Manöverhumoreske von Graf Günther Rosenhagen.
in: „Kieler Zeitung” vom 5.8.1894,
in: „Deutsches Heim” Jahrgg. 1893,94, Seite 746-748
(Sonntagsbeilage zur „Berliner Zeitung”), vom 19.8.1894,
in: „Providence Anzeiger” vom 8.9.1894 und
in: „Militaria”.
Es war im letzten Manöver an einem drückend schwülen Tage des August. In aller Frühe schon waren wir aus unserem Quartier aufgebrochen und hatten den Vormarsch gegen den „Feind” bereits angetreten, als dieser noch friedlich im Bivouac lag, nichts Böses ahnte und sehnsüchtige Blicke nach den gewaltigen Feuern warf, bei denen mehr oder weniger geschickte Hände mit der Bereitung des Morgenkaffees beschäftigt waren. Wir sollten versuchen, den Gegner zu überrumpeln und zu überfallen. Aber der Höchstkommandierende denkt und der Zufall lenkt. Der Führer der Spitze, ein blutjunger Offizier, der in der Gegend zu Hause war und jeden Steg und Weg zu kennen behauptete, führte uns derart in die Irre, daß wir wieder Kehrt machen mußten und nach stundenlangem Herumlaufen im tiefen Sand wieder genau auf demselben Fleck ankamen, von dem wir abmarschirt waren. Unsere Truppen waren so erschöpft, daß dem Leitenden nichts Anderes übrig blieb, als das Signal „das Ganze Halt” blasen zu lassen.
Gleich darauf kam der Befehl, in die Quartiere abzurücken. Alles Leid und Ungemach war vergessen, als wir so schnell wie möglich auf der staubigen Chaussee einhermarschirten. Ein Gefühl des Glückes und der Freude durchdrang uns Alle: morgen war Ruhetag.
„O welche Seligkeit macht mir das Herz so weit, |
sangen die Leute aus heiseren Kehlen, und aus meiner Jugendzeit fiel mir der schöne Vers wieder ein:
„;Morgen ist Feiertag, |
Aber wie unser alter Feldwebel Schilling so oft mit Pathos zu sagen pflegte: „Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt.”
Da, wo der Wegweiser seine drei Arme nach Osten, Norden und Westen ausstreckte, trennte sich die Kompagnie.
Die drei Züge lagen weit auseinander und ich zog mit meinen Leuten geradeaus, immer geradeaus, bis etwa nach einer halben Stunde das Dorf Muckel vor uns lag. Die Fouriere kamen uns entgegen und überbrachten die Billets; mit meinem Burschen und zehn Mann meines Zuges war ich bei einem Landwirth einquartiert.
Als wir das Gehöft betraten, empfing uns der Bauer in der Thüre stehend, in der Linken hielt er eine gewaltige Flasche, in der Rechten ein winzig kleines Glas.
„Na, Herr Lieutenant, denn trinken Sie man auch mal eins,” war sein Willkommengruß(1), und ehe ich es verhindern konnte, hatte er mir „'nen lütten Köhm” eingeschänkt.
„Na, denn Prosit,” sagte ich lachend, aber das Lachen erstarb auf meinen Lippen, als ich das entsetzlichste(2) Getränk getrunken hatte, das sich jemals in einer Flasche barg.
„Noch 'nen lütten?” fragte der Bauer, aber schaudernd wandte ich mich ab und trat in das Haus.
Mein Bursche war mit der Bahn bis zur nächsten Station vorausgefahren, damit ich bei meiner Ankunft Alles zum Umkleiden bereit fände, und im Vorgefühl des höchsten Glückes genoß ich jetzt des schönsten Augenblicks.
„Na, denn geh'n Sei hier man 'rinner,” sagte die brave Hausfrau, als wir die in der Mitte des Hauses gelegene Tenne erreicht hatten, an deren beiden Seiten die Kühe friedlich brüllten, und öffnete eine(3) Thür.
„Hier, Herr Lieutenant, dat is Ihr Stuww.”
Verwundert sah ich mich um, das war meine Stube? Aber Du lieber Gott, das war ja überhaupt nichts, so klein, so winzig klein und so niedrig, daß ich es für eine große Futterkiste gehalten hätte, wenn ich nicht eines Besseren belehrt worden wäre.
Aber das Schlimmste, das Entsetzlichste war die Luft, die mir aus dem kleinen Raum entgegenschlug, in dem mein Bursche in Hemdsärmeln, roth wie ein Krebs, schweißtriefend, grinsend dastand.
„Mensch, mach das Fenster auf,” war das Erste, was ich sagte.
Der Kerl lachte über das ganze Gesicht: „Is sich nich möglich, Herr Lieutenant, is sich ja Drahtgitter vor!”
„Was?” wollte ich entsetzt fragen, aber das „as” blieb mir in der Kehle stecken, nur das W, das mein Herz durchzuckte, kam zum Ausdruck.
Vernichtet sank ich auf einen Stuhl: eingesperrt in einen Käfig, abgeschnitten von eglichem Luftzug — es war zum Verzagen.
Da öffnete sich die Thür und herein trat meine Wirthin, auf einem Theebrett eine unendlich große Schüssel mit(4) rother Grütze tragend. Jetzt essen, wo ich mich mit allen Fasern meines Herzens nach Luft, Ruhe und Abkühlung sehnte — entsetzlicher Gedanke! Aber ich wußte aus eigener Erfahrung, daß man seinen Wirthen keine größere Beleidigung zufügen kann, als wenn man ihnen das Essen unberührt wieder hnausschickt. Ich sprach meinen Dank aus, aber kaum hatte die Frau uns verlassen, da wies ich mit der Rechten auf die Schüssel und sagte, zu meinem Burschen gewandt, das kurze Wort: „Iß.”
Aber der brave Pole trat entsetzt einen Schritt zurück: „Is sich mich nich möglich, Herr Lieutenant, hab ich doch schon gegessen eine Schüssel voll so groß,” und er hielt seine Hand etwa einen halben Meter über den Erdboden.
Ich blieb unerbittlich: „Iß!” befahl ich.
Er mußte einsehen, daß mit mir nicht zu spaßen war, denn er setzte sich auf das Ledersopha, öffnete den letzten Hemdsknopf am Hals und begann zu „futtern”.
Flehende Blicke waren es, die er mir zuwarf, aber erst, als er die Hälfte verzehrt, erlaubte ich ihm, aufzuhören(5).
Da öffnete sich die Thür und herein trat meine Wirthin, auf einem Theebrett eine unendlich große Schüssel voll Beefsteak tragend.
„Liebste Frau,” bat ich, „haben Sie Mitleid mit mir, ich kann nicht mehr.”
Aber ohne sich beirren zu lassen, stellte sie das Fleisch auf den Tisch: „Ach wat, Herr Lieutenant — loten Sei sick man Tied, Sei können noch veel mehr loten.”
Und wieder wies ich, als sie uns verlassen, mit einer kurzen Handbewegung auf das Fleisch und befahl: „Iß!”
Aber mein treuer Pole streikte: „Is sich mich wahrhaftig ganz und gar nich möglich, lieber Herr Lieutenant(6) —”
„Iß!” donnerte ich ihn an.
Vergebens suchte er nach einem Knopf, den er zur Erleichterung der schweren Arbeit noch aufmachen könne, dann fing er an zu essen und das Wort: „l'appetit vient en mangeant” bewahrheitete sich auch hier: die Schüssel wurde leer.
„So!” sagte ich erleichtert, „nun will ich schlafen, aber wo?”
Das Sopha war so hart und kurz, daß es selbst für ein neugeborenes Kind nicht gereicht hätte, so öffnete ich denn den Wandschrank, in dem sich das Bett befand, ein sogenanntes Schrankbett. Ein drei Meter hohes Strohlager, eine zwei Centner schwere Federdecke, das war das Lager, auf dem ich bei 28 Grad im Schatten ausruhen sollte von den Strapazen der letzten Tage.
„Leg Dich Probe!” befahl ich und der brave Knappe legte sich auf das Bett, um sofort spurlos zu verschwinden.
„Mensch, wo bist Du?” rief ich erschrocken — war ich doch verantwortlich für das Leben und für die Gesundheit der mir anvertrauten Mannschaften. Da streckte sich ein Arm in die Höhe und mit verzweifelter Anstrengung gelang es mir, meinen Burschen wieder hoch zu bringen. Der arme Kerl war ganz blaß geworden und die in dem Wandschrank herrschende Temperatur hatte ihn der Auflösung nahe gebracht.
„Hier ist nichts zu wollen,” sprach ich zu mir selbst und trat auf die Tenne hinaus, um mit meinen Wirthsleuten zu sprechen. Noch immer umkreiste der Bauer meine Soldaten, in der Linken die gewaltige Flasche, in der Rechten ein winzig kleines Glas haltend. Ich klagte ihm mein Leid und bat ihn, mir eine Stelle anzuweisen, wo ich mein müdes Haupt zur Ruhe legen könnte. Einen Augenblick stand er in tiefes Nachdenken versunken, dann öffnete er die Thür zu einer großen, aber entsetzlich niedrigen Stube, in der sich ein langes Ledersopha befand. Aber die Luft, die den Athem raubende Luft! Einen scheuen Blick warf ich auf das Fenster: auch da das Drahtgeflecht, das verhinderte, daß die nach außen gehenden Fenster jemals geöffnet würden. Also diese Hoffnung erwies sich auch als eitel, aber zu meiner großen Freude entdeckte ich vier Thüren.
„Können wir nicht eine öffnen?” fragte ich, „es ist hier etwas heiß.”
„Meinetwegen,” entgegnete er und riß die erste Thür auf, ein großes Wandbett leuchtete mir entgegen: „Hier slapen mine Fru un ick.”
Ehrfurchtsvoll schloß ich die Thür und öffnete die zweite: noch ein Wandbett.
„Hier slapen min Kinners.”
Schnell schloß ich die Thür und öffnete die dritte: wieder ein Wandbett.
„Hier slöpt min Mudder,” und richtig ruhte in den weichen Kissen eine alte Frau, die mich wegen der Störung etwas unwillig ansah.
Schleunigst schloß ich die Thür und öffnete die letzte: abermals ein Wandbett.
„Hier slöpt min Knecht.”
Ja, das sah man dem Raum an, und mit schnellen Schritten entfernte ich mich.
Also auch hier war meines Bleibens nicht, weder für den Tag noch für die Nacht. Ich murmelte, gegen meinen Wirth gewandt, einige unverständliche Worte vor mich hin und trat ins Freie: es war zwei Uhr Mittags. Sengend und Alles verbrennend schien die Sonne, so weit das Auge reichte, war kein lebendes Wesen zu entdecken. Alles hatte sich vor der glühenden Hitze gerettet, nur ich irrte ruhelos umher. Eine tiefe Muthlosigkeit befiel mich, ich setzte mich auf einen umgestülpten Milcheimer und dachte sehnsüchtig an Weib und Kind, die es daheim so gut hatten, während ich, der Gatte und Vater, unstät umherwanderte. Aber weiter kam ich mit meinen Gedanken nicht, denn plötzlich fühlte ich meinen Sitz schwanken, der von der brennenden Sonne ausgetrocknete Eimer löste sich in seine einzelnen Bestandtheile auf und eine Sekunde später lag ich in meiner ganzen Länge von 1 m 75 cm auf der Erde.
Und da geschah etwas, was ich noch vor einer Minute für unmöglich gehalten hätte: ich fing an zu lachen, derartig an zu lachen, daß mein Pole herbeistürzte und mich kopfschüttelnd betrachtete.
„O, welche Seligkeit macht mir das Herz so weit,” sangen meine Leute auf der Tenne, während sie ihre „Langschäftigen” vom Staube reinigten. Wüthend sprang ich empor, wie konnten die Menschen sich erdreisten, glücklich zu sein, während ich, ihr Vorgesetzter, vor Verzweiflung einem Lachkrampf nahe war.
Da sah ich auf dem Fußweg einen Lieutenant herankommen, dem sein Bursche, mit einem Handkoffer beladen, auf dem Fuße folgte. Der Kamerad war feldmarschmäßig angezogen, sogar den Helm hatte er auf dem Kopfe.
„Wanderer, mit dem Wotanshute, wohin wallst Du heute?” redete ich ihn an , „wallst Du nach Walhall oder nach Walheia?”
„Deine schlechten Witze werden Dir schon vergehen,” antwortete er, „höre mich an. B. B., d. h. Bataillonsbefehl. An Stelle des erkrankten Fourieroffiziers wirst Du zu diesem unangenehmen Amte kommandirt. In zwei Stunden hast Du Dich bei dem Stab zu melden; denn heute Abend mußt Du noch nach Malchau, um dort Quartier zu machen.”
Krampfhaft faßte ich den Kameraden am Arm: „Das ist nicht wahr — Du lügst —”
„Na, erlaube mal,” unterbrach er mich, „daß Dir die Sache nicht angenehm ist, kann ich mir ja denken, aber das ist doch noch kein Grund, mich zu beleidigen.”
„Ach was, beleidigen,” rief ich, „daran denke ich ja gar nicht! Aber ich verstehe immer noch nicht, was willst Du denn hier?”
„ich bin für Dich zu Deiner Kompagnie versetzt. Nun aber beeile Dich, Deine Zeit hier ist abgelaufen.”
Ich ging in das Haus, um meine Sachen zu packen und zog fünf Minuten später mit meinem treuen Polen von dannen, während der Kamerad, an der Gartenpforte stehend, mir nachschaute.
„Ich werde mich jetzt schlafen legen,” rief er mnir etwas schadenfroh nach, „ich lege mich jetzt schlafen in Dein schönes Bett, verstehst Du?”
„Viel Vergnügen,” gab ich zurück, dann sah ich, wie der Kamerad sich umwandte und der von mir verlassenen Behausung entgegenschritt.
„Armer Herr Lieutenant,” sagte mein Bursche zu mir, während wir im tiefsten Sande dahingingen, er keuchend unter der Last meines Koffers, „armer Herr Lieutenant, war sich ein so schönes Quartier, so viel zu essen und zu trinken, armer Herr Lieutenant.”
Da hörte ich mich anrufen und mich umwendend gewahrte ich den Burschen meines Kameraden, der wie ein flüchtiges Wild hinter mir herjagte.
„Was giebst es?” fragte ich ihn.
„Einen schönen Gruß von dem Herrn Lieutenant an den Herrn Lieutenant und der Herr Lieutenant ließen den Herrn Lieutenant fragen, wo der Herr Lieutenant denn geschlafen hätten?”
„Mein Sohn,” antwortete ich ihm, „Du fragst in einer Sekunde mehr, als sämmtliche Weise Dir zu beantworten vermöchten. Sage Deinem Herrn Gebieter, er solle sich auf einen Milcheimer setzen und mit ihm zusammenbrechen — das Weitere findet sich dann von selbst.”
Wenige Stunden später saß ich in dem ersten Gasthaus der Kreisstadt und schaute mit Behagen auf das schöne Kotelette, das der Kellner mir gebracht hatte. In einem Kreis, der allmählich immer enger wurde, ging mein treuer Pole um mich herum.
„Hast Du etwas auf dem Herzen?” fragte ich ihn endlich.
„Is sich nur,” sagte er treuherzig, „daß ich wart', bis Herr Lieutenant(7) wieder zu mir sagen: iß.”
Aber ich war grausam genug, dieses Mal nur an mich selbst zu denken.
(1) In der Fassung von „Militaria” heißt es hier: „Willkommsgruß” (zurück)
(2) In der Fassung „Deutsches Heim” heißt es hier: „entsetzliche” (zurück)
(3) In der Fassung von „Militaria” heißt es hier: „die Thür” (zurück)
(4) In der Fassung von „Militaria” heißt es hier: „Schüssel rother Grütze” (zurück)
(5) In der Fassung „Deutsches Heim” heißt es hier: „als er die Hälfte verzehrt, hörte er auf” (zurück)
(6) In der Fassung von „Militaria” heißt es hier: „lieber Herr Lieutenant meiniges” (zurück)
(7) In der Fassung von „Militaria” heißt es hier: „armer Herr Lieutenant” (zurück)