dann habe ich Ihnen alle möglichen Namen gegeben, aber ich bin immer wieder auf Alfred zurückgekommen. Nun freut es mich, daß ich da richtig riet.”
Alles, was sie da sagte, war eine Lüge, sie hatte ihm nie in Gedanken irgend einen Namen gegeben, aber sie belog ihn nicht absichtlich, sondern sie tat es, um ihn dadurch zu erfreuen. Und ihre Worte mußten ihn auch froh und glücklich stimmen, denn plötzlich fühlte sie, wie er ihre beiden Hände leise und zart drückte, während er zugleich mit bebender Stimme fragte: „So haben auch also Sie zuweilen an mich gedacht, Fräulein Deta?”
„Aber Herr Alfred,” gab sie ganz verwirrt zurück, und da sie fühlte, wie er ihr euneut beide Hände drückte, wiederholte sie noch einmal: „Aber Herr Alfred.”
Doch so schnell hörte er mit dem Händedruck nicht auf, sondern bat nun seinerseits mit leiser einschmeichelnder Stimme: „Fräulein Deta, bitte sagen Sie mir die Wahrheit, haben Sie wirklich manchmal an mich gedacht?”
Ja, das hatte sie getan, wenngleich anders, als er es zu hoffen schien, und da stand mit einemmal so viel für sie fest: irgend welche dummen Gedanken, die irgend etwas mit ihr zu tun haben könnten, durfte er sich nicht in seinen Kopf setzen und deshalb gab sie jetzt auf seine Frage zwar sehr freundlich, aber dennoch ausweichend und zurückhaltend zur Antwort: „Ja ich habe wirklich oft an Sie gedacht, Herr Alfred, schon weil ich mich immer so darüber freute, daß Sie mich auf der Straße grüßten. Zuerst nur mit Ihren Blicken, dann durch das Abnehmen Ihrer Mütze,” und am liebsten hätte sie ihn jetzt gefragt: Warum grüßen Sie mich eigentlich? Habe ich tatsächlich in Ihnen eine Eroberung gemacht und wodurch habe ich das, ohne es zu wollen, fertig gebracht? Finden Sie mich hübscher als alle anderen oder finden Sie mich nur viel netter, obgleich wir bis zum heutige Tage noch keine zwei Silben miteinander wechselten? Diese und viele ähnliche Fragen drängten sich ihr auf, aber sie unterdrückte die alle, weil sie die nicht für ganz passend hielt und weil sie sicher zu sein glaubte, daß er ihr alles das, was sie zu wissen begehrte, mit der Zeit ganz von selbst erzählen würde und dann noch viel ausführlicher als jetzt, wo es sich doch nur um eine kurze Antwort seinerseits gehandelt hätte. Deshalb meinte sie nur: „Ich habe auch deshalb so oft an Sie gedacht, Herr Alfred, weil ich mir immer vergebens den Kopf darüber zerbrach, warum Sie nur so traurige Augen machen. Die Welt und das Leben sind doch so schön, aber Sie sehen immer drein, als wüßten Sie das gar nicht. Was bekümmert Sie denn nur?”
Das interessierte sie wirklich, es war nicht lediglich Neugierde, die sie so fragen ließ, und da er das auch wohl aus ihren Worten heraushörte, erzählte er ihr, während sie etwas abseits von den anderen Hand in Hand dahinliefen, seine Geschichte. Er war der Sohn eines mittleren Postbeamten. Sein Vater hatte den brennenden Ehrgeiz gehabt, zu studieren und Rechtsanwalt zu werden, aber dann war dessen Vater plötzlich gestorben und hatte die Seinen in den traurigsten Verhältnissen zurückgelassen. Sein Vater hatte jeden Gedanken daran, einst studieren zu können, aufgeben müssen und hatte, um bald etwas zu verdienen, die Postkarriere ergriffen. Aber das, was der Vater nicht hatte werden können, sollte nun er, der Sohn, werden, zumal seine Mutter dem Vater ein kleines Kapital mit in die Ehe gebracht hatte, das trotz mancher Sorgen im Elternhaus unangetastet blieb, um ihm später ein wenn auch nur bescheidenes Studium zu ermöglichen. Er sollte studieren. Ehrgeizig, wie sein Vater es für ihn war, hatte der keinen anderen Gedanken und damit er, Alfred, dieses Ziel auch erreiche, war der Vater von einer mitleidslosen Strenge gegen ihn. Und doch sah er, Alfred, selbst es voraus, daß er nie das Abitur würde machen können. Gewiß, er ließ es nicht an Fleiß fehlen, er saß unermüdlich hinter den Büchern und wenn seine gute Mutter ihn nicht, wie auch heute, manchmal an die Luft geschickt hätte, würde er von seinen Büchern gar nicht fortkommen. Aber viel helfen würde ihm das auch nicht, denn, und damit kam das Wichtigste seines Geständnisses, er besaß kein Gedächtnis. Was er heute so gelernt hatte, daß er es nach seiner Ansicht für immer in seinem Kopfe behalten mußte, war spätestens nach acht Tagen derartig wieder aus seinem Schädel verflogen, daß er sich kaum mehr darauf besinnen konnte, sich mit der fraglichen Sache überhaupt jemals beshcäftigt zu haben. Und dazu kam das Allerschlimmste. Sein Vater glaubte ihm nicht, daß er kein Gedächtnis besäße. Was geistige Veranlagung war, hielt der für Faulheit, und die Folgen waren die schwersten körperlichen Züchtigungen, bei denen sein Vater sich in seinem Jähzorn und in der Furcht, sein Sohn könne seine eigenen ehrgeizigen Pläne, die er für den hege, durchkreuzen, oft zu solchen Mißhandlungen hinreißen ließ, daß er, der Sohn, schon oft daran gedacht habe, seinem Leben oder wenigstens dem Leben im Elternhaus ein Ende zu bereiten. Aber die Liebe zu seiner Mutter habe ihn bisher stets daran gehindert, seinen Entschluß auszuführen.
„Und das dürfen Sie auch nie tun, Herr Alfred, niemals, das müssen Sie mir fest versprechen,” rief sie ihm zu, als er schwieg und als er ganz verzagt und traurig vor sich hin starrte. Und so leidenschaftlich bat sie ihn, daß er ihr anhörte, wie sein Geschick ihr Herz ergriff und sie kaum imstande war, vor Tränen des Mitleids, die sich ihr aufdrängten, zu sprechen.
„Nein, ich werde es auch nicht tun, Fräulein Deta,” beeilte er sich, sie zu beruhigen, und stockend setzte er hinzu: „Seitdem ich Sie kenne, tue ich es ganz gewiß nicht, Fräulein Deta, denn Sie wissen nicht, was Sie für mich in meinem traurigen Leben bedeuten.”
Nein, das wußte sie wirklich nicht, denn damals war sie ja erst fünfzehn Jahre, wenn sie auch älter aussah, und er selbst war ja auch erst sechzehn, aber unbewußt schmeichelte es ihr doch, was er ihr da sagte, und deshalb beschwor sie ihn aufs neue, jeden Gedanken daran aufzugeben, heimlich aus dem Elternhaus zu fliehen oder gar seinem Leben ein Ende zu bereiten. Und um ihren Worten mehr Nachdruck zu verleihen, schloß sie: „Denken Sie auch an den großen Kummer, den Sie mir dadurch bereiten würden, schon meinetwegen müssen Sie aushalten.”
Und er hielt aus, nur ihretwegen, wie er ihr in Zukunft, so oft sie sich auf der Eisbahn trafen, immer wieder versicherte, während er ihr zugleich erzählte, daß es mit seinem Gedächtnis immer schlechter würde. Woran das läge, wisse er selber nicht, aber er könne seine Gedanken gar nicht mehr auf die Arbeit konzentrieren, er bekäme überhaupt nichts mehr in seinen Kopf hinein und wenn der Vater ihm des Abends seine Aufgaben überhöre, bliebe er eine Antwort nach der anderen schuldig. Der Zorn des Vaters nähme von Tag zu Tag zu und er habe ihm damit gedroht, ihn krumm und lahm zu schlagen, wenn er Ostern nicht versetzt würde, und sein Vater würde seine Drohung auch wahr machen.
„Das soll und darf er aber unter gar keinen Umständen,” schluchzte sie auf, so oft er ihr davon sprach und dann erging sie sich in den heftigsten Anklagen gegen seinen Vater. Wie konnte der nur so roh und so herzlos sein, der mußte seinen Sohn doch lieben, der mußte doch auch Gefühle in der Brust haben. Und immer wieder schloß sie mit tränenerstickter Stimme: „Ich dulde es ganz einfach nicht länger, daß Ihr Vater Sie so mißhandelt, ich werde mit meinem Papi sprechen, der ist so gut, dem werde ich erzählen, wie gute Freunde wir beide geworden sind und daß Ihr Kummer auch mein Kummer ist. Ich werde meinen Papi bitten, daß er zu Ihrem Vater hingeht, er soll einmal ganz ernstlich mit ihm reden und ihm damit drohen, daß er ihm die Polizei schickt, wenn er nicht aufhört, Sie derartig zu quälen und zu schlagen.”
Aber sie erreichte dadurch weiter nichts, als daß Alfred sie beschwor, ihrem Vater nichts zu erzählen, denn wenn sein Vater durch ihren Vater erfahren würde, daß er sich bei ihr über ihn beschwert hätte, nein, um Gottes willen, das war gar nicht auszudenken, in welche Wut sein Vater dann geriete. Der würde ihn dann vielleicht schon gleich krumm und lahm schlagen und damit nicht erst warten, bis er Ostern sitzen geblieben wäre.
Nein, sie durfte ihrem Vater nichts davon erzählen, ein wie elendigliches Leben ihr armer Alfred führte, das sah sie schließlich selbst ein und wenn sie ihm auch erklärte, es fiele ihr sehr sehr schwer, nicht mit ihrem Vater zu sprechen, so war sie dennoch schon von Anfang an fest entschlossen gewesen, das unter gar keinen Umständen zu tun. Gewiß, ihr Papi war der beste Papi, den man sich nur wünschen konnte, aber würde der sie nicht trotzdem schelten, wenn sie ihm plötzlich von diesem Alfred erzählte, den sie ihm bisher stets verschwieg, und würde der sich nicht darüber wundern, daß sie sich mit dem fast täglich auf der großen Eisbahn traf, noch dazu an einer weit abgelegenen Stelle, zu der selten andere Läufer kamen? Und was dann, wenn der Vater sie fragte, wie sie dazu käme, sich so oft mit diesem Jungen zu treffen? Schon dem daß ihr Papi den vielleicht einen „Jungen” nennen würde, durfte sie sich nicht aussetzen, denn er war ihr mehr, ihr war er ihre erste Eroberung.
So versprach sie ihm denn, gegen jedermann über das zu schweigen, was er ihr anvertraute, und sie versuchte ihn nach besten Kräften zu trösten: er solle sich nur weiter ordentlich Mühe geben, da würde es mit dem Lernen schon gehen und er würde auch ganz bestimmt zu Ostern nicht sitzen bleiben, das solle er sich nur nicht einreden, an so etwas dürfe er gar nicht denken und wenn er wider alles Erwarten doch nicht versetzt werden sollte, dann würde sein Vater sich schon darein finden und der würde seine schreckliche Drohung unter gar keinen Umständen wahr machen, das sage er nur so, um ihn einzuschüchtern und um ihn dadurch anzuspornen, sich bei dem Lernen noch mehr Mühe zu geben. Und so oft sie in diesem Sinne auf ihn einsprach, schloß sie mit den Worten: „Es wird mit dem Lernen schon gehen, Herr Alfred, denken Sie, wenn Sie bei Ihren Büchern sitzen, nur ein klein wenig auch an mich.”
Der Rat, den sie ihm da gab, war wirklich gut gemeint gewesen, aber wie schon früher manches Mal, so gestand sie es sich auch jetzt wieder ein, als sie an ihn zurückdachte, sie würde nie, niemals so zu ihm gesprochen haben, wenn sie die Folgen hätte voraussehen können, denn eines Tages stand er ihr mehr als verzweifelt gegenüber und gestand ihr sein Leid: „Nun kann ich überhaupt nicht mehr arbeiten, Fräulein Deta, jetzt ist es ganz aus mit mir und das seit dem Tage, an dem Sie mich ermahnten, manchmal bei der Arbeit auch an Sie zu denken, denn jetzt denke ich nicht nur manchmal, sondern fortwährend an Sie. Ob ich mit offenen Augen dasitze und in die Bücher starre oder ob ich mir mit geschlossenen Augen das, was ich eben las, wiederhole, ich sehe mit meinen Augen nur noch Sie, Fräulein Deta. Sie laufen mit Ihren blitzenden Schlittschuhen unter Ihren kleinen Füßen über die Seiten meiner Bücher und je mehr ich dann wieder an meine Arbeit denken will, um mich wieder auf mich selbst zu besinnen, desto mehr denke ich doch nur an Sie.”
Während der arme Alfred ihr ganz verzweifelt sein Herz ausschüttete, machte ihr eigenes Herz vor Freude einen kleinen Luftsprung, denn wenn sie ja auch erst fünfzehn Jahre alt war, obgleich sie älter aussah und obgleich sie demgemäß noch keine Erfahrungen im Verkehr mit jüngeren oder etwas älteren Herren hätte sammeln können, das eine wußte sie doch sofort, was der Alfred ihr da eben erzählte und was sie mit mehr als gespannten Ohren auffing, war die erste Liebeserklärung, die sie zu hören bekam. Die erste Liebeserklärung ! Also der Alfred verehrte sie nicht nur, er liebte sie. Deshalb hatte er sie immer so angesehen, bevor er anfing, sie zu grüßen, deshalb war er immer so rot und verlegen geworden, deshalb hatte er ihr so oft heimlich die Hände gedrückt, wenn sie Hand in Hand dahinliefen. Er liebte sie und sie wurde geliebt ! Ach war das schön. Ein ihr bisher unbekanntes Gefühl wurde in ihr wach und der blaue Himmel und die Menschen um sie herum, alles alles sah mit einemmal ganz anders aus als sonst, viel heller, viel rosiger und viel freudiger. Sie konnte ihr Glück kaum fassen und begreifen, aber verraten durfte sie von alledem nichts, nicht einmal der Alfred durfte etwas davon wissen, wie es in ihr aussah, und deshalb meinte sie endlich: „Aber was Sie mir da erzählen, Herr Alfred, ist ja schrecklich und Sie wissen gar nicht, wie furchtbar leid Sie mir tun. Was machen wir da nur, damit Sie wieder die nötige Ruhe für Ihre Arbeit finden?” Und um seine Liebe zu ihr noch mehr zu entflammen, setzte sie absichtlich hinzu: „Das beste wäre es wohl, wir sähen uns vorläufig nicht wieder. Da werden Sie mich am schnellsten vergessen und das müssen Sie auch, denn ich will und darf nicht schuld daran sein, daß Sie Ostern vielleicht doch sitzen bleiben und daß Ihr Vater Sie dann wieder züchtigt.”
Bei dem Gedanken, daß sein Vater seine Drohung wahr machen könne, schnürte das Mitleid, das sie für ihn empfand, ihr beinahe die Kehle zu. Aber wenn sie sich im ersten Augenblick dessen auch noch so sehr schämte, die Vorstellung, daß er ihretwegen tatsächlich gezüchtigt werden könne, daß er, wenn auch nur indirekt ihretwegen körperliche Schmerzen würde erleiden müssen, hatte plötzlich etwas Aufregendes und Aufreizendes für sie. Und zum erstenmal fühlte sie ihre Sinne erwachen. Was ist das? fragte sie sich, fast auf den Tod erschrocken, aber nein, zum Erschrecken lag doch wohl kein Grund vor, so wohl, so süß, so berückend schön strömte das ihr ganz neue Gefühl durch ihre jungen Glieder. Ach war das süß und nun verstand sie auch die Freundinnen, die in ihren Gesprächen so oft auf Dinge anspielten, die ihr bisher ganz fremd und unerklärlich gewesen waren. Ja, nun verstand sie, und dunkelrot färbte das Blut ihre Wangen. Aber als sie nun wieder zu ihrem Begleiter hinübersah, da war aus dessen Gesicht jeder Blutstropfen gewichen, so daß sie im ersten Augenblick dachte: um Gottes willen, der hat dich durchschaut, der weiß, welche Wandlung eben mit dir vorgegangen ist, der weiß, daß die Erkenntnis über dich kam und daß du kein unerfahrenes Kind mehr bist.
Aber gerade weil sie zu wissen glaubte, was ihn beschäftigte, fragte sie so unbefangen wie nur möglich: „Herr Alfred, was haben Sie denn nur?”
Und da sprudelten ihm die Worte, sich selbst überstürzend, über seine Lippen: es wäre sein Tod, wenn er sie nicht wiedersehen solle, das hielte er ganz einfach nicht aus, dann mache er seinem traurigen Dasein wirklich lieber heute als morgen ein Ende, denn was er dann noch auf der Welt solle? Nein, das dürfe sie ihm unter gar keinen Umständen antun, daß sie ihm ihre Gesellschaft entzöge, und das hätte auch gar keinen Zweck, denn durch das, was sie vorhabe, würde es mit ihm nicht besser, sondern immer nur schlimmer und schlimmer werden und das wolle sie doch nicht.
Nein das wollte sie nicht, das erklärte sie ihm auch, als er endlich schwieg und sie voller Erwartung ansah. Nein das wollte sie nicht, denn daß er sie so leidenschaftlich liebte, wie seine erregten Worte ihr bewiesen, das hatte sie nicht geahnt. Aber das Bewußtsein, sich derartig sinnlos, beinahe bis zur Raserei von ihm geliebt zu wissen, erfüllte sie von neuem mit größter Glückseligkeit und machte sie auch eitel. Wie hübsch, wie auffallend hübsch, wieviel hübscher als alle ihre Freundinnen mußte sie sein, daß sein Herz derartig für sie Feuer fing, und sie nahm sich vor, wenn sie sich am Abend auskleidete, sich ganz lange vor den Spiegel zu stellen und dem lieben Gott dafür zu danken, daß er sie hatte so hübsch werden lassen.
Bis sie sich dann wieder darauf besann, daß ihr Alfred mit der Antwort, die sie ihm gegeben hatte, nicht zufrieden zu sein schien, denn er sah sie noch immer erwartungsvoll an, so daß sie ihm zurief: „Ich glaube zwar wirklich, Herr Alfred, es wäre für Sie das beste, Sie würden mich nicht wiedersehen, aber ich will trotzdem täglich auf die Eisbahn kommen, allerdings dürfen Sie dann mich nicht dafür verantwortlich machen, wenn Sie auch in Zukunft anstatt an Ihre Arbeit an mich denken,” und nach einer kleinen Pause setzte sie hinzu: „Wenn ich nur wüßte, was ich tun und was ich Ihnen raten könnte, damit Sie sich fortan nicht mehr soviel mit mir beschäftigen.”
Das war ihrerseits gar nicht so ernsthaft gemeint gewesen, aber er fing ihre letzten Worte hastig auf und rief ihr nun seinerseits, während er bei dem Sprechen abwechselnd blaß und rot wurde, zu: „Ich weiß schon, Fräulein Deta, was Sie tun könnten, damit ich meine Ruhe wiederfinde. Ich habe Tag und Nacht darüber nachgedacht, nicht, als ob mir die einzige Rettung, die es für mich gibt, so spät eingefallen wäre, o nein, das nicht, aber ich dachte, es könnte vielleicht doch noch etwas anderes mein Blut besänftigen und ich wußte auch nicht, ob ich das, was mich seit Wochen quält, Ihnen sagen dürfte, ohne daß Sie mir deswegen böse werden, denn das dürfen Sie natürlich nicht, Fräulein Deta, Sie müssen mir sogar ganz fest versprechen, daß Sie mir nicht böse werden wollen.” Und mit so flehenden Augen sah er sie an, daß sie ihm das gewünschte Versprechen gab, obgleich sie keine Ahnung hatte, was er von ihr verlangte.
Aber dann kam es heraus. Sie sollte ihm einen Kuß geben, oder sie sollte ihm wenigstens erlauben, daß er sie küsse, wenn auch nur ein einziges Mal. „Glauben Sie mir, Fräulein Deta, die Sehnsucht, Sie küssen zu dürfen, zehrt an mir, die brennt in mir wie höllisches Feuer ! Ich schmachte nach diesem Kuß wie ein Wüstenwanderer nach einem Schluck Wasser und wenn ich mit dem Gedanken an Sie eingeschlafen bin, dann träume ich zuweilen, Sie hätten mir erlaubt, Sie nicht nur einmal, sondern von Zeit zu Zeit, vielleicht alle drei oder alle acht oder auch nur alle vierzehn Tage zu küssen. Ach und wenn Sie das täten, alles, alles würde ich dann ertragen. Ich würde alles Leid vergessen, das hinter mir liegt, ich würde nicht mehr an das Schreckliche denken, das mir noch bevorsteht, ich würde lernen, ja noch mehr, ich würde wieder lernen können und vielleicht, nein sicher, daß ich dann auch mein Gedächtnis wiederfände. Und darum flehe ich Sie an, so heiß und so inbrünstig, wie ein Mensch nur um eine Gnade flehen und bitten kann, lassen Sie sich von mir küssen und wenn es Ihnen möglich ist, küssen Sie auch mich, wenn auch nur ein einziges Mal.”
Totenblaß stand er ihr gegenüber, auf seiner Stirn, von der er die Mütze zurückgeschoben hatte, perlte der kalte Schweiß und er sah zu ihr auf wie ein Verbrecher zu seinem Richter, aus dessen Munde er sein Urteil über Leben und Tod erwartet.
Auch sie selbst war blaß geworden, sie fühlte sich auf den Tod erschrocken, denn daß er sie so lieben und so etwas von ihr verlangen könne, hätte sie nie für möglich gehalten. Und sie, sie liebte ihn doch nicht wieder, sie empfand nur Freundschaft für ihn und hatte Mitleid mit ihm. Aber lieben und ihn nun gar küssen? Sollte gerade er der erste sein, den sie küßte, er, der doch eigentlich gar nicht hübsch war und doch auch gesellschaftlich unter ihr stand? Nein das wollte ihr absolut nicht in den Sinn, und fast hätte sie ihm auch gleich erklärt, er solle sich nur gar keine Hoffnungen machen. Aber alles, was sie sagen wollte, erstarb auf ihren Lippen, als sie ihren Freund Alfred nun ansah und als sie bemerkte, daß der immer noch aus ihrem Munde ihr Urteil über sein Leben oder seinen Tod erwartete. Sein Blick ging ihr durch und durch, der schnitt ihr direkt in das Herz und deshalb brachte sie es auch nicht über das Herz, ihm alle seine Hoffnungen zu nehmen. Deshalb meinte sie endlich nach einer langen Pause: „Sie können sich denken, lieber Herr Alfred, wie mich Ihre Worte überrascht haben, denn ich muß Ihnen offen gestehen, ich selbst bin nie auf den Gedanken gekommen, daß Sie jemals mit mir über das Küssen sprechen und mich gar um einen Kuß bitten würden. Aber nun, da Sie es taten, würde ich Ihnen Ihretwegen gern Ihren Wunsch erfüllen, ich würde mich gern einmal von Ihnen küssen lassen, aber es darf Ihretwegen nicht sein, lieber Herr Alfred. Sie irren sich, wenn Sie glauben, daß mein Kuß Ihnen die Ruhe, die Sie für Ihre Arbeiten brauchen, wiedergeben würde. Gerade das Gegenteil wäre der Fall. Anstatt Sie zu besänftigen, würde der Kuß Sie erst recht von der Arbeit ablenken. Sie sagten es ja auch schon selbst, Sie wünschten sich, daß Sie mich von Zeit zu Zeit alle drei, alle acht oder alle vierzehn Tage küssen dürften, aber glauben Sie mir, dabei würde es nicht bleiben. Sie fänden keine Ruhe, bis Sie mich nicht täglich küßten und dann wären Sie auch damit nicht zufrieden, daß Sie mich täglich nur einmal küßten, sondern Sie würden mich fortwährend küssen wollen, ja Sie würden auch mich bitten, daß ich Sie täglich ein paarmal küßte und sagen Sie selbst, lieber Herr Alfred, wie würde es dann mit Ihrem Arbeiten werden?”
Sie wunderte sich über sich selbst, daß sie ihm eine so vernünftige Rede halten konnte, und ihre Worte verfehlten auch ihre Wirkung nicht. Er stand ihr völlig niedergeschlagen gegenüber, bis er endlich mit fast tonloser Stimme fragte: „Ist das alles, was Sie mir zu sagen haben, Fräulein Deta, machen Sie mir gar keine Hoffnung, daß es doch noch einmal zum Küssen zwischen uns beiden kommen könnnte?”
„Natürlich mache ich Ihnen die,” rief sie ihm schnell zu, „ich habe Ihnen gleich Hoffnungen machen wollen, hatte Ihnen nur erst soviel anderes zu sagen, daß ich die Hoffnungen für Sie darüber vergaß. Aber nun meine ich folgendes: Sie versprechen mir ganz fest, mit mir nie wieder über das Küssen zu reden. Sie dürfen auch bei Ihren Arbeiten nie wieder daran denken, daß Sie mich küssen möchten und dafür verspreche ich Ihnen eins, wenn Sie zu Ostern versetzt worden sind, dann dürfen Sie mir einen Kuß geben und dann will ich Sie gern auch einmal wiederküssen.”
Daß sie seinen Kuß nicht dulden und daß sie ihn erst recht nicht wiederküssen würde, stand natürlich sofort bei ihr fest, denn wenn sie sich überhaupt auf eine Küsserei mit ihm einlassen wollte, dann konnte sie das ja gleich tun und brauchte damit nicht bis Ostern zu warten. Na und wenn es erst Ostern war, fand sie schon einen Ausweg, sich um ihr Versprechen herumzudrücken. Entweder sie erzürnte sich ganz einfach im letzten Augenblick mit ihm, oder sie reiste Ostern zu ihren Verwandten, oder sie wich dem Kuß sonstwie aus. Die Hauptsache blieb, daß ihr Freund Alfred, soweit er ihr Freund war, nun erst mal vertrauensvoll in die Zukunft blickte und sich auf das Küssen zu Ostern mit ihr freute. Aber das schien zu ihrem grenzenlosen Erstaunen keineswegs der Fall zu sein, denn fassungslos starrte er sie an, um ihr endlich zuzurufen: „Ist das die ganze Hoffnung, Fräulein Deta, die Sie mir mit auf den Weg geben? Wissen Sie, wie mir zumute ist? Wie einem Verschmachtenden, der um einen Schluck Wasser fleht und dem man einen Becher Wasser in so weiter Ferne zeigt, daß seine Kräfte nicht mehr ausreichen, um den zu erhaschen. Bis Ostern lassen Sie mich warten? Und was dann, wenn ich nicht versetzt werde, weil ich mein Versprechen, bis dahin nicht an Sie und nicht an Ihren Mund zu denken, ganz einfach nicht halten kann?”
Da aber wurde sie ernstlich böse und schalt ihn aus: „Sie sollen aber versetzt werden, Herr Alfred, ich will es, ich verlange das ganz einfach von Ihnen, sonst müßte ich es ja bereuen, Ihnen einen Kuß versprochen zu haben, allerdings nur einen, aber der soll dafür auch so schön und so süß werden, daß Sie ihn nie wieder vergessen, wie auch ich den nie vergessen werde.” So sprach sie noch eine ganze Weile auf ihn ein und weil sie sich selbst gar nichts dabei dachte, machte es ihr Spaß, zu sehen, wie das Blut allmählich in seine Wangen zurückkehrte, wie es in seinen Augen mit einemmal anfing, so zu blitzen und zu funkeln, daß er sie mit seinen Blicken beinahe verschlang, daß ein Zittern und Beben durch seinen Körper ging, ja daß selbst seine Hände zu zittern begannen. Und weil sie sah, wie der Gedanke an den Kuß, der ihm nach seiner Ansicht unter Umständen bevorstand, ihn erregte, da kam auch nach und nach eine gewisse Erregung über sie, weil sie instinktiv erriet, es müsse mit dem Küssen doch eine ganz eigentümliche Sache sein.
Es wurde an dem Nachmittag spät, bis sie sich trennten, so spät, daß sie sich zu Hause eine lange Ausrede erfinden mußte, um ihr Ausbleiben zu erklären und zu entschuldigen. Aber sie hatte die Zeit auf der Eisbahn nicht verloren. Ihr Freund Alfred hatte ihr schließlich mit Wort und Handschlag gelobt, nie wieder mit ihr über das Küssen zu sprechen, alles zu tun, was er nur könne, um bei seinen Arbeiten nicht mehr an sie zu denken und, um sie Ostern küssen zu dürfen und von ihr geküßt zu werden, eisern fleißig zu sein, damit er auch wirklich versetzt werde.
Aber wenn er ihr das auch alles versprach, so wußte sie trotzdem nicht, ob er sein Versprechen hielte oder ob er es werde halten können. Und trotz seines Wortes, das er ihr gab, hatte sie Angst, er möchte auch in Zukunft, wenn er zusammen mit ihr auf der Eisbahn lief, auf das Kußgespräch zurückkommen. So war sie denn, obgleich sie leidenschaftlich gern Schlittschuh lief, nicht allzu traurig, als das Wetter in der Nacht, die diesem Nachmittag folgte, plötzlich umschlug und als es stark zu tauen anfing. Mit der Eisbahn war es vorbei; auf der Straße sprach er sie an und so vergaß sie nach und nach beinahe die dumme Kußunterhaltung, die fiel ihr erst wieder ein, als es Ostern geworden war und als sie voller Unruhe darauf wartete, Alfred möchte ihr sagen oder gar schreiben, daß er versetzt sei und daß er nun seinen Lohn erwarte. Aber Alfred ließ nichts von sich hören und nun fiel es ihr erst wieder auf, daß er ihr in der letzten Zeit beinahe ängstlich aus dem Wege gegangen war. Sie hatte sich das so gedeutet, daß sie sich sagte: er meldet nach Kräften deine Nähe, um seinem Vorsatz, möglichst wenig an dich zu denken, treu bleiben zu können. Nun aber kam ihr mit einemmal der Gedanke: Alfred ist nicht versetzt worden, er hat das im voraus kommen sehen, nur deshalb ist er dir so scheu ausgewichen. Er hat doch an dich gedacht, obgleich er dir fest versprach, das nicht zu tun. Anstatt sich mit seinen Arbeiten zu beschäftigen, hat er davon geträumt, er küsse dich und du küßtest ihn wieder. Sicher, so war es, so und nicht anders. Alfred war nicht versetzt worden, anders war es ja auch nicht zu erklären, da er ihr nicht auflauerte, um sie an ihr Kußversprechen zu erinnern. Und bei dem Gedanken daran, daß er nicht versetzt sein könne, fiel ihr nun wieder die gräßliche Drohung ein, die sein Vater gegen ihn ausgestoßen hatte. Die aber lähmte sie vor Entsetzen derartig, daß sie sich kaum zu rühren vrmochte, schon weil sie sich vor sich selber furchtbar schämte, daß der Gedanke daran, er könne ihretwegen einmal gezüchtigt werden, schuld oder wenigstens die Veranlassung war, daß zum ersten Mal ihre Sinne erwachten, daß sie zum ersten Mal begriff, daß sie kein Kind mehr war.
Aber nein, Alfred durfte nicht sitzen geblieben sein, alles nur das nicht. Und er war auch ganz sicher versetzt, er ließ sich wohl nur deshalb auf der Straße nicht sehen, weil er krank war. Er hatte sich vielleicht überarbeitet, er hatte in der letzten Zeit ohnehin so schlecht ausgesehen, vielleicht hatte ihn auch die Influenza erwischt, an der so viele Leute in der Stadt krank lagen. Gewiß, es lag keine Veranlassung vor, sich seinetwegen irgendwie zu ängstigen, er würde sich schon über kurz oder lang wieder auf der Straße zeigen und damit sie ihn ja nicht übersähe, wenn er ihr hoffentlich bald begegnete, sah sie fortan immer nach ihm aus. Aber Wochen vergingen, bevor sie ihn sah und als sie ihn dann sah, da war es wahrhaftig nur ein Glück, daß sie allein ging, daß es niemand bemerkte, wie sie plötzlich vor Entsetzen stehen blieb, wie sie sich mit der linken Hand an das Herz griff, wie sie sich mit aller Gewalt beherrschen mußte, um nicht einen lauten Schrei auszustoßen, denn daß ihr Freund Alfred, der auf der anderen Seite der Straße ging, nicht versetzt worden war, sah sie auf den ersten Blick, denn er trug noch seine alte Klassenmütze, die er so oft grüßend vor ihr gezogen hatte. Aber sie sah auf den ersten Blick auch noch etwas anderes, daß er schwer auf einen Stock gestützt ging und daß er das linke Bein, das er, ebenso wie den linken Fuß, in einer Schiene trug, mühselig nachzog. So hatte sein Vater seine Drohung, ihn zum Krüppel zu schlagen, also doch wahr gemacht.
Als ihr diese schreckliche Erkenntnis kam, hätte sie am liebsten einen gellenden Schrei ausgestoßen und wäre beinahe auf ihn zugestürzt, um ihn zu beklagen und ihn zu bemitleiden, um ihn zu trösten und um sich von ihm ausführlich erzählen zu lassen, wie das Unglück nur hatte geschehen können, wo er doch wußte, welch süßer Lohn ihm von ihren Lippen gewinkt hätte, wenn — ja wenn ! Aber nun war es dafür zu spät und trotz des furchtbaren Mitleids, das sie mit ihm empfand, atmete sie erleichtert auf und gerade weil sie sich so leicht und so froh fühlte, hätte sie ihm so gern gesagt, wie leid, wie furchtbar leid es ihr auch ihretwegen täte, daß sie ihn nun nicht küssen könne und daß sie auch keinen Kuß von ihm bekam. Ja , sie hatte die Empfindung, als müssse sie ihm das sogar sagen, das würde ihn trösten und ihn wenigstens in den Glauben versetzen, daß sie mit ihm um die besprochenen und versprochenen Küsse trauere. Und dann würde er sich hoffentlich auch noch nachträglich schämen, daß er nicht versetzt wurde. Aber nein, schämen sollte sich der arme Junge nicht, der sah ohnehin so krank und so elendiglich aus, daß es, wie man so sagt, einen Hund hätte jammern können, und wie gern hätte sie ihm nicht ein freundliches Wort gegönnt und wie gern hätte sie ihn nicht getröstet. Aber schließlich sah sie ein, das ging nicht, das ging bei dem besten Willen nicht und den hatte sie, dafür war Gott ihr Zeuge. Aber was dann, wenn ihre Bekannten, die vielleicht vorüberkamen, es sahen, daß sie mit dem armen Alfred sprach, oder wenn ihre Eltern, die auch in der Stadt waren, an ihr vorübergingen und sie dann hinterher fragten, woher sie den Krüppel kenne? Was sollte sie da zur Antwort geben? Durfte sie da alles erzählen, was bis zu dieser Stunde zwischen ihr und Alfred ein tiefes Geheimnis gewesen war? Mußte sie nicht damit rechnen, daß die Eltern, obgleich denen das eigentlich nicht ähnlich sah, den armen Jungen wegen seiner Liebe zu ihr verlachten und verspotteten? Das aber hatte der arme Alfred nicht um sie verdient, deshalb mußte sie auch schweigen und damit sie schweigen konnte, durfte sie sich unter gar keinen Umständen auf der Straße in ein Gespräch mit ihm einlassen. Lieber wollte sie ihm ein paar Worte schreiben, oder noch besser, sie würde warten, bis es wieder Winter war, und bis sie sich dann erneut auf der Eisbahn trafen, vorausgesetzt, daß es für ihn mit dem Schlittschuhlaufen nicht für immer vorbei war. Aber nein, das konnte und das durfte nicht sein, er mußte und er würde schon wieder ganz gesund werden und voller Mitleid, aber auch voller Neugierde sah sie zu ihm hinüber. Und da geschah etwas, das sie nie für möglich gehalten hätte. Da, als sie zu ihm hinübersah, traf sein Blick auch sie und obgleich er sie auf der nahen Entfernung mit seinen scharfen Augen erkennen mußte und sie auch erkannte, wie sie es deutlich merkte, da grüßte er sie nicht. Er grüßte sie nicht einmal mit den Augen, geschweige denn, daß er wie sonst die Mütze vor ihr gezogen hätte. Er grüßte sie nicht. Auf seinen Stock gestützt, das steife Bein schwer nachziehend, humpelte er da drüben weiter, ohne sie noch einmal anzusehen und ohne sich, als er an ihr vorüber war, auch nur ein einziges Mal nach ihr umzusehen. Das war stark, ja noch mehr, das war unerhört, das war seinerseits der Gipfel der Taktlosigkeit und der Ungezogenheit. Er grüßte sie nicht und wenn dieser dumme Junge, der noch dazu gesellschaftlich weit unter ihr stand, sie selbstverständlich auch nicht beleidigen konnte, so war ihr trotzdem im ersten Augenblick so zumute, als hätte sie auf offener Straße einen Schlag in ds Gesicht bekommen, oder als hätte man ihr ein häßliches Schimpfwort zugerufen.
Wie kam er dazu, sie nicht zu grüßen? Was hatte sie ihm getan, daß er achtlos an ihr vorüberging? Darüber zerbrach sie sich den Kopf, als sie bald darauf, ohne daß sie recht wußte, wie sie so schnell nach Hause gekommen war, in ihrem Zimmer saß und sich eingeriegelt hatte, damit sie sicher sei, daß niemand sie störe. Was hatte sie getan? Hatte sie ihm gegenüber irgend etwas begangen, das sie vielleicht sogar bereuen mußte? Gab es da etwas, gab es da auch nur das allergeringste zu bereuen? Gewiß, als er sie damals so flehentlich um einen Kuß bat, da hätte sie ihn küssen oder sich wenigstens von ihm küssen lassen können und wenn ihr guter Papi durch einen unglücklichen Zufall etwas davon erfahren hätte, würde er sicher nicht gescholten haben. Im Gegenteil, gut wie der war, hätte der vielleicht sogar zu ihr gesagt: „Aus dem Kuß kann ich dir keinen Vorwurf machen, denn damit, daß du dem armen Jungen einen Kuß erlaubtest, hast du ein gutes Werk getan, das er dir nie vergessen und an das er noch zurückdenken wird, wenn er, eben durch deinen Kuß, später die Schule absolviert und alle Examina bestanden hat.” Sicher, so hätte ihr guter Papi zu ihr gesprochen, aber wer konnte es denn wissen, ob ihr Kuß ihm wirklich das Lernen erleichtert hätte? Konnte man das wissen? Und war es für ihn nicht dasselbe, ob sie ihn küßte oder ob sie ihm einen Kuß versprach, denn daß sie ihm den niemals geben würde, konnte er doch unmöglich wissen. Und wenn er sich so nach einem Kuß von ihr sehnte, wenn der für ihn dasselbe war wie für einen vor Durst Verschmachtenden ein Trunk frischen Wassers, warum hatte er da nicht so energisch gearbeitet, daß er hätte versetzt werden müssen?
Nein, je länger sie darüber nachdachte und je ernstlicher sie sich prüfte, während sie sich dabei sogar, um dadurch ganz gerecht und um ganz unparteiisch zu urteilen, seine klagende Stimme und seine flehenden Blicke in das Gedächtnis zurückrief, nein, je länger sie über alles nachdachte, sie traf keine Schuld, sie hatte sich nichts, aber auch gar nichts vorzuwerfen, bis sie bei dem Wort „gar nichts” doch etwas stutze und bis sie sich eingestand: eine ganz kleine Schuld trifft dich doch. Sie hätte ihm, damit er sich nur alle erdenkliche Mühe gäbe, um versetzt zu werden, nicht, wie sie es tat, nur einen, sondern mehrere, vielleicht drei oder gar sechs Küsse versprechen müssen, das würde ihm ein Ansporn zum Lernen gewesen sein, während ihm ein Kuß als ein zu geringer Lohn erschien. Jawohl, das war es, was ihr nun so leid tat, daß sie es bitter bereute, so bitter, daß sie aus dem Gefühl ihrer Schuld und ihrer Reue heraus heiße Tränen vergoß, das schon deshalb, weil auch ihre Reue, wie jede andere, zu spät kam. Aber das, was sie von ganzem Herzen bereute, war glücklicherweise auch alles, was sie zu bereuen hatte und daß es nicht mehr war, tröstete sie schnell wieder. Nein, sonst brauchte sie sich nichts vorzuwerfen und wenn der Alfred sie, Gott allein wußte warum, nicht mehr grüßen wollte, dann ließ er es einfach bleiben, denn sie selbst konnte ihm jederzeit offen und frei in die Augen sehen, so oft sie sich in Zukunft treffen würden und das tat sie denn auch. Aber sie konnte es bei ihrem guten Herzen doch nicht verhindern, daß ihr der arme Alfred, wenn er mit einem geschienten Bein angehumpelt kam, ihr immer aufs neue leid tat, und schon um diesen traurigen Anblick nicht mehr zu haben, war sie sehr froh, als ihr guter Papi bald darauf in eine andere Stadt versetzt wurde.
Und in der neuen Stadt lernte sie sehr bald ihre Freundin Hanna kennen, die Tochter eines Bankdirektors, der neben ihren Eltern wohnte, und durch die Hanna lernte sie Kuno kennen. Schon daß er Kuno hieß, nahm sie für ihn ein, nioch bevor sie ihn von Angesicht zu Angsicht sah, und alles was die Hanna ihr sonst noch von ihm erzählte, tat das erst recht. Mit seinem vollen Namen hieß er Kuno von Adesberg, war siebzehn Jahre alt, besuchte in Großlichterfelde das Kadettenkorps und Hannas Eltern erwarteten ihn während der bevorstehenden großen Ferien zum Besuch, da Kunos Eltern, mit denen Hannas Eltern sehr befreundet waren, sich auf einer Nordlandreise befanden und da Kuno keine Lust verspürte, seine Verwandten aufzusuchen. Hannas Eltern freuten sich sehr auf ihren Gast, der ein ebenso hübscher wie lieber Junge sein sollte und Hanna selbst konnte es gar nicht abwarten, bis er endlich käme, und so wurde ihr, Deta, gleich eins klar, die Hanna lebte nicht nur in der stillen Hoffnung, sondern in der felsenfesten Erwartung, daß sich zwischen ihr und dem hübschen Kuno etwas anbandeln werde, und wenn dieses „etwas”auch nur ein harmloser Flirt sei. Und darüber ärgerte sie, Deta, sich, denn wenn die Hanna auch ein liebes gutes Mädchen und wenn sie auch mit der innig befreundet war, wie kam die darauf, es als selbstverständlich anzunehmen, daß es zwischen ihr und dem Kuno zu einem Flirt kommen würde? Da hatte sie selbst, sie, die Deta, doch auch noch ein Wort mitzureden, denn das mußte sie leider von ihre besten Freundin Hanna sagen, hübsch war die nicht, im Gegenteil ! Aber nein, das war zuviel behauptet, so häßlich war die Hanna nun auch nicht, aber hübsch war die keineswegs, denn ihr Gesicht wies immer noch die Spuren einstiger Sommersprossen auf, an denen sie früher gelitten hatte. Und dann hatte Hanna knallrote Haare und ganz schwarze, eigentlich wunderhübsche schwarze Augen, die aber so gar nicht zu den knallroten Haaren paßten. Hauptsächlich aber hatte Hanna zu häßliche Beine, die waren zu dick, viel zu dick, die hatte ein paar Waden, wie sie die noch kaum jemals so stark bei einem anderen jungen Mädchen gesehen hatte, obgleich die Hanna sonst gar nicht so stark war. Aber die Waden ! Und dabei trug die Hanna ganz, aber auch ganz stiefelfreie Röcke. Na, ihr persönlich konnte das nur recht sein, umso vorteilhafter hob sich ihr eigener schlanker Wuchs von dem der Freundin ab und wenn der Kadett, nein der Herr Kadett Kuno sie beide erst nebeneinander sah und sie beide miteinander verglich, dann sollte es doch sonderbar zugehen, wenn er sie nicht viel hübscher und begehrenswerter fand als die Hanna, besonders wenn auch sie ihre ganz, ganz stiefelfreien Röcke anzog.
Aber davon, daß sie im stillen die Absicht hatte, der Freundin ihren Flirtkadetten abspenstig zu machen, noch bevor der Flirt zwischen den beiden anderen richtig begonnen hatte, durfte die Hanna natürlich nichts wissen, denn die war doch ihre Freundin und sie durfte nicht so gemein sein, die zu betrüben. Und außerdem durfte sie nach außen hin in keiner Weise so tun, als ob sie den Herrn Kadetten für sich gewinnen wolle. Wenn der eines Tages zu ihr übergehen sollte, mußte der in den Augen der Freundin als der Alleinschuldige erscheinen und sie selbst mußte sich jeden Tag ihre Hände mit der berühmten Unschuldsseife waschen können. Deshalb war sie auch von Anfang an so klug gewesen, in ihren Gesprächen mit der Hanna der den bevorstehenden Besuch von Herzen zu gönnen und sich mit der auf den kommenden Kadetten zu freuen und dabei doch so zu tun, als ob sie persönlich es ewig und drei Jahrhunderte abwarten könne, ob und wann der käme. Und als der dann kam, da stellte sie sich ein paar Tage krank und hütete das Zimmer. Sie mußte der Hanna doch beweisen, daß sie gar nicht neugierig darauf sei, den Herrn Kadetten kennenzulernen und erst recht mußte sie ihm das beweisen. Als sie dann aber endlich wieder ausging, galt ihr erster Gang natürlich der Freundin und wenn es ihr auch noch so sauer wurde, sie hatte der Versuchung widerstanden, sich für diesen Besuch zu putzen und sich besonders hübsch anzuziehen, denn sonst wäre die Hanna trotz der ihr angeborenen Gutmütigkeit vielleicht doch ein klein wenig mißtrauisch und argwöhnisch geworden und der Herr Kadett hätte sich vielleicht nach eitler Dummer-Jungenart gleich eingebildet, sie wolle Eindruck auf ihn machen. So ging sie denn zu der Freundin, wie sie immer zu der kam, in dem Kleid und in dem Hut, die sie für gewöhnlich trug, und als sie kam, mußte sie es sehen, daß sich zwischen der Hanna und dem hübschen Kadetten bereits ein kleiner Flirt angebandelt hatte. Aber das störte sie keineswegs, im Gegenteil, das freute sie, denn umso größer würde später ihre Freude und ihr Stolz sein, wenn der Kadett erst zu ihr abgeschwenkt war. Und daß der abschwenken sollte, wurde, sobald der Kadett ihr vorgestellt war, bei ihr noch mehr zur Gewißheit, als das ohnehin schon der Fall gewesen war, denn daß der Kadett mit seinen siebzehn Jahren so hübsch sei, hatte sie selbst nach den Schilderungen der Freundin und nach den Bildern, die diese ihr von ihm zeigte, nicht erwartet. Nicht nur, daß er eine etwas mehr als mittelgroße schlanke, sehr schwippe Figur hatte, die ausgezeichnet zu der ihrigen paßte, er hatte auch ein kluges hübsches Gesicht, wundervolles dunkelbraunes Haar, nach ihrem Geschmack geradezu berückend schöne blauschwarze Augen und eine außerordentlich hübsche gerade Nase. Und dazu der Mund mit den weißen Zähnen und den frischen roten Lippen. So beschäftigten sich denn nicht nur ihre Gedanken mit dem ihr gegenübersitzenden Kadetten, sondern ein ganz klein wenig taten das auch ihre Augen. Natürlich nicht, als ob sie ihn so angesehen hätte, daß ihm das aufgefallen wäre, o nein, so dumm war sie nicht, sie sah ihn lediglich so an, wie man sich irgend etwas ganz Gleichgültiges ansieht, um dadurch nicht unhöflich zu erscheinen, daß man es sich gar nicht ansieht. Aber wenn er es verstand, in ihren Blicken zu lesen, so mußte er trotzdem lesen können, was sie, wenn auch möglichst unleserlich, in ihren Blick für ihn hineinlegte.
Und er schien nicht nur lesen, sondern sogar gut lesen zu können, denn nach und nach bemerkte sie, wie er sie ansah, wie er sich bemühen mußte, dabei eine gewisse Verlegenheit zu verbergen, und vor allem sah sie, wie er plötzlich seinen Sessel wie unbeabsichtigt etwas weiter zurückschob, bis er nicht mehr neben, sondern ein klein wenig hinter der Hanna saß, so daß die die Blicke nicht bemerken konnte, mit denen er allmählich anfing, sie zu verschlingen. Hurra ! das war ja schnell gegangen, einen so raschen Sieg hätte sie nicht erwartet, das gestand sie sich selbst ein. Aber nun, da sie gesiegt hatte, durfte sie nicht länger sitzen bleiben, sondern mußte ihn sich selbst, seinen Gedanken und seiner Sehnsucht nach ihr überlassen. So erhob sie sich denn, um sich zu verabschieden. Sie sei schon viel länger geblieben, als sie es gewollt hätte, sie fühle sich doch noch etwas matt und angegriffen und es würde für sie Zeit, sich wieder hinzulegen. Aber davon wollte die Hanna nichts wissen. Die bat, sie möchte doch noch bleiben, sie hätte bestimmt erwartet, sie würde bei ihnen das Abendessen einnehmen, die Eltern würden böse werden, wenn die hörten, daß sie sie so hätte gehen lassen. Und während die Hanna auf sie einsprach, stand der Kadett hinter Hanna und sagte gar nichts, aber wenn sein Mund auch schwieg, seine Augen baten desto beredter: ,Bleiben Sie doch noch, tun Sie es mir zuliebe, daß Sie bleiben.' Aber nein, das ging nicht. Gewiß, der arme Kadett tat ihr furchtbar leid, aber trotzdem, wenn sie blieb, verlor sie vielleicht mehr, als sie durch ihr Bleiben gewann. Deshalb blieb sie auch unerbittlich und tröstete die Freundin und auch den Herrn Kadetten danit, daß sie an einem der nächsten Tage, oder vielleicht in der nächsten Woche einmal zum Abendessen kommen wolle, und bis dahin sähen sie sich sicher oder vielleicht einmal auf dem Tennisplatz.
Gleich darauf machte sie sich auf den Nachhauseweg, nachdem sie sich von der Hanna mit einem herzlichen Kuß und von dem Herrn Kadetten mit einem freundlichen Händedruck verabschiedet hatte, wobei sie dem Kadetten ansah, daß es ihm viel lieber gewesen wäre, wenn er den Kuß und wenn die Hanna den Händedruck bekommen hätte. Und das Gesicht, das er bei diesem Gedanken hinter Hannas Rücken machte, war so drollig gewesen, daß sie in der Erinnerung daran unterwegs stillvergnügt vor sich hin lächelte und daß sie an das Gesicht auch noch lange denken mußte, als sie spät abends zu Bett ging, und als sie weiter darüber nachdachte, wann er sie wohl um einen Kuß bitten würde. Daß er das über kurz oder lang täte, stand für sie fest. Aber in welcher Form und unter welchem Vorwande würde er das wohl tun? Und wenn er sie um einen Kuß bat, was sollte sie ihm zur Antwort geben? Ihn mit einem Korb nach Hause schicken? Nein, das ging nicht, dafür war er zu hübsch und außerdem wäre es herzlos von ihr gewesen, einen so lieben Menschen so schlecht zu behandeln. Aber sollte und durfte sie seine Bitte erfüllen? Wäre es nicht gemein von ihr, der Hanna den Kuß von seinen Lippen fortzunehmen, nach dem die sich sicher schon lange sehnte? Aber nein, gemein war das nicht und wenn doch, dann hätte die Hanna sich an ihrer Stelle sicherlich nicht eine halbe Sekunde besonnen, dieselbe Gemeinheit gegen sie zu begehen. Also auf die Hanna brauchte sie nicht die allerleiseste Rücksicht zu nehmen und wenn nicht auf die, dann in diesem Falle überhaupt auf niemanden. Sollte sie ihn da also küssen, oder sich wenigstens von ihm küssen lassen, wenn er sie darum bat? Und wurde es für sie mit ihren nun schon mehr als sechzehn Jahren nicht wirklich die höchste, aber auch die allerhöchste Zeit, daß sie endlich mit dem Küssen anfing?
Welcher Art aber sollte und würde ihr Benehmen sein, wenn er sie um einen Kuß bat? Darüber dachte sie eine ganze Weile nach, bis sie es beinahe unnatürlich fand, daß sie überhaupt darüber nachdachte, ob sie ihn küssen solle oder nicht. Wozu ließ denn der liebe Gott die hübschen jungen Männer wachsen? In erster Linie doch nur, damit die die jungen Mädchen küßten und sich von denen wiederküssen ließen. Und der Gedanke, sich von dem Kadetten küssen zu lassen, lockte und reizte sie, schon weil er im Gegensatz zu ihrem früheren Freund Alfed ein Herr war und weil er einen so bildhübschen Mund hatte. Und außerdem, wenn sie sich nicht von ihm küssen ließ, die Hanna tat das gleich, die brauchte er sicher gar nicht erst zu fragen, die hielt ihm ihren Mund schon hin, wenn sie nur seine Kußgedanken erriet. Aber die Hanna sollte er unter gar keinen Umständen küssen, gerade die nicht, das hatte sie sich doch von Anfang an fest vorgenommen, als sie beschloß, ihr den Flirt mit dem Gast ihrer Eltern zu stören. Allerdings hatte sie da für ihre eigene Person nicht an das Küssen gedacht und bis zu einem gewissen Grade tat sie das auch jetzt nur widerstrebend, denn ob sein Mund ihr noch so schön erscheinen würde, wenn sie den erst einmal geküßte hatte, und ob er selbst sie noch so hübsch und begehrenswert fand, wenn er sie erst einmal oder gar ein paarmal küßte? Das war die Frage. Und dazu kam noch eins. Wer konnte wissen, ob der Kuno, wenn er sie erst küßte und wenn er sah, daß sie sich küssen ließ, dann nicht auch noch die Hanna küssen würde? Das durfte er natürlich unter gar keinen Umständen und da sie zu wissen glaubte, daß er, solange er danach gieperte, sie, nur sie zu küssen, gar nicht daran denken würde, auch die Hanna zu küssen, so beschloß sie endlich, ihn lange um den Kuß bitten zu lassen, bevor sie ihm den gewährte, und auch dann mußte er ihr sein Ehrenwort als Kadett, als Kavalier und als zukünftiger Offizier geben, daß er nach ihr, wenigstens in den nächsten drei Jahren, übehaupt kein anderes junges Mädchen küssen würde.
Als sie sich zu diesem Entschluß durchgerungen hatte, fühlte sie sich körperlich und geistig ermattet und beschloß, wirklich endlich zu schlafen. Aber schon im Begriff einzuschlafen, lachte sie plötzlich stillvergnügt vor sich hin, denn sie sah im Geiste den hübschen Kadetten in seinem langen weißen Nachthemd in seinem Bett liegen und sich den Kopf darüber zerbrechen, ob sie, Deta, sich wohl von ihm küssen lassen würde, und sicher dachte er auch darüber nach, ob sie es wohl gemerkt habe, wie ausgezeichnet gut sie ihm gefiel und daß er sich nach einem Kuß von ihr sehne. Und vielleicht lag er sogar mit gefalteten Händen da und flehte zu den Göttern, sie möchte sich von ihm küssen lassen. Aber die Götter würden ihm da nicht viel helfen können, ob sie sich küssen ließ oder nicht, das hing einzig und allein von ihr ab.
Mit diesem frohen und stolzen Bewußtsein schlief sie nun ein, um am nächsten Morgen erst wach zu werden, als bereits die helle Sonne in das Zimmer schien, und wenn sie sich über das schöne Wetter auf der einen Seite auch freute, so ärgerte sie sich trotzdem ein klein wenig darüber, denn nun würde sie am Nachmittag wohl auf den Tennisplatz gehen müssen, wenn sie es nicht zu auffällig machen wollte, daß sie die Nähe des Kadetten mied, um seine Sehnsucht nach ihr zu erhöhen. Schlechtes oder wenigstens zweifelhaftes Wetter wäre ihr lieber gewesen, ganz besonders zweifelhaftes, da hätte er immer nach ihr ausgesehen und sich fortwährend gefragt: ob Fräulein Deta bei dem Wetter wohl kommen wird? Hoffnungen und Zweifel hätten in seiner Brust gekämpft und natürlich wäre sie da nicht gekommen. Aber wenn sie auch heute nun nicht gut zu Hause bleiben konnte, warten lassen wollte sie ihn natürlich trotzdem und deshalb nahm sie sich vor, sich telephonisch mit Hanna zu pünktlich vier Uhr auf dem Tennisplatz zu verabreden, aber ganz pünktlich um vier und wenn sie dann um fünf oder ein Viertel auf sechs kam, war es auch noch früh genug. Na, an einer Ausrede oder an einer Entschuldigung würde es ihr schon nicht fehlen. Die Schneiderin war ganz einfach so spät zu einer Anprobe gekommen, denn Schneiderinnen sind ja bekanntlich immer un pünktlich, besonders wenn man sie gar nicht erwartet.
Ja, ja, sie würde vor ein Viertel auf sechs keinesfalls auf den Tennisplatz kommen und als sie dann am Nachmittag tatsächlich erst so spät erschien, da sah sie ganz deutlich, wie das Gesicht des Kadetten sich vor eitel Sonnenschein verklärte, weil sie überhaupt noch kam. Und wie herzlich und aufrichtig er sie bedauerte, daß sie bei dem schönen Wetter lediglich einer dummen Anprobe wegen solange hatte zu Hause bleiben müssen. Wie deutlich seine Augen ihr sagten, wie hübsch er sie in dem wißen Tenniskleid mit dem großen weichen Panamahut fände. Daß der Hut ihr ausgezeichnet stand, wußte sie selbst und deshalb nahm sie ihn auch heute nicht ab, als bald darauf das Spiel begann, bei dem Herr Kuno sich allerdings als kein großer Künstler erwies. Aber das war ja auch gleichgültig, die Hauptsache blieb, daß er Gelegenheit fand, ihre Gestalt und ihren schlanken Wuchs zu bewundern, während sie leichtfüßig den Bällen nachlief. Und die Gelegenheit hatte er, schon weil sie ihm die bot, und natürlich auch nicht ohne Erfolg, denn seine Blicke wurden immer verliebter und als er ihr ein paar Mal die Bälle aufgehoben hatte und sie ihr reichte, da berührte er mit seinen Händen absichtlich die ihrigen und versuchte die sogar leise und verstohlen zu drücken. Aber darauf ließ sie sich nicht ein, das schickte sich denn doch nicht, daß sie ihm das so schnell erlaubte, dafür war ihre Bekanntschaft doch noch zu jung. Aber wenn sie seinen Händedruck auch nicht erlaubte und den erst recht nicht erwiderte, so dankte sie ihm doch durch einen sehr freundlichen Blick, so daß er, wohl dadurch ermutigt, als die Hanna sich während einer kleinen Spielpause mit einer gemeinsamen Bekannten unterhielt, ihr zuflüsterte: „Wissen Sie wohl, gnädiges Fräulein, daß ich mir erlaubt habe, die ganze oder wenigstens die halbe Nacht von Ihnen zu träumen?”
Daß er sagte, er habe sich das erlaubt, fand sie sehr spaßig und sehr drollig, aber das bewies ihr auch, welche Ehrerbietung er ihr zollte und so fragte sie denn, obgleich sie ja ganz genau wußte, was er träumte, so freundlich sie nur immer konnte: „Und darf man auch wissen, was Sie geträumt haben?”
Ritterlich und militärisch schlug er die Hacken seiner Tennisschuhe aneinander: „Ob Sie das wissen dürfen, gnädiges Fräulein? Davon, daß Sie es nicht dürfen, kann selbstverständlich gar keine Rede sein, Sie müssen es sogar wissen. Das glaube ich Ihnen schuldig zu sein, gnädiges Fräulein, daß ich einen so göttlich schönen Traum, wie ich ihn träumte, nicht für mich behalte, ganz abgesehen davon, daß der Traum nur dann, oder wenigstens unter Umständen nur dann für mich in Erfüllung gehen kann, wenn Sie, gnädiges Fräulein, bei der Erfüllung mitmachen oder mitwirken, denn nicht wahr, gnädiges Fräulein, wenn zwei sich küssen, dann gehören doch immer zwei dazu, einer der küßt und einer, oder richtiger gesagt —”
„Eine, die sich küssen läßt,” fiel sie ihm schnell und übermütig in das Wort, denn es belustigte sie, daß er mit seinem Traumgeständnis, wenn auch nur auf Umwegen und etwas zögernd und stockend, nun doch noch zu Ende gekommen war. Und noch eins belustigte sie, daß sie, die an Wuchs doch kleiner und an Jahren jünger war, als er, solche Macht oder wenigstens solchen Einfluß auf ihn ausübte, daß er in ihrer Gegenwart beinahe verwirrt und verlegen wurde. Verwirrt und verlegen war er schon gewesen, als er ihr von seinem Taum erzählte, nun aber war er es durch ihren Zwischenruf erst recht geworden und machte, um sich zu sammeln, den Versuch, seinen zukünftigen Schnurrbart etwas zu drehen. Aber da der noch zu zukünftig war und da er den bei dem besten Willen noch nicht drehen konnte, ließ er die bereits bis zum Mund erhobene Hand wieder herabgleiten und gab schließlich zur Antwort: „Na ja, gnädiges Fräulein, Sie haben mit dem, was Sie eben sagten, natürlich vollständig recht, aber ich hatte mir die Fortsetzung meines Satzes eigentlich anders gedacht. Ich wollte mir die Bemerkung erlauben: zum Küssen gehören zwei, einer der küßt und eine, die wiederküßt, wobei es sich ziemlich gleichgültig bleibt, ob der eine die eine ist, oder die eine der eine, denn das Schönste ist selbstverständlich, wenn jeder von den beiden wiederküßt.”
Anscheinend auf das höchste überrascht, verwundert und strafend zugleich, aber doch mit einem leisen Schalk in den Augen, sah sie ihn eine ganze Weile an, um ihm dann zuzurufen: „Und Sie glauben allen Ernstes, Herr von Adesberg, Ihr Traum könne jemals in Erfüllung gehen und das noch dazu in der Art, daß ich mich nicht nur von Ihnen küssen ließe, sondern daß ich Sie sogar wiederküßte? Das ist denn doch wirklich —” aber was es war, wußte sie nicht, oder wenigstens nicht was es sein könne, um ihn dadurch nicht zu verletzen und zu kränken. Vor allen Dingen aber durfte sie ihn nicht zu sehr einschüchtern, denn sonst wäre er imstande, vielleicht nie wieder auf seinen Traum zurückzukommen und das mußte er, denn sie war ja selbst mehr als neugierig, ob es zwischen ihnen beiden zum Küssen kommen würde. Deshalb hatten ihre Augen, mit denen sie ihn nun ansah, auch gar nichts Strafendes mehr, sondern nur etwas Lustiges und Übermütiges, so daß er seinerseits meinte: „Ob ich das glaube, gnädiges Fräulein? Mit dem Glauben ist das so eine Sache, weil zu dem Glauben nach dem Wort der Bibel ja auch noch die Hoffnung und die Liebe gehören und da ich Ihnen wohl nicht erst zu sagen brauche, gnädiges Fräulein, daß ich Sie liebe, da haben auch der Glaube und die Hoffnung von mir Besitz genommen und wenn mein Glaube mich auch täuschen sollte, so wird meine Hoffnung vieleicht nicht zuschanden werden,” und während er das sagte, sah er sie mit seinen hübschen Augen so treu, so ehrlich und so bittend an, daß sie unwillkürlich ihre Augen senkte. Das tat sie einmal, weil sie nicht wußte, was sie ihm auf seine Hoffnungsworte erwidern sollte, hauptsächlich aber, weil sein Geständnis. er liebe sie, sie völlig verwirrte. Daß diese seine Liebe ihr galt, ließ ihr Herz höher und unruhiger schlagen, bis sie nun mit leiser einschmeichelnder Stimme fragte: „Ja lieben Sie mich denn wirklich?”
„Das fragen Sie mich noch?” gab er heiser und erregt zur Antwort, um gleich darauf fortzufahren: „Muß ich Ihnen das erst noch einmal sagen, gnädiges Fräulein? Haben Sie mir das nicht schon gleich gestern angemerkt, als ich die Ehre hatte, Ihnen vorgestellt zu werden? Da, in demselben Augenblick ist es über mich gekommen und das will viel heißen, gnädiges Fräulein, denn ich bin doch schließlich kein Kind mehr und habe sogar schon oft mit jungen Damen getanzt ! Neulich auf unserem letzten Korsofest in unserem Korps habe ich sogar mit vielen jungen hübschen Damen tanzen dürfen, da habe ich viele im Arm gehalten und da war besonders eine — aber trotzdem, was war und was ist die gegen Sie, gnädiges Fräulein? So wie mir gestern war, als Sie mir gegenüber saßen, ist mir in meinem ganzen bisherigen Leben noch nicht gewesen und ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, so wird mir auch nie wieder werden. Heiß und kalt ist es mir über den Rücken gelaufen und als ich dann am Abend allein in meinem Zimmer saß, da hätte ich, wenn ich an Sie dachte, und ich habe immer nur an Sie gedacht, da hätte ich zugleich lachen und weinen mögen, so glücklich war ich bei dem Gedanken an Sie, aber zugleich so traurig, als ich mir sagte, daß meine Ferien nicht ewig dauern und daß für mich nur viel zu früh die Stunde schlagen wird, in der ich für lange lange Zeit von Ihnen Abschied nehmen muß. Wie ich später darüber hinwegkommen soll, Sie nicht mehr täglich zu sehen oder Sie wenigstens nicht mehr in meiner Nähe zu wissen, das ahne ich heute noch nicht.”
In diesem Sinne sprach er noch eine ganze Weile auf sie ein und sie hörte es klopfenden Herzens aus jedem seiner Worte heraus: ja ja, was er für sie empfand, war die richtige Liebe, das war die Liebe, die, wie sie aus den Romanen wußte, die sie gelesen hatte, dahin führt, daß beide sich kriegen und miteinander glücklich werden. Ob aber auch sie beide sich später kriegen würden, wenn er sie ewig lieb behielt, wie er ihr das geschworen hatte und wenn sie ihn dann ebenso liebte wie er sie? Aber bis dahin war ja noch lange Zeit, darüber schon heute nachzudenken, hatte gar keinen Zweck, jetzt handelte es sich um die viel wichtigere Frage: mußt du es ihm unter diesen Umständen nicht erlauben, dich zu küssen, und mußt du ihn, wenn er dich geküßt hat, nicht wiederküssen? Um darauf Antwort zu finden, sah sie sich seinen hübschen Mund mit den frischen roten Lippen noch genauer und noch prüfender an, als sie das gestern schon getan hatte, aber er ließ ihr leider keine Zeit, zu einem Entschluß zu gelangen, denn plötzlich und unerwartet kamen über seine Lippen die Worte: „Nicht wahr, gnädiges Fräulein, jetzt wo ich Ihnen gestanden habe, wie es in mir aussieht, darf ich glauben und hoffen, daß mein schöner Traum in Erfüllung gehen wird?”
Die Frage kam zu schnell, als daß sie die schon jetzt mit einem „ja” hätte beantworten können, deshalb fragte sie nun ausweichend: „Ja, war denn der so schön?”
Mit leuchtenden verklärten Augen sah er sie an: „Ob der schön war, gnädiges Fräulein? Wenn ich nicht schon in Lichterfelde, sondern noch im Vorkorps wäre, würde ich wahrheitsgemäß sagen, Windbeutel und Schlagsahne sind nichts dagegen, gnädiges Fräulein. So aber sage ich, wenn die Wirklichkeit nur annähernd so schön würde wie der Traum es war, dann will ich, wenn ich erst wieder in Lichterfelde bin, vier, nein was sage ich, acht Sonntage freiwillig auf meinen Urlaub verzichten, obgleich Sie nicht ahnen, gnädiges Fräulein, was für unsereinen der Sonntagsurlaub bedeutet. Auf den freut man sich von Montag morgen an bis zum Sonnabend abend. Der ist der Lichtblick in unserem Leben und wenn einem der Sonntagsurlaub entzogen wird, ist das das Schlimmste, was unsereinem passieren kann. Wenn die anderen alle das Korps verlassen, um mit der Bahn nach Berlin zu ihren Verwandten und Bekannten zu fahren, und man selbst bleibt allein in dem großen Kasten und in den öden Stuben zurück, das ist, um Selbstmord zu begehen. Heulen möchte man, wenn man dafür nicht zu alt wäre. Aber trotzdem, acht, nein sogar zehn Sonntagsurlaube würde ich freiwillig opfern, wenn die Erfüllung meines Traumes nur ein Viertel so schön würde wie es der Traum selbst war.” Und hoch aufatmend schloß er: „So, gnädiges Fräulein, nun wissen Sie hoffentlich, wie schön er war.”
Ja, nun wußte sie es, konnte es sich wenigstens ungefähr denken, wie schön es sein müßte, sie zu küssen und sich nun erst recht gar von ihr wiederküssen zu lassen. Daß beides schön sein müsse, konnte sie sich ja denken, aber daß es so schön sein solle, das hätte sie denn doch nicht gedacht. So war sie sehr dicht daran, ihm zu verstehen zu geben, daß seine Hoffnung ihn nicht trügen solle, sie war so dicht daran, ja zu sagen, daß da nur noch ein Haar fehlte. Aber da fuhr ihr plötzlich ein leichter Windtsoß unter die hochgeschlagene Krempe ihres Panamahutes und wehte ihr eins ihrer langen Haare auf die Lippen. Gewiß, sie war nicht abergläubisch, sie war es nie gewesen, aber trotzdem nahm sie dieses Haar als ein ihr von Gott gesandtes Zeichen, daß sie doch nicht so schnell ja sagen dürfe und wenn sie es sich richtig überlegte, wäre es nicht einfach kalt und herzlos, ihm eine Erfüllung seines Wunsches sofort in Aussicht zu stellen? Wußte sie nicht aus eigner Erfahrung, daß die Freude über ein Geschenk umso größer ist, je länger man in der Ungewißheit gelebt hat, ob man das Geschenk erhält? Und sank nicht auch der reelle Wert eines Geschenkes, wenn man das sofort bekam, nachdem man kaum den Wunsch danach geäußert hatte?
Das und vieles andere, was damit zusammenhing, schoß ihr blitzschnell durch den Kopf, während er ihr immer noch erwartungsvoll gegenüberstand, bis er nun endlich sagte: „Wird es Ihnen wirklich so schwer, gnädiges Fräulein, mir die erbetene Antwort zu geben?” Und sie mit seinen hübschen dunklen Augen voller Liebe ansehend, setzte er hinzu: „Sagen Sie mir das eine, gnädiges Fräulein, von dem mein ganzes Glück abhängt: darf ich hoffen?”
Daß er diese Frage an sie richtete, hieß ihr ja beinahe die Pistole auf die Brust setzen und für einen Augenbilck war sie ihm ernstlich böse, daß er sie derartig bestürmte. Aber ihr Zorm schwand schnell dahin, als sie ihm nun aufs neue ansah, wie er nach dem Kuß verlangte. Aber gerade weil er das so stürmisch tat, wollte sie unter keinen Umständen ein Ja sagen, aber ein Nein brachte sie auch nicht über die Lippen, und deshalb rief sie ihm jetzt zu: „Vielleicht !”
Sie selbst dachte sich bei dem Wort nicht allzu viel, aber das brauchte er ja nicht zu wissen, daß sie noch ganz unentschlossen sei, und damit er gar nicht auf diesen Gedanken käme, warf sie ihm einen Blick zu, der seine Schuldigkeit tat, denn sie sah, wie er abwechselnd blaß und rot wurde, wie seine Augen sich förmlich in die ihrigen hineinbohrten, und sie hörte die gewaltige Erregung, die ihn ergriffen hatte, aus seiner bebenden Stimme heraus, als er jetzt fragte: „Und wann, gnädiges Fräulein, glauben Sie, daß dieses „vielleicht” für mich in Erfüllung geht?”
„Das müssen wir der Zukunft überlassen,” gab sie ausweichend zur Antwort, „nur die weiß, wann der richtige Ort die richtige Stunde und die richtige Stimmung über uns oder wenigstens über mich bringen wird, denn selbst auf die Gefahr hin, daß Sie mir nicht glauben, schwöre ich Ihnen, daß ich noch nie einen jungen Herrn küßte, obgleich es mir in der Hinsicht ganz gewiß nicht an Anträgen fehlte. Wieviele haben mich nicht schon darum gebeten, mich, wenn auch nur einmal, küssen zu dürfen. Aber ich habe es nie erlaubt. Sie wären, wenn Sie mich küssen sollten, tatsächlich der erste.”
„Der erste,” wiederholte er, vor Glückseligkeit bei dem Gedanken zitternd, daß seine Lippen die ersten sein sollten, die ihren Mund berühren dürften, und noch ein paarmal wiederholte er ganz mechanisch: „Der erste, der erste.” Bis er ihr nun zurief: „Dann will und werde ich aber auch der erste sein, gnädiges Fräulein. Die Freude, Sie in das süße Geheinis des ersten Kusses eingeweiht zu haben, dürfen Sie mir ganz einfach nicht rauben und deshalb beschwöre ich Sie, gnädiges Fräulein, sagen Sie es mir, wann glauben Sie, daß der richtige Ort die richtige Stunde, wie Sie sich vorin ausdrückten, die richtige Stimmung über Sie bringen wird?”
„Vielleicht morgen, vielleicht übermorgen, vielleicht an einem anderen Tage,” gab sie schalkhaft und übermütig zur Antwort, schon um dadurch Zeit zu gewinnen.
„Eher nicht?” rief er ihr verzweifelt zu, um gleich darauf flehend hinzuzusetzen: „Und Sie glauben nicht, gnädiges Fräulein, daß schon heute — ?”
Aber ihm darauf Antwort zu geben, hatte sie Gott sei Dank nicht nötig, denn in demselben Augenblick trat ihre Freundin Hanna mit den Worten wieder zu ihnen: „Gott sei Dank, da bin ich. Das hat ja eine Ewgkeit gedauert, bis ich mich von der Olly freimachen konnte. Der Grasaffe ist, wie immer, einmal wieder verliebt und natürlich unglücklich. Anders tut die es ja nicht und ich glaube, wenn die mal glücklich verliebt sein sollte, würde sie darüber erst recht unglücklich sein. Da habe ich mir ihre ganze Quatschgeschichte mit anhören müssen, und als sie endlich fertig war, hätte sie am liebsten wieder von vorn angefangen. Da aber machte ich mich dünne, nachdem ich die Olly daran erinnert hatte, daß ich mich unbedingt jetzt wieder Euch widmen müsse. Hoffentlich seid Ihr mir nicht böse, daß ich Euch solange allein ließ.”
„Eigentlich müßten wir dir das wohl sein.” versicherte sie der Freundin so ehrlich, daß die das allen Ernstes zu glauben schien, dann aber setzte sie, um die Freundin zu beruhigen, schnell hinzu: „Wenn ich allein solange auf dich hätte warten müssen, wäre ich vor Langerweile natürlich gestorben, aber Herr von Adesberg hat mir soviel von seinem Leben im Kadettenkorps erzählt, daß mir bei allem, was ich da zu hören bekam, die Zeit schnell verstrichen ist. Wenn es dir recht ist, Hanna, wollen wir nun aber weiterspielen, wir haben damit nur auf dich gewartet.”
„Das ist aber wirklich zu nett von Euch,” stimmte Hanna ihr bei, während sie selbst im stillen dachte: entweder ist die Hanna, die dumme Gans, so sehr von sich und der Schönheit ihrer dicken Beine überzeugt, daß sie glaubt, es nicht nötig zu haben, eifersüchtig zu sein, oder sie hat dazu von Hause aus kein Talent. Umso besser für sie. Ich aber hätte an deren Stelle uns beide schon längst gefragt, worüber wir uns in Wahrheit solange unterhalten hätten, denn so dumm, ernstlich an das Gespräch über das Kadettenleben zu glauben, kann die doch nicht sein.
Ob die Hanna das glaubte oder nicht, blieb dahingestellt, denn die fragte gar nicht weiter, sondern ließ sich ruhig die Tennisbälle reichen und gleich darauf begannen sie erneut zu dritt zu spielen, aber wenn der Herr Kadett schon vorhin ein mittelmäßiger Spieler gewesen war, so wurde er jetzt ein geradezu miserabler, so daß die Hanna ihn ein paarmal ausschalt, wenn er die Bälle so schlecht gab oder auffing. Und um nicht zu verraten, daß sie für die eigene Person wisse, warum er jetzt noch schlechter spielte als am Anfang, schalt sie ihn schließlich auch etwas aus, aber sie tat es mehr in humoristischer und neckender Weise, denn sie wollte ihn nicht betrüben, sondern seinen gesunkenen Lebensmut durch ihr Lachen wieder beheben. Sie allein wußte ja, was ihn bedrückte und bekümmerte, die Ungewißheit, ob er wirklich vielleicht bis morgen, oder bis übermorgen, oder sogar noch länger darauf warten müsse, sie küssen zu dürfen. Der Ärmste tat ihr so leid, daß er sich deswegen soviele Gedanken machte und daß er sich soviel Mühe geben mußte, um von alledem, was ihn im stillen beschäftigte und quälte, nichts zu verraten. Jawohl, die ganze Kußgeschichte quälte ihn, das war das richtige Wort und bei der Erkenntnis, daß er ihretwegen litt, daß er ihretwegen, wenn auch nicht gerade körperliche, so doch seelische Schmerzen litt, die, wie sie einmal gelesen hatte, noch viel weher tun können als die körperlichen, da kam es wieder über sie wie vor Jahr und Tag, oder war es vielleicht noch länger her, aber das war ja auch ganz gleichgültig. Auf jeden Fall kam es wieder über sie wie an jenem Tage, als sie sich vorstellte, ihr junger Freund Alfred könne ihretwegen gezüchtigt werden.
Nun kam nach langer langer Zeit zum erstenmal wieder das süße, berauschende und wonnige Gefühl über sie, daß es ihr, als sie nun den Bällen entgegenlief, so vorkam, als schwebe sie ganz leicht dahin. In ihren Ohren klang eine berauschende Musik, in ihren Augen aber spiegelte sich die Welt viel viel schöner wider als sonst. Ihre Sinne waren erwacht und jetzt brauchte sie sich dessen auch nicht mehr zu schämen, denn nun war sie doch schon längst sechzehn Jahre und wurde sogar bald schon siebzehn und eine ihrer Bekannten hatte mit siebzehn und einem halben Jahre sogar schon geheiratet. Da war also auch sie schon bald in dem heiratsfähigen Alter. Ihre Sinne waren erwacht, wenn sie auch heute noch nicht recht wußte, was die verlangten und begehrten. Nur eins wurde ihr plötzlich klar, auch sie sehnte sich mit einemmal mit aller Gewalt danach, sich von dem Kadetten küssen zu lassen. Aber ob das süße Gefühl, das sie durchströmte, auch dann, wenn sie ihn erst geküßt hatte, noch ebenso süß war? Vor allem aber, ob es für sie nicht schöner und süßer war, daß er ihretwegen weiterlitt, als daß sie ihn bald von seinen Qualen erlöste? Und sie sah es ja fast von Minute zu Minute mehr, wie er sich nach einem Kuß von ihr verzehrte. Er wurde immer blasser und blasser, immer stiller und stiller, immer unaufmerksamer bei dem Spiel, je mehr sie, die auf der anderen Seite des Netzes seine Partnerin war, flink und geschmeidig seinen Bällen, die er gab, entgegenlief, je heller sie auflachte, wenn er eine neue Ungeschicklichkeit beging, je öfter sie ihm zurief: „Vielleicht geben Sie den nächsten Ball etwas besser,” und wenn sie das Wort „vielleicht” dann absichtlich besonders betonte, daß er erraten mußte, worauf sich das bezog, auf den Kuß, den sie ihm vielleicht erlauben würde und den er sicher auch jetzt noch ganz bestimmt für heute erhoffte. Und daß sie sich in dieser Annahme nicht irrte, bewies er ihr, als man endlich mit dem Spiel aufhörte, um nach Hause zu gehen. Der Zufall fügte es, daß sich zwei Freundinnen an Hanna anschlossen und daß diese zu dritt Arm in Arm voranschritten, so daß sie denen allein mit dem Kadetten folgte. Und da geschah es, daß er zu ihr sagte: „Gnädiges Fräulein, ich habe es mir die ganze Zeit überlegt, Sie können und dürfen nicht so grausam sein, die Gewährung meiner flehentlichen Bitte hinauszuschieben. Und wenn Sie vorhin sagten, es müsse dazu erst die richtige Stunde und der richtige Ort kommen, so wüßte ich auch da Rat. Mir ist eingefallen, wir beide haben von unseren Wohnungen bis zum Stadtpark ja keine drei Minuten, und als ich gestern durch den spazieren ging, da entdeckte ich dort ganz zufällig eine mehr als verschwiegene Bank, das heißt, daß die verschwiegen gelegen ist, fiel mir erst vorhin ein, als ich an die zurückdachte, und wenn wir uns heute dort vielleicht nach dem Abendessen für einen Augenblick treffen könnten, das wäre einfach unbeschreiblich schön. Natürlich will ich Sie zu keiner Lüge verleiten, gnädiges Fräulein, aber auch ohne die werden Sie bei dem wundervollen Wetter sicher leicht einen Vorwand finden, um noch etwas von Hause fortgehen zu können, und auch ich könnte mich selbstverständlich solange freimachen, wie Sie es nur wünschten. Also wie ist es, gnädiges Fräulein, darf ich hoffen, daß Sie kommen? Die Bank selbst können Sie gar nicht verfehlen, sie liegt —”
Sie hatte keine Ahnung, welche der vielen Bänke im Stadtpark er meinte, nur soviel wußte sie, daß sie unter gar keinen Umständen dorthin kommen würde, schon weil sie ja gar nicht wußte, ob sie sich von ihm küssen lassen würde und eine schlaflose Nacht sollte er ihretwegen wenigstens noch haben. Mit dem süßen und beglückenden Bewußtsein, daß er nur an sie denkend wach läge, wollte sie selbst in ihrem schönen weichen Bett einschlafen und wenn sie dann zwischendurch einmal aufwachte, wollte sie sich sagen können: sicher denkt er auch jetzt noch an dich. Deshalb meinte sie nun rasch: „Wo die Bank liegt, brauchen Sie mir nicht näher zu beschreiben, denn ich kann mir denken, welche Sie meinen, ganz sicher die, die allgemein die Kußbank genannt wird,” log sie frisch drauflos und erklärend setzte sie hinzu: „Die Bank führt deshalb den Namen, weil dort des Abends die jungen Leute aus der Stadt, die Soldaten und die Arbeiter sich ihre Kußrendezvous geben, na und daß auch wir uns dort treffen und dort womöglich von diesen Leuten gesehen werden, das geht natürlich nicht.”
„Nein, das geht natürlich nicht,” wiederholte er ganz niedergeschmettert, um nach einer kleinen Pause hinzuzusetzen: „Von alledem, was Sie mir da eben von dieser Bank erzählten, hatte ich selbstverständlich keine Ahnung, gnädiges Fräulein. Aber wenn dem so ist, wie Sie sagen, gnädiges Fräulein, geht das natürlich unter keinen Umständen, da muß ich also doch wohl bis morgen warten. Vielleicht, nein sicher, finde ich bis dahin eine noch verschwiegenere Bank.”
So leid ihr der arme Kadett auch jetzt wieder tat, so mußte sie sich bei seinen Worten trotzdem Mühe geben, um nicht hell aufzulachen. Sie hatte doch gewiß in dem Küssen noch keine Erfahrungen, aber trotzdem, brauchte man denn zum Küssen unbedingt eine Bank? Konnte man sich denn nicht auch küssen, wenn man sich gegenüber stand? Konnte man nicht auch einen kleinen Spaziergang zusammen machen und auf dem zuweilen stehen bleiben, um sich zu küssen? Was wollte er denn nur absolut mit einer Bank?
Eine kleine halbe Stunde später trennten sich alle und schon am nächsten Nachmittag traf sie sich auf dem Tennisplatz wieder mit Hanna und dem Kadetten. Sie sah es dem sofort an, der mußte eine sehr schlechte Nacht gehabt haben, aber sie tat natürlich, als bemerke sie das gar nicht, sondern fragte ihn nur, sobald sich ihr Gelegenheit bot: „Nun, haben Sie heute nacht wieder von mir geträumt, Herr von Adesberg?”
Aber der schüttelte traurig den Kopf: „Geträumt habe ich nicht, gnädiges Fräulein, denn ich habe überhaupt nicht geschlafen. Eine Stunde nach der anderen habe ich mich ruhelos hin und her gewälzt, dabei fortwährend an Sie gedacht und mir meinen armen Kopf zermartert, wann Sie mir den Kuß gewähren würden, ob heute, ob morgen, ob übermorgen oder ob vielleicht sogar noch später,” bis er sie mit leiser, flehender Stimme bat: „Nicht wahr, gnädiges Fräulein, ich darf Sie heute küssen, nicht wahr heute? Bitte, bitte, bitte !”
Aber auch heute hatte sie nur ein „vielleicht” als Antwort. Nein sagen wollte sie nicht, aber ja sagen durfte sie nicht, denn wenn sie auch noch nie geküßt hatte, so wußte sie doch so viel, daß in einem solchen Falle ein wohlerzogenes junges Mädchen niemals ja sagt, sondern höchstens, aber auch allerhöchstens vielleicht und das war auch vollständig genug, vorausgesetzt natürlich, daß man dieses Wort richtig auszusprechen verstand. Und das verstand sie, das hatte sie ihm ja gleich bei dem erstenmal angemerkt, als sie ihm gestern ein „Vielleicht” zur Antwort gab. Und auch heute sprach sie das „Vielleicht” wieder so aus, daß sie es ihm ganz deutlich anzusehen glaubte, wie er in eine große freudige Erregung geriet. Aber trotzdem kam es auch heute nicht zwischen ihnen zu dem Kuß und damit, daß sie ihm das „Vielleicht” fortan jeden Tag anders zurief, bald ermutigend, bald zweifelnd, bald ein klein wenig ablehnend, bald ein klein wenig lüstern und begehrlich, bald so, als könne sie selbst den Augenblick nicht abwarten, bis ihre Lippen sich fänden, bald so, daß es sich wie ein bestimmtes „Ja” anhörte, bald so, bald so — dadurch, daß sie das tat, machte sie ihn, wie sie es ihm ganz deutlich ansah, krank und elend, so elend, daß die Hanna eines Tages zu ihr sagte: „Findest du nicht auch, Deta, daß unser Kadett eigentlich wie Braunbier und Spucke aussieht, wenn ich mich so ausdrücken darf? Wir zerbrechen uns zu Hause alle den Kopf darüber, was er nur haben kann. Zuerst dachte ich natürlich, er wäre unglücklich in mich verliebt, aber wenn er das wäre, brauchte er es doch nur zu sagen, dann täte ich ihm gern den Gefallen und liebte ihn wieder oder täte wenigstens so, als ob ich es täte, und wenn er mich gern küssen möchte, würde ich ihm auch den Gefallen tun, obgleich ich offen gestehen muß, daß ich ihn von Tag zu Tag häßlicher, aber auch langweiliger finde.”
Und da hatte Hanna auch recht, der Kadett wurde tatsächlich immer häßlicher und langweiliger. Seine hübschen Augen hatten ihren früheren schönen Glanz verloren, seine Gesichtsfarbe war beinahe aschgrau, er vernachlässigte sich in seiner Haltung und langweilig war er manchmal, direkt zum auswachsen ! Daß er einmal einen Witz machte oder ihr auch nur ein scherzhaftes Wort zurief, kam überhaupt nicht mehr vor und wenn er ihr etwas erzählte, waren es die banalsten und die langweiligsten Sachen, die sie sich nur denken konnte. Meistens aber sagte er überhaupt nichts, sondern starrte sie nur an, daß er zuweilen trotz seiner Jugend einen ganz verblödeten und trottelhaften Eindruck machte. Und seine tägliche, aber auch seine tägliche Frage, ob er sie denn nun endlich heute oder wenigstens ganz bestimmt morgen küssen dürfe, war doch geradezu einschläfernd. Und außerdem war die ungezogen. Konnte er denn nicht warten, bis sie ihm seinen Wunsch aus eigenen Stücken erfüllte, sah er denn nicht, wie sie mit sich im schwersten Kampfe lag, konnte er sich das nicht vorstellen, was es für sie hieß, zum allererstenmal einen Herrn küssen zu sollen? Glaubte er, daß es ihr dadurch leichter wurde, ihre Bedenken zu überwinden, daß er täglich in sie drang und ihr dadurch stets aufs neue klar machte, welchen doch immerhin etwas ungehörigen Schritt sie vielleicht zu tun im Begriff war? Ja, genügte ihm denn das Wort „vielleicht”, das sie ihm nun schon so oft zugerufen hatte, immer noch nicht? Warum stimmte ihn das nicht froh und glücklich, sondern warum machte ihn das so verzagt und so traurig, so krank und so elend und beinahe hätte sie gesagt, so dammlich? Er glich zuweilen dem traurigen Ritter Toggenburg und wenn er glaubte, daß er dadurch schöner und für einen Kuß begehrenswerter wurde, irrte er sich sehr. Dazu kam aber noch eins und das nahm sie ihm am meisten übel. Wenn er etwa schmählicherweise glauben sollte, sie dächte garnicht ernstlich daran, sich von ihm küssen zu lassen und sie triebe nur ein Spiel mit ihm, warum sagte er ihr das nicht offen in das Gesicht, damit sie imstande war, sich gegen eine solche unerhörte Verdächtigung zu verteidigen? War er dazu zu feige oder glaubte er, dadurch alles bei ihr zu verspielen? Auf jeden Fall hätte er es verdient, daß sie ihm, schon zur Strafe dafür, daß er so kopfhängerisch wurde, einmal auf seine Frage ein kurzes energisches „Nein” zugerufen hätte, das würde ihn vielleicht aus seiner Lethargie aufrütteln und ihm wieder zum Bewußtsein bringen, daß er doch ein Mann sei, daß er wenigstens einer werden wolle. Aber bei ihrem guten Herzen brachte sie dieses „Nein” doch nicht über die Lippen, dazu tat er ihr zu leid und so gemein konnte er ja auch unmöglich sein, daß er im Ernst von ihr glauben solle, sie treibe ein Spiel mit ihm. So blieb es denn wieder bei dem „Vielleicht” und damit der arme Junge wenigstens wieder halbrote Backen und einen etwas anderen Ausdruck in seine Augen bekäme, girrte und gurrte sie ihm das „Vielleicht” täglich verlockender und verheißungsvoller vor und sie zog sich für ihn, je näher der Abschiedstag heranrückte, noch hübscher und netter als sonst an und das tat sie einzig und allein für ihn, damit er sie so hübsch angekleidet in der Erinnerung behielte, wenn sie sich erst geküßt hatten, er sie und sie ihn.
Und eines Tages war dann der letzte Tag seines Urlaubes da, am nächsten Morgen mußte er schon mit dem Frühzug abreisen, am Abend vorher aber gaben Hannas Eltern dem scheidenden Gast zu Ehren noch ein kleines Fest. Natürlich war nur Jugend eingeladen, junge Mädchen und junge Herren, und der Himmel war so freundlich, sein bestes blaues Kleid angelegt zu haben, so daß alle voraussahen, das Fest werde sich zum Teil im Hause, zum Teil aber auch in dem schönen Garten, der zu der Villa des Gastgebers gehörte, abspielen. Das geschah denn auch, als es am Abend so weit war, Hanna empfing ihre Gäste sogar im Garten und dort ging es zunächst an ein gegenseitiges Begrüßen, bis man dann damit anfing, sich mit Rasenspielen und ähnlichen Dingen zu amüsieren. Alle waren lustig und übermütig, nur einer sah womöglich noch trauriger und elender aus, als sonst, das war der Kadett. Der wandte, wie sie sehr bald bemerkte, keinen Blick von ihr ab und das fand sie auch sehr begreiflich, denn sie trug heute zum erstenmal ein neues bastseidenes Kleid mit einem breiten blauen Gürtel, das ihr hervorragend gut stand. Aber auch sonst sah sie so frisch, so rosig, so jung und so verlockend aus wie nur selten, ihre Augen blitzten und leuchteten, ihre Wangen hatten einen so rosa Teint wie lange nicht. Und sie wußte auch, woher das alles kam, weil sie sich im stillen darauf freute, daß es nun heute, nun endlich vielleicht wirklich zwischen ihr und dem Kadetten zum Küssen kommen würde, denn gestern hatte sie ihm das „Vielleicht” in einer Art zugerufen, die ihm eine sicher Erfüllung seines Wunsches in eine beinahe totensichere Aussicht stellte. Auch für sie wurde es wirklich die höchste Zeit, daß sie endlich ihr erstes kleines Kußabenteuer erlebte, und für das konnte sie sich keinen besseren Partner wünschen als den Kadetten, denn der reiste morgen ab und den sah sie nach menschlicher Voraussicht nie wieder. Ja, die freudige Erregung auf das, was ihr am Abend bevorstand, spiegelte sich in ihrem Äußeren wider und aus der frohen Stimmung heraus, in der sie sich befand, begriff sie garnicht, daß der Kadett so verzagt dreinblickte. Der konnte sich doch an den fünf Fingern abzählen, daß es, wenn überhaupt, dann heute Abend zwischen ihnen zu einem Kusse kommen würde und anstatt sich nun mit ihr darauf zu freuen, ließ er den Kopf hängen wie eine Traueresche ihre Zweige. Bis sie sich dann seiner erbarmte und ihn in das Gespräch zog. Da, als sie zuerst dicht neben ihm stand und dann allein mit ihm etwas auf und ab ging, schien das, was ihn bedrückte, ein klein wenig von ihm zu weichen, aber sie war auch so nett zu ihm, wie sie nur irgend konnte, schon weil er ihr erklärte, er habe es sofort bemerkt, daß sie heute ein neues, ganz besonders hübsches Kleid trage. Und weil sie so nett zu ihm war, wurde auch er endlich mal wieder nett. Er machte ihr wieder den Hof, wie er es in den ersten Tagen ihrer Bekanntschaft getan hatte, nur seine Augen behielten den traurigen Ausdruck bei. Und den wurde er selbst dann nicht los, als man nach einer kleinen Stunde zu Tisch ging, als das gute Essen aufgetragen wurde, als der Sekt in den Kelchen perlte und als an der Tafel eine fröhliche, sogar eine beinahe ausgelassene Stimmung herrschte. Ehe man zu Tisch ging, hatte sie sich im stillen gewünscht, er möge ihr Herr werden, schon damit sie weiter versuchen könne, die letzten Reste seiner schwermütigen Anwandlung zu verjagen, ja und damit ihr das gelänge, hatte sie sich sogar vorgenommen, ihr Knie ein ganz klein wenig an das seine zu drücken und unter Umständen wäre sie auch bereit gewesen, etwas mit ihm zu fußeln, obgleich das eigentlich schade um ihre reizenden kleinen Lackschuhe war, aber immerhin hätte sie es unter Umständen getan, damit er auch daraus ersähe, daß sie sich mit ihm darauf freute, daß es nun heute vielleicht wirklich endlich zwischen ihnen zum Küssen käme. Als man dann aber bei Tisch saß, hielt sie es doch für sehr gut, daß er nicht neben ihr, sondern ihr schräg gegenüber saß, es wäre ihr doch peinlich gewesen, ihr Knie oder gar ihr Bein an das seine zu schmiegen, und es war doch auch noch sehr die Frage, ob er das Fußeln seinerseits richtig hätte erwidern können. Nein, es war viel besser, daß er ihr schräg gegenüber saß, weil sie ihm da in die Augen sehen und weil er da in ihren Augen lesen konnte: „sei froh und glücklich und freue dich mit mir.” Das sagte sie ihm dann auch mit ihren Augen so oft sie es nur konnte, ein paarmal nickte sie ihm sogar leise und verstohlen zu, um ihm dadurch zu verstehen zu geben: „wir beide gehören heute abend zueinander, zwischen uns beiden besteht ein süßes Geheimnis, von dem kein dritter etwas ahnt, wir beide werden heute abend noch das Glück des ersten Kusses genießen. Und damit er sie auch ganz deutlich verstände, erhob sie das Sektglas, um ihm heimlich zuzutrinken, und mit freudiger Genugtuung bemerkte sie endlich, daß ihr gutes Zureden bei ihm auch half. In seinen Augen blitzte es froh und übermütig auf, seine Wangen röteten sich und er, der bisher still und schüchtern dagesessen hatte, wurde plötzlich so lebhaft und so lustig, daß alle, die in seiner Nähe saßen, und seine Worte verstehen konnten, über seine Bemerkungen hell auflachten, sodaß er nach und nach anfing, wirklich der Mittelpunkt des kleinen ihm zu Ehren gegebenen Festes zu werden.
Aber so sehr sie sich auch darüber freute, daß er nun derartig aus sich herausging, klug fand sie das nicht von ihm, denn wenn sie beide sich nachher vielleicht wirklich küssen sollten, mußten sie sich zu dem Zweck doch von den anderen entfernen und würde man ihn da nicht vermissen, wenn er sich jetzt gewissermaßen zur Hauptperson des Abends machte? Schon weil er als einziger in Uniform war, würde sein, wenn auch nur vorübergehendes, Verschwinden auffallen, und deshalb hätte er klüger gehandelt, wenn er nach außen hin weiter den stumpfsinnigen Eindruck, den er bisher machte, beibehalten und wenn er nur ihr zu verstehen gegeben hätte, daß all sein Kummer von ihm gewichen sei. So klug, danach zu handeln, hätte er eigentlich von selbst sein müssen, und daß er das nicht war, nahm sie von neuem etwas gegen ihn ein, denn dumme Menschen waren ihr immer sehr unsympathisch gewesen und daß gerade der erste Herr, den sie küssen sollte, ein Dummkopf war, hatte für sie wenig Verlockendes. Na, aber noch war sie nicht geküßt und noch hatte sie ihn nicht geküßt, und ob es wirklich dazu kommen würde, blieb abzuwarten, das würde sich ja entscheiden, wenn sie im weiteren Verlauf des Abends ein paar Minuten mit ihm allein war.
Und eine gute Stunde später war sie mit ihm allein und auch heute, wo sie seit langer Zeit wieder an alles zurückdachte, wußte sie nicht, wie sie beide damals aus dem Garten, aus der Gesellschaft der übrigen heraus in den Wintergarten der Villa ihrer Gastgeber gelangten. War sie ihm vorausgegangen, hatte sie ihn mit einem Wort oder durch einen Blick, oder durch ein Zeichen aufgefordert, ihr zu folgen, oder hatte er sie gebeten, ihm am letzten Abend ein, wenn auch nur kurzes Alleinsein unter vier Augen und namentlich unter vier Lippen zu gewähren? Hatte sie ihn in den Wintergarten gelockt? Aber nein, das sah ihr nicht ähnlich, folglich mußte er sie gelockt haben, aber wenn ihm das auch ähnlich sah, ihr sah es eigentlich nicht ähnlich, daß sie sich so ohne weiteres locken ließ. Nein, sie wußte es wirklich nicht, wie sie beide in den Wintergarten kamen, sie wußte es heute noch viel weniger als an jenem Abend selbst, an dem sie unwillkürlich einen kleinen Schrei der Überraschung ausstieß, als sie sich plötzlich mit dem Kadetten in dem Wintergarten befand. Und da in dem Wintergarten sah sie es eigentlich erst ganz deutlich, wie häßlich er in den paar Wochen seines Urlaubes geworden war, aber vielleicht lag das auch mit daran, daß ihm die Umgebung der Palmen und anderen großen grünen Pflanzen im Wintergarten nicht gut stand. Das viele Grün, das ihn dort umgab, ließ sein Gesicht beinahe auch grünlich erscheinen. Nein, hübsch war er in dieser Umgebung wirklich nicht, dafür sah sie aber desto schöner und verführerischer aus, und um die Wirkung ihrer Erscheinung nach Möglichkeit zu erhöhen, setzte sie sich, nicht etwa in berechnender Absicht, o nein, so gemein war sie nicht, sondern lediglich, um ihn dadurch zu erfreuen, unter die Palmen in einen Rohrlehnstuhl, streckte die Füße möglichst weit nach vorn, ohne es im Augenblick zu bedenken, daß sich dadurch der Kleiderrock ein klein wenig nach oben hin verschob, stützte den hübschen Kopf auf die rechte Hand ihres entblößten Armes und sah ihn erwartungsvoll an, weil sie tatsächlich mehr als neugieirg war, wie dieses Alleinsein mit ihm hier weitergehen und wie das enden würde.
Aber vorläufig hatte das nicht einmal eine Fortsetzung, wenigtens keine irgendwie spannende, denn der Kadett stand ihr lediglich schweigend, wenn auch schwer atmend gegenüber und verschlang sie mit seinen Blicken. Und es schien, als ob er ihr auch etwas sagen wolle, denn seine Lippen bewegten sich fortwährend, aber er brachte kein Wort hervor, entweder weil er vor Erregung nicht sprechen konnte, oder weil er sich schämte, das laut auszudrücken, was sich ihm auf die Lippen drängte. Bis er dann endlich, endlich zu ihr sagte, nein sagen tat er das eigentlich nicht, er gurgelte das mehr hervor und das noch dazu so undeutlich, daß sie die Worte kaum verstand: „Gnädiges Fräulein, Fräulein Deta, liebe süße kleine Deta, wir sehen uns nun heute zum letztenmal, vielleicht zum letztenmal für immer in unserem Leben. Sie wissen, wie ich Sie liebe, krank und elend hat mich meine Liebe zu Ihnen gemacht, aber trotzdem auch namenlos glücklich und darum flehe ich Sie an, erlauben Sie mir, daß ich Sie jetzt einmal, wenn auch nur einmal küssen darf und küssen Sie mich, wenn auch nur ein einzigesmal, wieder, wie Sie es mir von dem Tage an täglich aufs neue versprochen haben, an dem Sie mir das erste „Vielleicht” zuriefen.” Und mit einer so kläglichen jammernden Stimme, daß es ihr durch Mark und Bein ging, bat er noch einmal: „Darf ich Sie jetzt endlich, endlich küssen?”
Sie sah es ein, es würde mehr als grausam sein, ihm seine Bitte nicht zu erfüllen, wenn sie ihm diese Erfüllung, wie er behauptete, vom ersten Tagean versprochen hätte. Aber das hatte sie nicht getan, das konnte sie jederzeit mit gutem Gewissen beschwören, sie hatte ihm stets lediglich ein „Vielleicht” zur Antwort gegeben, und wenn es mehr aus diesem Worte heraushörte, als sie als Schalk oder Übermut hineinlegte, war das einzig und allein seine Schuld und außerdem hätte er wissen müssen, daß ein Herr niemals eine junge Dame an ein Versprechen, das sie gab, erinnert, sondern daß man es ganz ihr überläßt, ob sie das freiwillig einlösen will oder nicht. Und sie hatte nichts versprochen, aber selbst wenn sie es getan hätte, wäre es nicht mehr als grausam von ihr, wenn sie schuld daran sein wollte, daß er lediglich wegen dieser Küsserei soviele Sonntag-Nachmittage in der Kadettenanstalt einsam und verlassen zurückblieb, während alle seine Freunde und Kameraden nach Berlin fuhren? Nein, das ging nicht, das durfte sie nicht auf sich laden, aber ihm ein „Nein” zuzurufen, brachte sie auch jetzt nicht fertig, dazu tat er ihr trotz seiner Häßlichkeit zu leid und deshalb meinte sie endlich: „Ich habe mir alles, was Sie mir sagten, überlegt. Darüber, ob ich Ihnen so fest einen Kuß versprach, wie Sie es anzumehmen scheinen, wollen wir uns nicht streiten, aber trotzdem, wenn Sie mich so lieben und sich so danach sehnen, mir einen Kuß zu geben, dann schön, meinetwegen. Aber nicht hier, nicht heute.” setzte sie schnell hinzu, als er auf sie losstürzen und sie in seine Arme nehmen wollte, „nicht hier und nicht heute. Hier sind wir vor einer Überraschung nicht sicher, aber ich weiß, wo wir uns beide küssen können, ohne daß man sich etwas Arges dabei denkt, wenn man es sieht. Morgen auf dem Bahnhof bei dem Abschiednehmen. Da gibt es ja doch zwischen Ihnen und Hannas Eltern und vielleicht auch mit der Hanna eine kleine Abschiedsküsserei und wenn Sie da auch mich fragen, ob Sie mir zum Abschied einen freundschaftlichen Kuß geben dürfen, dann will ich gern stillhalten, wenn Sie mich auf die Wange küssen und ich verspreche Ihnen ganz fest, daß ich Ihnen auch einen Kuß auf die Wange wiedergeben will. Und damit sind Sie hoffentlich zufrieden?”
Nach ihrer ehrlichen Überzeugung mußte er damit sogar mehr als zufrieden sein, denn mehr als das, was sie ihm versprach und was sie zu halten auch fest entschlossen war, vorausgesetzt natürlich, daß sie morgen nicht die Zeit verschlief, oder daß es nicht gerade Bindfäden regnete, oder daß im letzten Augenblick nicht sonst noch etwas Unvorhergesehenes dazwischen kam, nein, mehr konnte sie ihm wahrhaftig nicht versprechen und wenn er damit nicht zufrieden war —. Aber zu ihrem grenzenlosen Erstaunen mußte sie sehen, daß er nicht damit zufrieden war, denn als sie nun wieder zu ihm aufblickte, da war jeder Blutstropfen aus seinem Gesicht gewichen und sein abgemagertes und eingefallenes Gesicht sah so erschreckend aus, daß es sie beinahe an einen Totenkopf erinnerte. Starr und regungslos stand er ihr gegenüber und sah sie nun seinerseits an. Er sah sie nur an, aber so sonderbar, so eigentümlich, als sei er nicht mehr ganz richtig bei Verstand und das mußte er wohl auch nicht sein, denn mit einemmal lachte er gellend, schneidend und schreiend auf, während er sich zugleich mit beiden geballten Fäusten vor die Stirn schlug, sodaß sie es mit der Angst bekam wie noch nie zuvor in ihrem Leben und daß sie am liebsten davongelaufen wäre. Aber sie konnte nicht laufen, alle ihre Glieder waren wie gelähmt und er lachte und lachte immer noch, während er weiter mit seinen Fäusten auf die Stirn einhämmerte, bis sich ihm mit einem Mal ein ganz unartikulierter Schrei entrang und bis er nun vor ihr niederstürzte, seinen Kopf in ihrem Schoß vergrub und so entsetzlich zu weinen begann, wie sie noch nie einen Menschen hatte weinen sehen. Sein ganzer Körper zuckte und bebte, als habe er Krämpfe, sein Kopf flog in ihrem Schoß förmlich hin und her und seine Hände preßten sich durch ihr dünnes Kleid hindurch in ihre Oberschenkel, daß sie trotz allen Mitleids, das sie, ohne zu ahnen, weshalb er denn nur so traurig sei, für ihn empfand, den Gedanken nicht los wurde: von diesem Gekneife hast du morgen sicher dunkelblaue Flecken und wenn er nicht bald damit aufhört, mußt du ihm sagen, daß er dir weh tut. Aber sie sagte es ihm nicht, weil ihr mit einemmal klar wurde, warum er so weinte, weil morgen für beide die Trennungsstunde schlug, weil er sie dann nie, nie wieder sehen würde und da nahm sie sich fest vor, morgen früh unter gar keinen Umständen auf den Bahnhof zu kommen, denn wenn ihn das Abschiednehmen schon heute so erschütterte, wer konnte wissen, was es da erst morgen für eine Abschiedsszene gab, und was sollten die anderen da von ihnen beiden denken, wenn er ihr vielleicht lautschluchzend um den Hals fiel und womöglich gewaltsam von ihr losgerissen werden mußte?
Daß ihm das Abschiednehmen so schwer fallen würde, hätte sie nicht gedacht und nun, da sie sah, wie er darunter litt, hätte sie ihm am liebsten ein tröstendes Wort zugerufen und ihm gesagt, wie traurig auch sie bei dem Gedanken sei, ihn nun für lange Zeit, vielleicht sogar nie wiedersehen zu sollen. Aber nein, belügen wollte sie ihn in dieser Stunde nicht und wie sie es nicht fertig brachte, ihn zu belügen, mußte sie auch gegen sich selbst offen und wahr sein und wenn sie das war, mußte sie sich eigentlich eingestehen, daß sein grenzenloser Schmerz ihr ein gewisses Vergnügen bereitete und daß, während er in ihrem Schoß weinte, wieder ein süßes wohliges Gefühl ihren Körper durchströmte. Und dafür, daß er ihr, wenn auch unwissentlich und sicher auch gegen seinen Willen, dieses süße Gefühl bereitete, mußte sie ihm eigentlich irgendwie danken. Aber wie? Mit Worten? Das war gänzlich ausgeschlossen, jedes lautgesprochene Wort hätte die Stimmung des Augenblicks zerrissen, bis ihr endlich, endlich etwas anderes und noch dazu das einzig richtige einfiel. Sie wollte mit ihren hübschen Händen seinen Kopf, sein Haar und seine Wangen streicheln und liebkosen. Das würde ihn trösten und beruhigen und das würde sicher auch das sie durchströmende süße Gefühl noch erhöhen. Aber noch, bevor sie ihren Entschluß hätte ausführen können, geschah etwas ganz Unerwartetes. Mit einemmal sprang der Kadett in die Höhe und während er einen Schrei ausstieß, wie ein auf den Tod verwundeter Mensch, stürzte er davon, ohne sich auch nur mit einem Wort oder einem Blick von ihr zu verabschieden. Und das fand sie sehr wenig nett von ihm und es war auch rücksichtslos von ihm, daß er sich im weiteren Verlauf des Abends gar nicht mehr sehen, sondern daß er durch einen Diener erklären ließ, er habe, ohne die Veranlassung zu kennen, plötzlich sehr heftige Magenkrämpfe bekommen, er habe sich niederlegen müssen und er bitte, sein Fernbleiben freundlichst zu entschuldigen. Na, glücklicherweise wurde er kaum vermißt und auch sie selbst war nicht vermißt worden, während sie mit ihm im Wintergarten war. Das konnte sie zu ihrer Beruhigung feststellen, als sie sich, gleich nachdem der Kadett dvongestürzt war, wieder unter die anderen Gäste mischte, die sich noch im Garten befanden.
Am nächsten Morgen war der Kadett abgereist und sie hatte nie wieder etwas von ihm gehört, aber vergessen hatte sie ihn natürlich trotzdem nicht. Ja, sie dachte sogar merkwürdigerweise oft an ihn und jedesmal, wenn sie das tat, hatte sie ein ganz klein wenig ein schlechtes Gewissen, denn da bedrückte es sie immer aufs neue, daß sie ihm nicht mit ihren Händen den Kopf, die Haare und die Wangen gestreichelt hatte, das hätte ihn getröstet, seinen Abschiedsschmerz gestillt und auch für sie wäre das sicher sehr, sehr schön gewesen. Ja, daß sie ihm diese Liebkosung gleichsam zur bleibenden Erinnerung an sie nicht mit auf den Weg nach Berlin gab, das tat ihr zu leid, ja das bereute sie sogar zuweilen aufrichtig und das bereute sie auch jetzt von ganzem Herzen, als sie dem Befehl der Mutter gehorchend, darüber nachdachte, ob sie in ihrem bisherigen Leben auf dem Gebiet der Liebe hinter dem Rücken der Mutter vielleicht Heinlichkeiten begangen, die sie zu bereuen habe. Aber nein, ernstlich zu bereuen hatte sie auch in dieser Kadettengeschichte nichts. Auch da war sie sich keiner ernstlichen Schuld bewußt und manche andere hätte es an ihrer Stelle sogar nicht einmal bereut, daß sie es unterließ, ihm die Haare und die Wangen zu streicheln.
Allerdings, darin gab sie der Mutter recht, mit dem hübschen Studenten hätte sie sich niemals einlassen dürfen ud sie hätte das auch nie getan, wenn sie gleich von Anfang an gewußt hätte, daß er jemals so unvorsichtig sein würde, ihr einen Brief in das Haus zu schicken. Daß er das aber tat, war nicht nur eine Unvorsichtigkeit von ihm, sondern sogar eine Gemeinheit, denn der verdankte sie es, daß sie bei dem schönen Wetter nun drei Tage Stubenarrest hatte. Was sollte sie während der ganzen Zeit nur anfangen? Ihre Pralinés waren schon jetzt bald aufgeknabbert, allzu lange reichten ihre Zigaretten auch nicht mehr und mit dem Bereuen, soweit sie überhaupt etwas zu bereuen hatte, war sie auch schon am Ende angelangt.
Und das war das Traurigste von allem, daß es für sie, obgleich sie nun schon bald siebzehn Jahre alt war, auf dem Gebiet der Liebe so wenig oder eigentlich gar nichta zu bereuen gab.
Und daß sie nichts zu bereuen hatte, das, aber auch nur das bereute sie.