Der Dranste.

Humoreske von Freiherr von Schlicht.
in: „Ohligser Anzeiger” vom 16., 17. und 18.7.1907,
in: „Armeetypen”


Des langen Tages Dienst und Arbeit ist beendet. Morgens um sechs Uhr, kurz nachdem er zu Bett gegangen war, ist der Herr Lieutenant wieder aufgestanden, hat mit Hülfe seines Burschen Toilette gemacht, seinen Kaffee getrunken und ist dann zum königlichen Dienst gegangen. Von sieben bis acht Uhr hat er seine Leute instruiert und versucht, sie in die Geheimnisse der Schießlehre einzuweihen — aber ein Bauernschädel ist unter Umständen härter als ein Marmorblock und so war der Herr Lieutenant denn schon „tot”, als die Instruktionsstunde — Dank sei dem Erfinder der Uhr — vorüber war. Eine Viertelstunde Pause, in der die Mannschaften sich zum Dienst umzogen, dann hatte das Exerzieren begonnen — drei lange Stunden hindurch hat er auf dem kalten Kasernenhof stehen müssen und dem Griff „Gewehr über und Gewehr ab” zugesehen.

Von Rechtswegen soll der Rekrutenoffizier ebenso wie seine Leute die Zeit von ein halb zwölf Uhr bis zwei Uhr frei haben, damit auch er sich erholen kann.

In der Theorie ist er während dieser Zeit auch dienstfrei, aber in der Praxis macht sich die Sache leider oft, um nicht zu sagen immer, anders. Bald will der Herr Major die Herren Offiziere sprechen oder der Herr Oberst befiehlt die Herren zu sich, Verhandlungen, Protokolle sind aufzunehmen — eine kleine Extrabeschäftigung giebt es fast täglich. Es wird ein Uhr, ehe der Herr Lieutenant zum Frühstück kommt und kaum sitzt er, so muß er schon wieder aufstehen und zur Kaserne eilen, damit er pünktlich bei dem Antreten der Leute zugegen ist. Ihm liegt nichts daran, ob er pünktlich ist oder nicht — ginge es nur nach seinem Schädel, so käme er entweder gar nicht oder wenigstens eine Stunde zu spät. Aber die Vorgesetzten haben leider oft andere Ansichten als ihre Untergebenen und man muß sich ja fügen. So ist denn der Herr Lieutenant, um nur nicht zu spät zu kommen, die letzten hundert Meter durch den hohen Schnee gelaufen und als er ankam, hatte der Herr Hauptmann bereits auf dem Kasernenhof gestanden.

„Ich melde mich ganz gehorsamst zur Stelle.”

„Danke sehr, es ist allerdings noch zehn Minuten bis zwei Uhr, aber es wäre mir dennoch sehr lieb gewesen, wenn Sie einen Augenblick eher gekommen wären — es macht immer einen schlechten Eindruck vor den Leuten, wenn der Offizier nach seinem Hauptmann erscheint.”

„Na, nun schlage ich aber lang hin und sage gar nichts mehr,” denkt der Lieutenant im stillen, „ist so etwas, so lange es Rekruten giebt, denn überhaupt schon da gewesen? Wie kann ich denn das wissen, daß der Hauptmann heute Nachmittag zum Dienst kommen will, das hat er doch noch nie gethan, noch nicht ein einziges Mal, solange ich diese Menschen zu Soldaten umzuformen mich bemühe. Wie kann ich wissen, daß er kommt und wie kann ich wissen, wann er kommt? Soll ich vielleicht die ganze Mittagspause hindurch hier auf dem Kasernenhof stehen und warten? Daran denke ich ja gar nicht.”

Laut aber sagt er: „Zu Befehl, Herr Hauptmann.”

„Bitte, lassen Sie sich durch mich nicht stören, fangen Sie ruhig an.”

Und der wunderschöne Griff „Gewehr über und Gewehr ab” hatte wieder seinen Anfang gemacht, damit die Leute sich nicht gar zu sehr langweilten, hatte man als intermezzo militare langsamen Schritt geübt, war dann aber nach kurzer Pause reu-, de- und wehmütig zu den Griffen zurückgekehrt.

Als die Uhr vier geschlagen hatte, war der Dienst, wenn auch nicht für immer, so doch bis zum nächsten Morgen vorüber gewesen und lustig hatte er das Lied angestimmt:

„Vorbei, vorbei, vorbei, vorbei das schöne Fest
Nach Hause geht's nun wieder hin ins kalte Nest.”

Es giebt Lieutenants, die ihre Wohnung an Wochentagen überhaupt nicht heizen, wozu auch? Dafür, daß sie am Tage nicht zu Hause sind, sorgen die Vorgesetzten, und am Abend — na, da sitzt man in der Kneipe oder man langweilt sich sträflich auf einem Kommißpekko, man schwingt das Tanzbein, oder man ißt, wenn man kolossalen Dusel hat, mit dem großen Löffel.

Aber das Glück zu einem Diner eingeladen zu werden, wird einem armen Lieutenant selten oder nie zu teil, ach nein, der ist für solche Sachen viel zu jung, der muß sich im Schweiße seines Angesichts sein Abendbrot verdienen, ach, und das ist auf den Tanzgesellschaften meistens sehr spärlich.

Spät am Abend kehrt der Herr Lieutenant erst heim, eisige Kälte strömt ihm entgegen, als er die Thür zu seiner Wohnung öffnet, aber kalt schlafen ist gesund, wozu da heizen? Das Geld kann man sich sparen, es werden so viele Anforderungen an die magere Lieutenantsbörse gestellt, daß er froh ist über jeden Groschen, den er nicht auszugeben braucht: dafür, daß er doch nie Geld hat, sorgen schon andere —

As der Herr Lieutenant nach Beendigung des Nachmittagsdienstes die Wohnung betritt, ist er auf das Höchste verwundert: es ist eingeheizt.

Zuerst will er wegen dieser Verschwendung fluchen, denn die Feuerung kostet doch wenigstens wieder zwei Groschen, na, und zwei Groschen sind doch immer zwei Groschen, das ist doch keine Kleinigkeit, bei ihm geht's doch nicht zu wie bei reichen Leuten — au controlleur, ganz im Gegenteil.

Zuerst will er fluchen, aber er thut es doch nicht, es ist so schön warm und behaglich. Er tritt an den Ofen und wärmt sich die Hände, die sind ganz steif geworden bei dem Herumstehen auf dem Kasernenhof — leicht wird das Gehalt, von dem man als Lieutenant am ersten des Monats fast nie etwas zu sehen bekommt und das er sogar noch versteuern muß, nicht verdient.

Gott ist das hier schön warm.

Er ruft nach seinem Burschen: „Peter — Pe-ter.”

Peter kommt nicht, richtig, der ist ja noch auf dem Scheibenstand und versucht, seine Schießbedingung zu erfüllen — viel wird es bei der Kälte draußen auch wohl wieder nicht werden, na, das geht ihn ja nichts an.

Er vertauscht den Waffenrock mit der bequemen Litewka, legt sich aufs Sofa, zündet sich eine Cigarre an, ergreift ein Buch und will lesen. Aber bald überfällt ihn die Müdigkeit — man thut nicht den ganzen Tag Dienst, ohne körperlich und geistig abgespannt zu werden, er legt die Cigarre auf den Aschenbecher, der auf einem Stuhl neben seinem Lager steht, klappt das Buch zu und wenige Minuten später schläft er so schön, so himmlisch schön — kein Lieutenant auf Erden kann besser schlafen.

Gleich darauf tritt Peter mit vor Kälte geröteten Händen ins Zimmer: verwundert betrachtet er den Schläfer, dann aber geht er leise, ganz leise, nachdem er sich schnell draußen die Stiefel abgezogen hat, auf den Fußspitzen an den Ofen und wärmt sich ebenfalls die erfrorenen Glieder. Nein, wie schön warm es hier nur ist — wer wohl eingeheizt hat? Der Herr Lieutenant selbst? Das will Peter nicht recht in den Sinn, er selbst hat es aber auch nicht gethan, sollte vielleicht die Wirtin den menschen­freundlichen Gedanken gehabt haben, obgleich die Miete vom vorigen Monat noch nicht einmal bezahlt ist? Aehnlich sähe es ihrem guten Herzen.

Peter entschließt sich, nähere Erkundigungen einzuziehen und schleicht auf den Fußspitzen wieder heraus. Vorher aber wirft er einen Blick auf die an der Wand hängende Uhr: „Ein Viertel vor fünf, eine Viertelstunde kann ich ihn noch schlafen lassen.”

„Ist da Jemand?” fragt der Lieutenant.

Nicht für eine Million brächte Peter es fertig, jetzt seinen Lieutenant zu wecken, er gönnt ihm die Ruhe, denn er weiß, sein Lieutenant hat's nicht leicht bei seinem Hauptmann: das ist ein sonderbarer Heiliger.

So antwortet er denn auf die Frage: „Ist jemand da?” mit einem halblauten „Nein, Herr Lieutenant” und geht.

Bei der Erfindung des Pulvers hat Peter im Zimmer nebenan gesessen und zum Ueberfluß auch noch Wachs ins Schlüsselloch gesteckt, damit er ja nichts von dem sähe, was in seiner nächsten Nähe vor sich ging — dumm ist er nur, aber ein treuer, anständiger Mensch, und das ist für den Thaler, den er im Monat als Burschenzulage erhält, mehr als genug.

Eine Viertelstunde ist vergangen — es ist richtig, die Wirtin hat geheizt von ihrer eigenen Feuerung. Der Lieutenant soll es aber nicht wissen, Peter soll sagen, er hätte für zehn Pfennig Kohlen drüben bei dem Krämer gekauft.

Wieder tritt Peter ins Zimmer, diesmal die Füße in buntgestickten Morgenschuhen, einem Geschenk seiner Braut.

So krumm und dumm ist kein Soldat, daß er nicht wenigstens „eine Braut” hat.

Einen Augenblick betrachtet Peter noch den Schlafenden, noch einmal sieht er nach der Uhr, dann stellt er sich stramm hin, legt die Hände vorschriftsmäßig, wie er es gelernt hat als er noch Rekrut war, an die Hosennaht und meldet dann mit lauter Stimme: „Herr Lieutenant, es wird für uns die höchste Zeit, wir müssen aufstehen.”

„Scher dich zum Teufel.”

Aber Peter bleibt ruhig stehen:

„Herr Lieutenant, wenn wir zu spät zu Tisch kommen, kostet das uns wieder zwanzig Pfennig Strafe, dafür können wir zweimal einheizen, denn heute habe ich für die Kohlen nur zehn Pfennig nicht bezahlt.”

Lügen kann Peter nicht, so entledigt er sich auf diese Weise des ihm von der Wirtin gegebenen Auftrages.

Der Lieutenant liegt mit offenen Augen auf der Chaiselongue und zieht sich noch einmal die Decke bis an die Nase.

„Herr Lieutenant, Herr Lieutenant,” mahnt Peter.

„Halt den Mund.”

„Na, Herr Lieutenant, mir kann's ja einerlei sein, aber wenn der Herr Oberstlieutenant wieder schelten, weil der Herr Lieutenant zu spät zu Tisch kommen — ich habe früh genug geweckt. Wenn wir uns ein wenig beeilen, können wir noch ganz bequem fertig werden.”

„Ich gehe nicht zu Tisch.”

Das macht auf Peter gar keinen Eindruck, er kennt seinen Lieutenant besser, als dieser sich selbst.

Er bleibt ruhig stehen, immer noch die Hände an der Hosennaht — er wartet ruhig und sieht seinen Herrn und Gebieter nur vorwurfsvoll an. Lange kann der den Blick nicht ertragen und so knurrt er denn endlich: „Na, denn gieb die Sachen her.”

Schon bevor Peter zum Dienst ging, hatte er alles zurecht gelegt und in einer Viertelstunde ist der Lieutenant fix und fertig angezogen.

„Hat du noch Kohlen, Peter?”

„Zu Befehl, Herr Lieutenant.”

Er sieht im Kohlenkasten noch eine Schaufel voll liegen.

„Nun, dann heiz in der Schlafstube auch ein wenig ein, aber nur ganz wenig, verstehst du?”

„Zu Befehl, Herr Lieutenant.”

„Sonst noch etwas?”

„Nein, Herr Lieutenant.”

Gleich darauf stampft der Herr Lieutenant durch den Schnee dem Kasino entgegen.

Gott was gäbe er darum, wenn er doch hätte zu Haus bleiben können! Er kann gar nicht sagen, wie sehr ihm das Kasinoleben zum Halse heraus hängt. Zuerst, als er eben Offizier geworden war, hat es ja auch ihm große Freude gemacht, und er konnte sich nichts Schöneres denken, als im Kasino mit den Kameraden zusammen zu sein. Aber auf die Dauer ermüdet und langweilt alles, auch ohne daß man deswegen blasiert zu sein braucht, wenn in das ewige Einerlei nicht die geringste Abwechslung kommt. Sechs Jahre hindurch wandert er nun schon Mittag für Mittag denselben Weg; auch ohne daß er sich vorher erkundigt, weiß er jeden Tag, was es zu essen giebt und weiß auch, ohne daß er die Speisen kostet, wie sie schmecken. Wer sechs Jahre hindurch jede Woche einmal Hammelfleisch mit Kohl zu essen bekommt, weiß auch im Grabe noch, wie das Zeug schmeckt. Er kann die Kasinospeisen nicht mehr essen, die Kasinoweine nicht mehr trinken, die Kasino-Unterhaltung nicht mehr mit anhören.

Die Unterhaltung ist das Schlimmste.

Man sitzt im Kasino streng nach der Anciennität, die unverheirateten Stabsoffiziere obenan, daran schließen sich die Hauptleute, dann die Herren Premiers, die Herren Sekonds und ganz untenan die Fähnriche, letztere natürlich nur dann, wenn man welche hat.

Die Fähnriche sprechen bei Tisch gar nicht.

Die Herren Lieutenants sprechen über junge Hunde und über Damen.

Die Herren Hauptleute sprechen über Damen und über junge Hunde.

Die Herren Stabsoffiziere sprechen über die Rangliste und über die Anciennitätsliste.

Ich bitte um Erlaubnis, hier eine kleine Pause machen zu dürfen, um mich von dem Grausen zu erholen, das ich bei der Erinnerung an diese Kasinounterhaltung empfinde. Vier Jahre meines Lebens habe auch ich sie Tag für Tag genossen, da hielt ich es bei dem besten Willen nicht mehr aus und ging — ins Wasser? Ach nein, ich that etwas viel Schlaueres und ging hin und holte mir eine kleine, liebe Frau. Da war ich wenigstens fein heraus.

Während dessen schreitet der Herr Lieutenant dem Kasino weiter entgegen, er beeilt sich nicht sonderlich, vom Kirchturm hat es schon ein halb sechs Uhr geschlagen, zu spät kommt er also doch, seine zwanzig Pfennig ist er los, es ist nur gut, daß er sie nicht gleich zu bezahlen braucht, sondern daß sie ihm nebst vielen anderen schönen Dingen am ersten des nächsten Monats vom Zahlmops, auch Zahlmeister genannt, abgezogen werden. Einer spöttischen Bemerkung seitens des Herrn Oberstlieutenants, des Tischältesten ist er auch sicher — warum sich da beeilen? Ein Gutes hat das Zuspätkommen aber doch — inzwichen wird die Suppe serviert, die geht wenigstens an ihm vorüber. Nur Optimisten können die braune Flüssigkeit, in die die Ordonnanzen jeden Mittag, wenn sie die Teller herumreichen, ihren Daumen hineinstecken, „klare Bouillon” nennen.

Als er Herr Lieutenant endlich den Eßsaal betritt, wird das erste Fleischgericht serviert.

Sein Herz frohlockt.

Er macht dem Tischältesten seine Verbeugung, murmelt das stereotype: „Ich bitte sehr um Verzeihung, Herr Oberstlieutenant,” überhört dessen ständige Entgegnung: „Ich bitte sehr um Verzeihung, daß wir schon angefangen haben,” und begiebt sich dann an seinen Platz; aber der ist besetzt, ein Gast hat seinen Stuhl eingenommen.

Er sieht sich nach einem leeren Stuhl um, die Fähnriche springen in die Höh und bieten ihm ihren Sitz an, er nickt ihnen zu, sich wieder hinzusetzen und giebt einer Ordonnanz den Befehl, neben den Fähnrichen ein Gedeck für ihn hinzulegen.

Da ertönt eine Stimme: „Nehmen Sie doch hier oben Platz, der Herr Major kommt nicht, er ist noch zur Jagd, dieser Stuhl ist frei.”

Der Herr Oberstlieutenant hat's gesprochen, den armen Lieutenant rührt beinahe der Schlag. Das fehlt ihm gerade noch in der ärgerlichen Stimmung, in der er sich so wie so schon befindet, sich da oben hinsetzen zu müssen.

Dann will er sich noch lieber über junge Hunde unterhalten.

Einen Korb kann er dem Vorgesetzten nicht geben, so sagt er denn: „Der Herr Oberstlieutenant sind wirklich sehr liebenswürdig,” und wankt nach dem leeren Stuhl hin.

„Befehlen der Herr Lieutenant Suppe?”

„Nein, ich danke, was giebt's für Fleisch?”

„Zuerst Kalbsrücken, dann Hammelfleisch und Kohl.”

Brrrrrr.

Der Kalbsrücken wird serviert, und gekeilt in der drangvoll fürchterlichen Enge lauscht er der hohen und hehren Unterhaltung.

Am Mittag ist das neue Militärwochenblatt erschienen, das die Beförderungen und Veränderungen in der Armee bringt, es ist diesmal sogar ein sogenanntes „großes” Wochenblatt gewesen, und der Stoff zur Unterhaltung ist so reichhaltig wie nur selten.

„Der Oberstlieutenant von Aberg hat ja auch den Abschied bekommen.”

„Ja, ja,” bemerkt der Herr Etatsmäßige, „ich habe das auch mit Verwunderung gelesen, was da nur vorliegen mag?”

„Ich hörte neulich in Berlin von einem Bekannten, daß er im Manöver sehr schlechte Geschäfte gemacht haben soll.”

Der Herr Oberstlieutenant wird etwas unruhig auf seinem Stuhl: er fühlt sich getroffen. Auch er hat im Manöver, an den Tagen als er das Regiment führte, sehr, sehr schlechte Geschäfte gemacht und wenn der Herr Oberst, mit dem er sich allerdings ausgezeichnet steht, ihm nicht eine ganz vorzügliche Konduite geschrieben hat, so — so —”

„Der Herr Oberstlieutenant müssen nun doch auch bald zum Regiments­kommandeur dran sein?”

Der Herr Etatsmäßige verjagt bei dieser ihn erfreuenden Frage alle trüben Gedanken, die ihn soeben noch bedrückten — schließlich Pech haben kann ja jeder einmal, wenn man sonst nur ein guter Offizier ist — und das zu sein, glaubt er.

„Wie lange haben der Herr Oberstlieutenant noch zu warten?”

Der schüttelt sorgenschwer das Haupt: „So genau kann ich das nicht sagen, vielleicht noch ein halbes Jahr, wenn ich Glück habe.”

Des einen Glück ist beim Militär des anderen Unglück — der Herr Oberstlieutenant kann nur dann avancieren, wenn eine Stelle frei ist, wenn jemand den Abschied genommen oder bekommen hat.

Na, und das ist meistens genau dasselbe.

Freiwillig gehen nur wenige und diese wenigen gehören den niederen Chargen an: die haben dann keine Lust mehr.

Wer auf der militärischen Sprossenleiter schon etwas höher geklettert ist, der hält sich dort oben, mag der Wind auch noch so stürmisch, die Situation auch noch so kritisch sein, so lange wie möglich. Freiwillig steigt er nicht herab, er denkt an die Pension — je länger, je größer — und dieser Gedanke giebt ihm immer wieder Mut.

„Aber Herr Oberstlieutenant, das ist ja gar nicht möglich, noch ein halbes Jahr? Das ist viel, viel zu lange, höchstens noch fünf Monate.”

Wieder lächelt der Herr Oberstlieutenant geschmeichelt, daß seine Untergebenen ihm ein so schnelles Avancement in Aussicht stellen, dann ruft er über den Tisch: „Lieber Baron.”

„Herr Oberstlieutenant befehlen?”

„Sagen Sie, Lieber, Ihre Aufgabe ist es ja als jüngstes Mitglied der Bibliotheks­kommission, haben Sie schon die Rangliste korrigiert?”

„Ich bin damit noch nicht ganz fertig, Herr Oberstlieutenant, weiter als bis zu den Hauptleuten bin ich noch nicht gekommen.”

„Von wo angefangen, von oben oder von unten?”

„Natürlich von oben.”

„So — so — ach lieber Baron, Sie könnten mir einen großen Gefallen thun, wir sprechen gerade davon, wissen Sie vielleicht, wieviel Vorderleute ich noch habe?”

„Ich habe heute mittag nachgezählt, ganz genau weiß ich es nicht mehr, es sind entweder sechs oder sieben.”

„Ich sagte es ja,” fährt der Herr Major von vorhin fort, „es könnte unmöglich noch ein halbes Jahr dauern, aber wenn der Herr Oberstlieutenant wirklich nur noch sechs oder sieben Vorderleute haben, sind der Herr Oberstlieutenant ja „der Dranste.”

Dem Herrn Oberstlieutenant läuft es heiß und kalt über den Rücken, mein Gott, so dicht steht er schon vor der Beförderung? Es hat in der letzten Zeit ein scharfer Wind geweht und so mancher, der glaubte, General zu werden, mußte daran glauben, aber daß es so gestürmt hatte, davon hatte er in der kleinen, stillen Garnison ja gar nichts gemerkt. Das war ja furchtbar.

Jeden Abend, wenn er zu Bett ging, hatte er sich gewünscht, dem Avancement näher zu kommen, was hat man denn als „Mottenkönig”, wie der Etatsmäßige genannt wird, weil er die ganze Bekleidung des Regiments unter sich hat und natürlich aufpassen muß, daß keine Motten in das Zeug kommen — was hat denn solch Mottenkönig eigentlich zu thun? Blitzwenig und das Wenige machen der Zahlmeister und die Kammerunteroffiziere ganz alleine und bleibt wirklich noch ein kleiner Rest für ihn zu thun übrig, so darf er da auch nicht selbständig handeln, sondern muß erst das Einverständnis und die Genehmigung des Herrn Regiments­kommandeurs einholen und es passiert dann oft genug, daß der Herr Oberst zu dem, was der Herr Oberstlieutenant sich so schön in schlummerlosen Nächten zum Besten des Regiments ausgedacht hat, einfach „nein” sagt. Dann hat er umsonst gewacht und das ist traurig und dem körperlichen Wohlergehen nicht gerade dienlich, denn der Schlaf vor und nach Mitternacht ist der gesündeste, und nur Thoren behaupten, daß ein kurzer Schlummer vor und nach jeder Mahlzeit ungesund sei. Leute, die nichts zu thun haben, die sich ihr Geld verdienen, ohne daß sie Kopf und Hände, oder wie der Lieutenant die Beine, anstrengen, können schlafen, wie sie wollen. Das hat der Herr Oberstlieutenant denn auch gethan, ewig schlafen kann er doch aber auch nicht, was bleibt ihm denn sonst im Grabe zu thun übrig?

Immer hat er gehofft, er möchte bald Oberst werden, dann weiß man doch wenigstens, wozu man da ist auf der Welt. Und nun steht er unmittelbar vor dem Avancement, er ist, wie man in der Armee zu sagen pflegt, „der Dranste” und nun ist alle Freude verflogen, nun beherrscht ihn nur die Angst: Werde ich Oberst oder werde ich es nicht?

Unterdes sitzt unser Lieutenant und ißt sein Hammelfleisch mit Kohl — das Fleisch ist wie immer zähe und der Kohl wie immer ein ganz klein wenig angebrannt, das sind die Herren nicht anders gewöhnt und sie verlieren auch kein Wort darüber, obgleich sie sich alle einig sind, daß es schöner wäre, wenn es anders wäre.

Da wendet sich der Herr Oberstlieutenant an seinen Nachbarn, der das Essen mit einem sauren Moselwein, die halbe Flasche zu vierzig Pfennig, hinunterzuspülen versucht, teureren Wein kann ein Lieutenant sich nicht leisten, aber für das Gift, um nicht zu sagen für das Petroleum — denn so schmeckt das Zeug — das dort in der Flasche vor ihm steht, sind selbst vierzig Pfennig viel, viel zu viel.

Man müßte, wenn es eine Gerechtigkeit in der Welt gäbe, eigentlich und uneigentlich etwas zubekommen, daß man den Wein trinkt, und als größte Sehenswürdigkeit müßte man auf den Marktplätzen gezeigt werden, daß man den surius trank, ohne zu sterben.

„Nun, mein lieber Sekond, Sie müssen doch auch bald zum Avancement dran sein?”

Dem armen Lieutenant bleibt beinahe ein kleiner Hammelknochen, der im Kohl Versteck gespielt hat, im Halse stecken.

„Ich habe noch viel Zeit, Herr Oberstlieutenant, noch ungefähr anderthalb Jahre.”

„Was, so lange noch? Das kann ja gar nicht sein, von wann sind Sie denn Offizier?”

Der Lieutenant nennt das Datum seines Patentes.

„So — so, dann sind Sie allerdings ja noch sehr jung, nun, aber auch für Sie wird einst die Stunde der Beförderung schlagen.”

„Das will ich hoffen,” denkt der Lieutenant im stillen, „denn wenn ich bis an mein Lebensende Sekondelieutenant bleiben sollte, und vielleicht mit sechzig Jahren, wenn ich Großvater bin, noch Rekruten exerzieren müßte, dürfte sich kein Mensch wundern, wenn ich einen Selbstmord beginge.”

Laut aber sagt er „Zu Befehl.”

Der Herr Oberstlieutenant aber hört gar nicht mehr zu, sein Interesse für den jungen Offizier ist, als er hörte, wie jung dieser sei, sofort erloschen — er sucht nach Leuten, die gleich ihm zur Beförderung dran sind, eingedenk des Wortes: Solamen miseris socios habuisse malorum, zu deutsch: „Wenn man im Druck ist, giebt es auf der Welt nichts Schöneres, als jemanden zu haben, der noch mehr im Druck ist.” An dem Unglück anderer richtet sich der Traurige ja am allerleichtesten auf.

Und der Himmel ist dem Herr Oberstlieutenant gnädig: er findet einen, der gleich ihm der Dranste ist. Ihm schräg gegenüber sitzt ein Hauptmann, der jetzt erster Klasse werden soll, er müßte es eigentlich schon lange sein, wenn das Avancement nicht so schlecht wäre. Viele Kameraden in der Armee, die jünger sind als er, sind schon erster Klasse, er noch nicht, das ist für die anderen sehr erfreulich, für ihn selbst aber sehr scheußlich. Nun ist er in banger Sorge, werde ich nun Hauptmann erster Klasse oder werde ich Bezirksoffizier? Das nächste Wochenblatt muß die Entscheidung bringen.

Die Lichter werden auf den Tisch gesetzt, die Cigarren angezündet, und der Lieutenant will sich dünne machen, er kann die Unterhaltung über den Dransten nicht mehr mit anhören.

„Wollen Sie schon gehen?” fragt der Herr Oberstlieutenant, um den herum sich die Plätze leeren, „bleiben Sie doch noch einen Augenblick, leisten Sie mir noch etwas Gesellschaft, bitte seien Sie mein Gast, wir trinken noch eine kalte Flasche zusammen.”

Der Lieutenant stöhnt im Inneren, aber was hilft's? Nein sagen kann er nicht.

„Der Herr Oberstlieutenant sind wirklich zu gütig.”

Er weiß ganz genau, warum der Herr Etatsmäßige Gesellschaft haben will, er hat Angst, er fürchtet sich vor dem Alleinsein — dann kommen die Befürchtungen: „Bekommst du den Abschied oder bekommst du ihn nicht” — ach solche Fragen, auf die nur die Zukunft Antwort geben kann, sind fürchterlich.

Die Odonnanz bringt eine Flasche Matheus Müller und erhält den Auftrag, gleich noch eine zweite kalt zu stellen.

„Allbarmherziger,” denkt der Lieutenant, dann schenkt er die Gläser voll, obgleich er der Gast ist — das gehört sich so beim Militär.

Hell klingen die Gläser aneinander.

„Prosit, mein junger Freund.”

„Prosit, Herr Oberstlieutenant.”

„So, nun kann's losgehen,” denkt der Lieutenant und damit er nicht einschläft, zündet er sich eine neue Cigarre an, obgleich die andere erst halb aufgeraucht ist, „so nun kann's losgehen.”

Und es geht los.

Der Herr Oberstlieutnant erzählt aus seinem Leben, natürlich nur aus seinem militärischen Leben, das andere ist ja ganz gleichgültig. Ob man Vater und Mutter noch am Leben hat, ob man Geschwister besitzt, was die sind und wie es denen geht, was die Kinder und Enkel machen — das ist ja alles ganz nebensächlich, wenn er nur Oberst wird. Er muß es ja werden, denn er ist ja der Dranste und damit er selbst glaubt, daß er nicht den Abschied bekommt, erzählt er seinem jungen Zuhörer, welch vortrefflicher Offizier er sein ganzes Leben hindurch gewesen ist. Er erzählt von seiner Teilnahme an den Kriegen, von den Orden, die er für seine Tapferkeit bekommen hat, wie später, nach dem Friedensschluß, seine Kompagnie stets im Regiment die beste gewesen ist, wie er sein Bataillon stets in so vorzüglicher Verfassung gehabt hat, daß ihm hohes und höchstes Lob zu teil geworden sei, wie Se. Excellenz ihm einmal bei der Parade ein lautes Bravo zugerufen habe, weil er auf dem Gaul sitzen geblieben sei, obgleich dieser vorne und hinten ausschlug. Er schildert, wie kein Bataillon so gut im Anzug gewesen sei, wie das seinige, kein Mensch hat es begreifen können, wie er mit so geringen Mitteln so Großes fertig gebracht habe.

Der Lieutenant läßt den Etatsmäßigen ruhig sprechen und denkt sich sein Teil dabei und er denkt folgendes: „Wenn ich dazu verurteilt bin, vielleicht noch stundenlang diesem Selbstgespräch zuzuhören, so will ich wenigstens auch dafür entschädigt werden. Schön ist der Sekt zwar nicht, aber er ist immer besser als gar keiner,” und so schluckt er denn ein Glas nach dem anderen hinunter, der zweiten Flasche ist schon lange die vierte gefolgt.

Trinken ist keine Beschäftigung für kleine Kinder, wer zum Spaß trinkt, ist nicht wert, daß seinetwegen Wein wächst.

Und noch an etwas anderes denkt der junge Offizier.

Im Manöver war es gewesen zur Zeit des Regiments­exerzierens. Zuerst hatte der Herr Oberst mit seinen Truppen in der Welt herumgeturnt, sie bald hierher, bald dorthin geführt, sie auseinander gezogen und wieder zusammengeführt, und als er genug gehabt hatte vom Kommandieren und als die Soldaten und Offiziersoldaten mehr als genug gehabt hatten von dem „Pintschern”, — da hatte er die Truppen nicht, wie jeder erwartete, abrücken lassen in die Quartiere, ach nein — da hatte er sich an seinen Etatsmäßigen gewandt: „Bitte, Herr Oberstlieutenant, exerzieren Sie das Regiment noch einen Augenblick.”

Stolz hatte der Herr Oberstlieutenant seinen Degen gezogen und mit Stentorstimme gerufen: „Das Regiment hört auf mein Kommando,” und jeder war neugierig gewesen, was nun wohl kommen würde — der Herr Oberstlieutenant auch.

Der Herr Etatsmäßige wollte sich bei dem Kommandeur im besten Lichte zeigen, er wollte einmal beweisen, was er alles könnte.

So wandte er sich denn an seinen Vorgesetzten: „Ueberlassen der Herr Oberst mir, was ich machen will oder geben der Herr Oberst mir vielleicht einen Auftrag?”

Das hatte so stolz geklungen, daß jeder, der es hörte, gewaltigen Respekt vor dem Etatsmäßigen bekam, er imponierte sich selbst am allermeisten, aber die Reue folgte auf dem Fuße — ach, und wie oft mochte er in stillen Nächten das Wort schon bbereut und sich gesagt haben: „Ach hättest du doch damals deinen Schnabel gehalten.”

Der Herr Oberst hatte nämlich seinen Unterthan einen Augenblick verwundert angesehen und dann gemeint: „Ganz wie Sie wollen — ich kann Ihnen aber auch, wenn Sie es lieber wollen, einen kleinen Auftrag geben.”

Der Herr Oberst hatte seinen Adjutanten und seinen Ordonnanzoffizier instruiert und diese waren dann im Galopp davongeritten. Neugierig hatte der Lenker des Regiments ihnen nachgeschaut, und als die Herren ihre Pferde anhielten, verwundert den Kommandeur angeblickt.

„Also Herr Oberstlieutenant,” hatte dann der Herr Oberst gesagt, „Sie sehen vor sich die beiden berittenen Offiziere — rechts den Adjutanten, in einiger Entfernung links davon meinen Ordonnanz-Offizier. Bitte entwickeln Sie in diesem Ihnen zur Verfügung stehenden Raum das Regiment.”

„Das ganze Regiment?” hatte er verwundert gefragt, denn der Raum schien ihm so klein, so ungeheuer klein.

„Jawohl, das ganze Regiment,” hatte der Herr Oberst erwidert.

Da hatte der Herr Oberstlieutenant nur den Kopf geschüttelt und weiter nichts gesagt als: „Oh — oh — oh.”

Das hieß auf deutsch: „Wie soll ich dies Wunder fertig bringen?”

Und er hatte es auch nicht fertig gebracht, beim besten Willen nicht.

Da hatte der Herr Oberst wieder die Führung des Regiments übernommen und seinem Etatsmäßigen gezeigt, daß manches Wunder zuweilen sehr einfach ist.

Damit wäre die Geschichte nun zu Ende gewesen, wenn nicht ein Lieutenant dieses „Oh — oh — oh,” gehört hätte — er hatte sich prachtvoll darüber amüsiert und es abends im Quartier am Biertisch erzählt. Bald ging die Geschichte von Mund zu Mund, ein Ordonnanz­offizier erzählte es dem anderen und da die Ordonnanz­offiziere bekanntlich in erster Linie die Verpflichtung haben, für die gute Laune ihrer Herren durch amüsante kleine Geschichten Sorge zu tragen, so wußten es auch bald die hohen und höchsten Herren. Se. Excellenz, der kommandierende General, sollte Thränen gelacht haben.

An diese kleine Geschichte dachte der junge Lieutenant, während der Etatsmäßige ruhig weiter erzählte und sich über seinen aufmerksamen Zuhörer freute.

„Wir trinken doch noch eine Flasche, mein Lieber?”

„Ganz wie der Herr Oberstlieutenant befehlen,” und die fünfte Flasche war auf dem Tisch des Hauses erschienen, sie war die erste nicht und auch nicht die letzte.

„Ja, ja, mein Lieber, das kann ich wohl von mir sagen, ich bin allezeit ein treuer und gewissenhafter Offizier gewesen, ich habe stets versucht, den Posten, auf den man mich gestellt, nach besten Kräften auszufüllen, und wenn Se. Majestät die Gnade haben sollten, mir ein Regiment anzuvertrauen —”

Er schweigt und sieht seinen Zuhörer forschend an: der weiß ganz genau, worauf der Sprecher wartet: auf eine Bestätigung, daß er sicher nach Meinung des Zuhörers ein Regiment erhalten wird.

Jeder Untergebene bildet sich sein Urteil über seine Vorgesetzten und das ist oft richtiger als das Urteil der höheren Vorgesetzten und die Meinung des Zuhörers geht dahin: „Wenn man dir ein Regiment anvertraut, dann müßte es jeder bekommen. Wärest du verheiratet, so würde man vielleicht Gnade für Recht ergehen lassen, dir noch ein Jahr ein Regiment geben, um dir mit Rücksicht auf Weib und Kind eine höhere Pension gewähren zu können — aber so, es thut mir leid, so denken zu müssen, so glaube ich nicht recht daran.”

„Ich sagte, wenn Se. Majestät die Gnade haben sollten, mir ein Regiment anzuvertrauen —”

Dem Oberstlieutenant, der schon bei Tisch ganz brav gezecht hat, sind die zwei und eine halbe Flasche Sekt etwas sehr in den Kopf gestiegen, er fängt an traurig zu werden, der Lieutenant merkt es ihm an, daß sein Inneres nach einem Wort des Trostes schreit und so sagt er denn:

„Warum sollen der Herr Oberstlieutenant denn kein Regiment bekommen?”

„Ja, das sag ich auch, warum soll man gerade mich zum Teufel jagen — ist noch etwas drinn in der Flasche? Nein? Ordonnanz, noch eine Matheus Müller.”

„Ich glaube, es ist schon spät,” wagt der Lieutenant einzuwenden.

„Ach was, spät — so'n junger Mnn wie Sie, der muß gar nicht wissen, was spät ist. Ich sage Ihnen, als ich noch jung war, da habe ich die halben Nächte — was sage ich, die ganzen Nächte durchgekneipt, Tag für Tag, Monat für Monat, jahraus — jahrein und immer pünktlich im Dienst, nie meine Pflicht versäumt — Ordonnanz, stellen Sie nur gleich noch eine kalt, ach was, Unsinn, eine trinken wir noch. So jung kommen wir nie wieder zusammen und das sage ich Ihnen, wenn Se. Majestät die Gnade haben sollten, mir ein Regiment anzuvertrauen, dann, dann wollen wir uns zusammen einmal ordentlich die Nase begießen.”

Längst ist kein Mensch mehr im Kasino, die Gasflammen sind bis auf eine ausgedreht, die Lichter, die auf dem Tisch standen, heruntergebrannt, dichter Tabaksqualm hüllt das Zimmer ein, aus dem sich undeutlich die beiden Zecher abheben.

Als die neunte Flasche aufgetragen wird, strikt der Lieutenant: „Ich bitte sehr um Verzeihung, Herr Oberstlieutenant, aber mehr als vier Flaschen Sekt kann ich beim besten Willen nicht trinken, es thut mir sehr leid, aber ich kann nicht mehr.”

„Ach seien Sie doch kein Spielverderber, warum sollen wir nicht noch eine trinken, ich muß doch den heutigen Tag feiern, ich bin doch der Dranste.”

Und auch der neunten Flasche wird noch der Hals gebrochen, dann aber ist definitiver Schluß.

Mühselig erhebt sich der Oberstlieutenant von seinem Stuhl, stützt sich schwer auf den Arm des jüngeren Kameraden, und dieser geleitet den älteren behutsam nach Haus, schließt ihm die Thür auf, schickt den Burschen weg und bringt ihn zu Bett.

Dann geht er der eigenen Wohnung entgegen, so ganz extra ist ihm auch nicht.

„Peter, ich glaube, ich habe heute ein bischen viel getrunken, was?”

Dem guten Peter kommt das auch so vor, aber dennoch sagt er: „I wo werden wir denn, Herr Lieutenant, so etwas thun wir ja nie,” und behutsam bettet er seinen Herrn in die Kissen und bleibt im Zimmer, bis dieser fest eingeschlafen ist.

Am nächsten Morgen erwacht der Herr Lieutenant mit wahrhaft grausigen Kopfschmerzen — aber noch schlechter geht es seinem Gastgeber, der hat außer einem physischen auch noch einen gewaltigen moralischen Katzenjammer: er hat eine dunkle Erinnerung, als wenn er gestern sehr viel getrunken und sehr viel Unsinn geredet hat. Deshalb macht er sich sofort nach beendeter Toilette auf den Weg zur Kaserne, sucht den Lieutenant auf und bittet ihn über den gestrigen Abend und über das, was sie zusammen besprochen haben, nicht mehr zu sprechen, als unumgänglich nötig ist — also mit anderen Worten: gar nicht. Selbstverständlich verspricht der Lieutenant Verschwiegenheit und beruhigt zieht der Etatsmäßige wieder von dannen, indem er denkt: „Der kleine Lieutenant ist wirklich ein selten netter Mensch und ein äußerst tüchtiger und gewissenhafter Offizier, ich würde mich freuen, wenn ich später in meiner Brigade mehrere solche Offiziere hätte.”

Nachdem er sich gestern solchen Mut getrunken hat, ist er fest davon überzeugt, daß er nicht nur Oberst, sondern auch Brigade-Kommandeur wird. Daß er es noch weiter bringt, glaubt er selbst nicht, aber so weit sicher.

Als er ins Kasino kommt, um eine Flasche Selterwasser zu trinken, findet er dort den „dransten” Hauptmann vor — der hat sich gestern im Klub gehörig einen „angebändigt”.

Nun sitzt er über die Anciennitätsliste gebeugt, studiert seine Vorderleute und stellt Berechnungen an, ob er nun wohl wirklich dran wäre oder ob er doch noch wieder werde warten müssen.

Und der Herr Oberstlieutenant hilft ihm väterlich wohlwollend bei dieser Berechnung.

Acht Tage später erscheint das Militär-Wochenblatt:

Der Herr Oberstlieutenant hat mit Pension seinen Abschied bekommen, der Herr Hauptmann ist zum Bezirksoffizier und der Herr Lieutenant, der nicht nur nach Ansicht des Herrn Oberstlieutenants sondern auch der der übrigen höheren und höchsten Vorgesetzten ein sehr befähigter und fleißiger Offizier ist, ist mit bedeutender Vor-Patentierung unter Beförderung zum Premierlieutenant in ein anderes Regiment versetzt worden.

Ja, ja, es ist wirklich sehr schwer, manchmal zu sagen, wer der Dranste ist.


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