Der Regimentsführer

Von Freiherr von Schlicht
in: „Jugend”,
Mόnchner illustrierte Wochenschrift fόr Kunst und Leben, Nr. 32 vom 5.8.1899.
in: „General-Anzeiger für Hamburg-Altona” vom 30.11. 1902 und
in: „Ein Adjutantenritt.”

Was der tollkühnste Leutnant in seinen verwegensten Träumen nicht zu hoffen gewagt hat, ist zur Tatsache geworden: der gestrenge Herr Oberst hat auf sein Ansuchen hin einen dreimonatlichen Urlaub erhalten und ist sofort mit der Gattin, ach, der teuern, nach Kairo abgereist. Kairo ist weit vom Schuß, und alle im Regiment sangen das schöne Lied: „Ach, wenn er doch immer dort bliebe.” Unter den Zurückgebliebenen herrschte eitel Jubel und Sonnenschein: die Leutnants waren glücklich, am nächsten Ersten nicht wegen ihrer Kasinoreste „angehaucht” zu werden, die Hauptleute freuten sich, bei der sonnabendlichen Stabsoffizierparole endlich einmal etwas andres als nur Grobheiten zu hören, und die Bataillonskommandeure dachten: „Endlich haben wir nun einmal vor den großen Übungen Ruhe.”

Die Führung des Regiments lag nun in den Händen des Oberstleutnant und etatsmäßigen Stabsoffiziers, ach nein, so heißt es nun ja nicht mehr, sondern: des Oberstleutnant beim Stabe. Der führte im ganzen Regiment den Beinamen: „der wirkliche geheime Konfusionsrat und vortragende Rat im konfusen Ministerium.” Vor dem hatte keiner Angst, der redete ja doch nur „Unsinn” und hatte weder von der Erschaffung der Welt noch vom Inhalt des Exerzierreglements die leiseste „Ahnung”, der würde sich schon nicht „mucksen”, sondern froh und dankbar sein, wenn er nur das Dasein hätte.

So sprachen die Offiziere im Regiment und waren über die Reise des Kommandeurs so froh wie die Schulknaben, deren Klassenlehrer plötzlich erkrankt und voraussichtlich in der nächsten Zeit nicht wieder kommt.

Am glückseligsten über den Umschwung der Dinge war der Herr Oberstleutnant, und als Friedrich der Große seinem alten Rheinsberger Genossen, dem Markgrafen von Schwebt, die Worte zurief: „Mein Herr, jetzt bin ich König!”, da kann das nicht so stolz und imponierend geklungen haben wie jetzt, da der Oberstleutnant seiner Frau und seiner Tochter zurief: „Jetzt bin ich Regimentsführer!” So stolz und gewaltig stand er ihnen gegenüber, daß seine Damen ihn kaum zu beglückwünschen, geschweige denn zu küssen wagten.

Wäre er nicht nur Regimentsführer, sondern Regimentskommandeur gewesen, so wäre das natürlich noch schöner gewesen.

Auch äußerlich wollte der Oberstleutnant seine neue Machtstellung zeigen: auf einem Kompagniewagen, gezogen von sechs braven Musketieren und bewacht von einem im Dienst noch nicht ergrauten blutjungen Unteroffizier mit tiefschwarzen Haaren, schwankte ein Schilderhaus einher. Erhebend war der Anblick nicht, aber es war wenigstens einer. Mit Ächzen und Stöhnen, mit Schelten und Fluchen – das können auch junge Unteroffiziere – ward das Schilderhaus abgeladen, und kaum stand es, da ertönten auch schon die Töne der Regimentsmusik. Die Fahnenkompagnie nahte, und im „Marsch, Marsch” verschwand der Kompagniekarren um die Ecke. Die Fahnen, deren von Kugeln zerfetzte Tücher eine stumme, aber doch beredte Sprache redeten, wurden dem Herrn Oberstleutnant in die Wohnung gebracht, mit dem Hohenfriedberger-Marsch rückte die Ehrenkompagnie wieder ab, nur ein Posten blieb zurück.

Es ist doch ein schönes Gefühl, einen Posten vor der Haustüre zu haben – das fand nicht nur der Herr Oberstleutnant, sondern auch die ganze Nachbarschaft, nun konnte man ruhig einmal vergessen, die Haustüre abzuschließen, nun hatte das nichts zu sagen, der Posten würde schon aufpassen.

Wenig später saß der Herr Oberstleutnant mit seinen Damen am Abendbrottisch: sonst trug er zu Haufe stets eine Jagdjoppe, die weder neu noch schön war, heute trug er Uniform. Er „fühlte sich!” Und seine Damen fühlten sich mit ihm und erschienen sogar ohne die Schürzen, die sie sonst den ganzen Tag nicht ablegten.

Es herrschte eine vornehme, weihevolle, würdige Stimmung im Haus, selbst die Dienstboten hatten nicht den Mut, etwas entzwei zu werfen.

„Schade, schade, Papa,” sprach da das neunzehnjährige, blauäugige Töchterlein, „schade, daß es nicht immer so bleibt, wie es jetzt ist.”

Der Vater hatte sich gerade ein Stück pommerscher Gänsebrust in den Mund gesteckt und war somit augenblicklich momentan nicht zu sprechen.

Zum Zeichen aber, daß er sogleich etwas Bedeutendes sagen würde, beschrieb er mit dem Zeigefinger der linken Hand in der Luft allerlei gar seltsame Figuren.

„Laßt nur gut sein, Kinder,” sagte er, sobald die Gänsebrust es ihm erlaubte, „laßt nur gut sein,” und geheimnisvoll, das linke Auge zukneifend und mit dem rechten schlau blinzelnd, fuhr er fort: „Wird schon so bleiben.”

„Mann –”

„Vater –”

Zwei hochbeglückte Frauen hingen an seinem Halse.

„Ruhig, setzt euch hin und gib mir noch einmal die Bratkartoffeln, Anna.”

Die Damen gehorchten, und die Tochter füllte ihrem Vater den ganzen Teller voll. Wenn er aß, ließ er sich nicht gerne stören, und so dauerte es denn auch eine geraume Weile, bis er fortfuhr: „Wird schon so bleiben. Ich glaube nicht, daß der Oberst wiederkommt.”

„Wirklich nicht?” jubelten die Damen.

Beim Militär ist des einen Tod des andern Leben.

„Hat er dir etwas davon gesagt?” fragte die Gattin.

„Das nicht, im Gegenteil,” lautete die Antwort, „aber liebes Kind, du bist doch selbst viel zu lange beim Kommiß, um nicht zu wissen, was ein dreimonatlicher Urlaub bedeutet.”

Die Mutter nickte mit der Miene eines Menschen, der die militärischen Verhältnisse in- und auswendig kennt, und Anna, genannt Ännchen, das holde Töchterlein, rief: „Das weiß ich ja sogar, Papa, ein mehrmonatlicher Urlaub bedeutet unter hundert Malen neunundneunzigmal den Anfang vom Ende.”

„Na ja, also,” sagte der Vater, „da wißt ihr ja Bescheid, was fragt ihr denn noch? Daß der Oberst den Sturz vom Pferde noch nicht überwunden hat und in einem südlichen Klima Heilung sucht, wissen wir ja alle. Aber da geht man doch nicht auf drei Monate, da reicht man vier, höchstens sechs Wochen Urlaub ein – auf so lange Zeit geht keiner, der sich nicht sagt: „Ich komme nicht wieder.” Daß er wieder kommen möchte, glaube ich, aber, nach unserm Wollen geht es ja nicht immer! Na, ich wünsche ihm ja alles Gute, aber ich glaube nicht daran, und dann, dann bin ich Oberst.”

„Und würdest du dann das Regiment hier bekommen?”

„Selbstverständlich,” gab er zur Antwort, „in drei Monaten muß ich so wie so Oberst werden, und da wird man mich doch nicht Gott weiß wohin und einen andern hierher schicken – das tut man schon nicht, um dem Staat die Umzugskosten zu sparen. Das gibts nicht, davon ist gar kein Gespräch. Und beizeiten schon will ich anfangen, mir mein Regiment in die Hand zu spielen, wenn die Herren Leutnants und Hauptleute glauben, daß sie nun tun und lassen können, was sie wollen, so irren sie sich ganz gewaltig. Ich werde mir jetzt alles so einrichten, wie ich es haben will. Der Oberst hat sein Regiment gut im Zug, das kann ich nicht anders sagen, aber vieles bedarf doch noch der Verbesserung. Und ich werde es verbessern.”

Das klang so stolz, daß Ännchen voll Begeisterung zu ihrem Vater aufblickte und ihm noch einmal Bratkartoffeln auffüllte – aber da diese inzwischen kalt geworden waren, ließ er sie unberührt auf seinem Teller liegen.

Am nächsten Morgen um fünf Uhr – es war im Herbst – hielt der Herr Oberstleutnant hoch zu Roß vor der Kasernenwache. „Was will denn der schon so früh?” dachte der Posten, dann rief er „Heraus” und die Wache trat ins Gewehr.

„Schlagen Sie Alarm,” befahl er dem Spielmann.

Gegen diese Zumutung sträubte sich selbst das Kalbsfell der Trommel, es gab keinen Ton von sich aus dem einfachen Grunde, weil dem Tambour die Noten zum Alarmsignal nicht einfielen.

Wer kann sich denn auch so früh auf so etwas besinnen!

„Na, wirds bald?” fragte der Gestrenge.

Gleich darauf rasselten die Trommelwirbel, in der Kaserne wurds lebendig, Soldaten eilten in die Stadt, um die Offiziere zu benachrichtigen, zu Fuß und hoch zu Roß kamen sie einher. „Ist denn Krieg erklärt?” fragte einer den andern, niemand aber wußte Bescheid.

Nach einer kleinen Stunde war auch der letzte zur Stelle.

„Meine Herren,” sprach der Herr Oberstleutnant zu den um ihn herum versammelten Offizieren, „um fünf ließ ich alarmieren, jetzt ist es sechs – das dauert mir viel zu lange, das müssen wir fleißig üben, das muß viel schneller gehen. Ich danke Ihnen sehr, meine Herren, guten Morgen.”

Stolz ritt er davon.

„Ist der denn ganz verrückt geworden über Nacht?” sprach ein Leutnant zu dem andern und sah dem Davonreitenden nach. „Ein andres Mal komme ich nicht, wenn er Alarm schlagen läßt, darauf kann er sich hoch und heilig verlassen! Was machen wir denn nun? Um acht Uhr hab ich Dienst, zu Bette gehen kann man doch nicht wieder.”

„Laßt uns einen Skat spielen,” schlug einer vor, und freudig stimmten die andern zu.

Und ein wahres Glück war es nur, daß der Oberstleutnant nicht hörte, welche Witze beim Skat über ihn gerissen wurden, er hätte auf die Frage seiner Gattin: „Ist es dir gelungen? Hast du ihnen imponiert?” nicht mit solchem Brustton tiefinnerster Überzeugung geantwortet: „Na und ob.”

Und er „imponierte” weiter, er mischte sich in alles hinein, und in Sachen, die ihn nichts angingen, am allermeisten.

„Über alles muß ich orientiert sein, über alles, meine Herren,” sprach er stolz und würdevoll, „nur dann kann man ein Regiment führen.”

Er aber konnte es trotzdem nicht, alle lachten ihn aus, nur einen brachte er an den Rand der Verzweiflung, und das war der Regimentsadjutant. Der mochte zur Unterschrift vorlegen, was er wollte – nichts fand den Beifall des Vorgesetzten, der alles viel klarer und präziser ausgedrückt wünschte und dann in höchsteigner Person Befehle losließ, die kein Toter, geschweige denn ein Lebender ausführen konnte.

Alle drei Tage berichtete der Adjutant nach Kairo, wie es im Regiment aussähe, und diese Berichte müssen nicht sehr rosig gewesen sein, denn eines Tages schrieb der Herr Oberst an den Brigadeadjutanten, dieser sprach mit seinem Brotherrn, und als sie genug gesprochen hatten, schwiegen sie beide und schmiedeten Reisepläne.

Wenige Tage später wurde der Herr Oberstleutnant durch Alarmsignale aus dem schönsten Morgenschlummer geweckt. Mit der Nachtmütze auf dem kahlen Kopf fuhr er in die Höh: „Nanu? was gibts denn?”

„Leg dich wieder hin, Männi,” bat die Gattin, „es ist ja erst sechs Uhr, die Mädchen sind noch nicht aufgestanden, und vor sieben ist der Kaffee nicht fertig.”

Da ertönte zum zweitenmal das Alarmsignal.

Er steckte den Kopf – ohne Nachtmütze – zum Fenster hinaus.

„Was gibts?” fragte er den Posten, „was ist los?”

„Alarm,” erfolgte die prompte Antwort.

„Es muß ein Unglück geschehen sein, ich muß schnell zur Kaserne.”

Da klopfte auch schon der Bursche an die Tür und fragte, ob er die Pferde satteln solle.

„Gewiß, gewiß,” lautete die Antwort, und zehn Minuten später galoppierte der Herr Oberstleutnant zur Kaserne.

Auf dem Kasernenhof hielt der Brigadekommandeur mit seinem Adjutanten. „Nanu? Wo kommt denn der auf einmal her?” dachte der Oberstleutnant, dann aber ritt er auf den Vorgesetzten zu: „Nein, ist das aber eine unerwartete Freude, den Herrn General hier zu sehen – doch hoffentlich zu Hause alles wohl?” wollte er hinzusetzen, aber er unterdrückte den Schlußsatz, denn der Herr General machte ein sehr dienstliches Gesicht, und auch der Brigadeadjutant grüßte sehr dienstlich, während für gewöhnlich Brigadeadjutanten entweder gar nicht oder nur mit einem Finger zu grüßen pflegen.

Die Adjutanten der großen Herren sind viel größer als diese selbst.

Der Herr General ließ zu einer großen Übung ausrücken, und bei der Kritik sprach er nur die Worte: „Ich danke Ihnen, meine Herren, ich habe mich gefreut, Sie alle so wohl und munter zu sehen.”

Der Herr Oberstleutnant erstrahlte vor Vergnügen: „Sagt ich es nicht,” sprach er zu seinen Damen, „der Oberst kommt nicht wieder. Der General war nur hier, um sich zu überzeugen, in welcher Verfassung das Regiment augenblicklich ist, er war sehr, sehr zufrieden, ich sah es ihm an, dies Regiment ist mir sicher.”

Wieder vergingen einige Wochen. Da, an einem Vormittag, als die Damen beim Frühstück saßen, hörten sie von weitem die Klänge der Regimentsmusik. Neugierig eilten sie an das Fenster und sahen eine Kompagnie in Paradeuniform heranrücken. Immer näher und näher kam die Truppe, nun schwenkte sie vor dem Hause des Oberstleutnants ein.

„Aber Ännchen, was bedeutet dies nur?”

Ännchen wußte dies auch nicht, aber es begann ihr klar zu werden, als ein Offizier mit gezognem Säbel, begleitet von zwei Unteroffizieren in das Haus marschierte.

„Mama – ich glaube, sie wollen die Fahne holen.”

Einen Augenblick war die Frau Oberstleutnant starr, dann aber „ermannte” sie sich, mutig trat sie dem jungen Herrn Leutnant entgegen.

„Sie wünschen, Herr Leutnant?”

„Auf Befehl des von Urlaub zurückgekehrten Herrn Oberst die Fahnen.”

Es klang eine ganz bedeutende Schadenfreude aus diesen Worten.

Mit klingendem Spiel rückte die Truppe ab.

„Der Posten bleibt wenigstens noch stehen,” tröstete Ännchen.

„Meier, Sie Dümelklaas, wollen Sie denn nicht eintreten?” rief da der schließende Unteroffizier dem Posten zu.

Der ließ sich das nicht zweimal sagen, sondern sprang in großen Sätzen der Kompagnie nach.

Und kaum war die Truppe um die Ecke verschwunden, da hielt ein Kompagniekarren vor der Tür, und wenig später schwankte das Schilderhaus, gezogen von sechs braven Musketieren und bewacht von einem noch nicht im Dienst ergrauten blutjungen Unteroffizier mit tiefschwarzen Haaren, wieder von dannen.

Die beiden Damen hielten sich umschlungen und weinten bittre Tränen, das Interregnum war zu Ende – der Oberst war zurück, das bedeutete für den Gatten und Vater nichts Gutes.

In dem Hause herrschte eine tiefe Stille, eine unheimliche Schwüle lagerte auf allen – selbst das Mädchen fuhr schreckhaft zusammen, als sie eine Kristallschale entzweiwarf. Die beiden Damen banden sich die Schürzen wieder um, der Oberstleutnant erschien wieder in seiner Jagdjoppe zum Abendbrot, aber er aß nicht von den Bratkartoffeln, obgleich sie ganz warm waren.


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© Karlheinz Everts