Der dicke Major.

Militär-Humoreske von Frhr. v. Schlicht.
in: „Indiana Tribüne” vom 17.7.1903,
in: „Der deutsche Correspondent” vom 19.7.1903 ,
in: „Nachrichten-Herold”, (Sioux Falls), vom 6.8.1903,
in: „Rekrutenbriefe”,
in: „Die Frau Oberst” und
in: „Garnison und Manöver”
(Nicht identisch mit der gleichnamigen Erzählung
in: „Beiblatt der Deutschen Roman-Zeitung”


Der dicke Major Werner sollte abgehalftert werden, er sollte in Pension gehen, er war zu dick.

Über diese beiden Punkte, sowohl über die notwendige Verabschiedung des Herrn Major wie über seine Dicke waren sich alle Vorgesetzten einig, alle waren mit der bevorstehenden Verabschiedung vollständig einverstanden, nur die Hauptperson nicht, der Herr Major, der streikte nach allen Regeln der Kunst und war keinem Zuspruch zugänglich.

Und das war für die Vorgesetzten sehr traurig, mit Gewalt wollte und konnte man gegen den Herrn Major nicht gut vorgehen, denn erstens war er trotz seiner Körperfülle ein sehr tüchtiger Offizier, und zweitens hatte er Verbindungen und Konnexionen — sein Bruder, der sich in der Angelegenheit völlig neutral verhielt, war in dem Armeekorps Chef des Stabes und den wollte man nicht dadurch kränken, daß man seinem cher frère einfach den blauen Brief ins Haus schickte. Das konnte der Herr Chef unter Umständen doch übel nehmen, und mit dem Chef des Stabes verdirbt es keiner gern, nicht einmal der Herr Divisions­kommandeur, sintemalen jeder Divisionär gern kommandierender General werden will. Und ob er das wird, das hängt zwar nicht gerade von dem Chef des Stabes ab, o nein, aber vorteilhaft ist es gerade nicht, wenn der Chef seinem Brotherrn, dem Herrn Kommandierenden, immer mit der Nachricht in den Ohren liegt, daß der Herr Divisions­kommandeur eigentlich und uneigentlich eine ziemlich große Null sei.

Aus diesen und manchen anderen Gründen sollte der Major freiwillig gehen, und der Oberst erhielt von der Brigade und von der Division den Auftrag, ihm dies zwar in zarter, aber nichtsdestoweniger trotzdem sehr deutlicher Weise nahe zu legen. Und der Herr Oberst legte es ihm nahe, hätte er sich selbst für vollständig unfähig gehalten, so hätte er sich seine eigene Verabschiedung nicht wärmer ans Herz legen können, er sprach mit der Beredsamkeit eines Demosthenes und mit der Ausdauer eines modernen Reichstags­abgeordneten, aber als er endlich aufhörte zu reden, weil er fürchtete, einen Kinnbackenkrampf zu bekommen, da hatte er noch weniger als nichts erreicht, nämlich gar nichts.

Als der Herr Oberst diese traurige Tatsache nach oben gemeldet hatte, bekam er auf dem Instanzenwege etwas auf den Hut. Die Höheren waren der Ansicht, er habe die Sache nicht richtig angefangen, er solle vier Wochen ins Land gehen lassen und eben noch einmal mit dem Herrn Major sprechen, von dem man zwar wisse, daß er dick sei, von dessen Dickfelligkeit man aber noch nie etwas gehört habe.

Und als die vier Wochen ins Land gegangen waren, sprach der Herr Oberst noch einmal mit dem Major: in den glühendsten Farben schilderte er, wie schön das Leben in der Pension sei, wie köstlich es wäre, weiter nichts zu tun zu haben als seine Hunde spazieren zu führen, wie erhebend und beseligend das Gefühl sei, sich am frühen Morgen sagen zu können: Heute wird dir niemand grob und wird dir doch jemand grob, so wirst du ihm wieder grob.

Diese Worte machten sichtbar Eindruck auf den Herrn Major, er nickte ein paar mal mit dem Kopf, und als der Kommandeur endlich schwieg, da war er fest davon überzeugt, dieses Mal den Sieg davon getragen zu haben. Aber er hatte sich geirrt, obgleich er der Vorgesetzte war, der Major machte nach wie vor sein vergnügtestes Gesicht und sagte gelassen. „Später werde ich mit Freuden das ruhige Leben genießen, das der Herr Oberst mir so rosig schildern, vorläufig aber fühle ich mich noch zu jung und zu gesund, um mich jetzt schon auf die faule Bärenhaut zu legen.”

Als der Oberst diese Worte auf dem Instanzenwege nach oben meldete, geriet der Herr Divisions­kommandeur außer sich, und er schrieb dem Herrn Oberst einen Brief, den er durchriß, als er ihn fertig hatte, in den vier Seiten standen denn doch zu viele Grobheiten, und mehr als eine gewisse Dosis läßt sich ein Untertan auch nicht gefallen, dann setzt er sich auf die Hinterbeine und schlägt um sich.

Exzellenz war wütend, und in seinem berechtigten Zorn sprach er zu seinem Adjutanten: „Ich werde selbst mit dem Herrn Major sprechen. Nein,” verbesserte er sich nach klugem Besinnen, „ich werde nicht selbst mit dem Herrn sprechen, denn ich glaube im Voraus zu wissen, daß das doch keinen Zweck hat, aber ich werde in den allernächsten Tagen das Regiment, dem der Major angehört, durch meinen Besuch erfreuen, ich werde die Truppe bei einer Gefechtsübung besichtigen, und bei dieser Gelegenheit werde ich dem Herrn Major ad oculos demonstrieren, daß er viel zu dick ist und folglich die moralische Verpflichtung hat, freiwillig zu gehen. Und geht er nicht freiwillig, dann brauche ich Gewalt, dann lasse ich alle Rücksicht auf seinen Bruder, auf den Chef des Stabes schwinden.”

„Na, na,” dachte der Adjutant, „wenn das nur wahr ist;” und er sah seinen Brotherrn mit einem Blick an, der deutlich seine Gedanken verriet.

Und Exzellenz bemerkte diesen Blick, er verstand ihn und ärgerte sich darüber: „Ich kenne dann keine Rücksicht mehr,” wiederholte er sehr bestimmt und energisch, „geht er nicht, dann muß er gehen, wenn es nicht anders geht, wenngleich es mir natürlich contre coeu ginge, ihn gehen lassen zu müssen.”

„Aha,” dachte der Adjutant, „er lenkt schon wieder ein. Ich bin begierig, wie sich die Sache entwickelt und wer als Sieger aus diesem Kampf hervorgeht.”

Die Neugierde des Adjutanten wurde auf keine harte Probe gestellt, denn schon am nächsten Tag sagte Exzellenz: „Wir werden morgen früh um drei Uhr fahren, wir sind dann um fünf dort, lassen sofort alarmieren und rücken dann gleich zu der Übung ins Gelände. Veranlassen Sie das Weitere und lassen Sie unsere Pferde rechtzeitig verladen.”

Der Adjutant war von diesen Worten nicht sonderlich erbaut, wenn er etwas auf der Welt haßte, war es das Aufstehen, und nun sollte er schon kurz nach Mitternacht aus dem warmen Bett herauskriechen. Das behagte ihm absolut nicht, aber zu stöhnen hatte es keinen Zweck, so schluckte er denn seine Klageseufzer herunter und traf am nächsten Morgen mit seinem Herrn um fünf Uhr in der Nachbargarnison ein. Nach einigen Minuten war die Kaserne erreicht, der Spielmann der Wache wurde herausgerufen, das Alarmsignal geblasen, und eine kleine Viertelstunde später jagten die Spielleute der Kompagnien zu Fuß durch die Stadt, um unter den Fenstern ihrer Vorgesetzten das liebliche Lied zu blasen: Alarm, Alarm.

Als der Spielmann, der den dicken Major mobil machen sollte, vor dessen Haus ankam, sah er den Vorgesetzten zu seinem höchsten Erstaunen im Garten auf- und abgehen. Der war soeben von einer etwas länglichen Kneiperei nach Hause gekommen, und bewunderte nun noch, wie er stets tat, seine Blumenbeete, ehe er sich schlafen legte.

Der Spielmann ging auf den Vorgesetzten zu.

„Was willst du, mein Sohn?”

„Ich soll Alarm blasen, Herr Major.”

Der Major befand sich in guter Stimmung, und so sagte er denn: „Wenn dir das befohlen ist, dann mußt du es auch ausführen. Also blas.”

„Zu Befehl, Herr Major.”

Und dreimal blies der Hornist dem Vorgesetzten, der ihm gegenüberstand, das Alarmsignal vor.

„So, mein Sohn, nun hast du die vorgeschriebenen Töne wohl von dir gegeben, nun erzähl' mir mal, warum sollst du denn Alarm blasen?”

„Exzellenz hält auf dem Kasernenhof.”

„Aha,” sagte sich der Herr Major, „ich will mich verpflichten, fortan wie die kleinen Kinder um sieben Uhr abends zu Bett zu gehen und nur noch Milch zu trinken, wenn dieser Besuch nicht mir gilt. Exzellenz denkt natürlich: Dick wie der Major Werner ist, wird er als letzter auf dem Kasernenhofe erscheinen, und ich kann ihm dann eine schöne Rede halten, daß man stets der erste, nie aber der letzte sein soll. Und ich werde der erste sein, Exzellenz, darauf können Sie sich verlassen.”

Er winkte dem Spielmann zu verschwinden und gab dann dem Burschen den Befehl, die Pferde zu satteln. Er selbst steckte seinen Kopf in die Waschschüssel, tief, ganz tief, dann kleidete er sich um und gleich darauf stieg er in den Sattel. Das wäre für ihn eine schwere Arbeit gewesen, wenn der kleine Tritt, den er gebrauchte, nicht gerade bis in die Höhe des linken Steigbügels gereicht hätte. So stieg er nur die kleine Leiter in die Höhe, schob den linken Fuß in den Bügel, schwank(1) das rechte Bein über den Sattel, und oben war er. Und war er oben, dann blieb er auch oben, abwerfen ließ er sich nicht, und heruntersteigen tat er freiwillig auch nicht.

„Mir nach,” befahl der Major seinem Burschen, und seinem mächtigen Gaul die Sporen gebend, jagte er im Galopp nach dem Kasernenhof, daß die Funken stoben.

Er wollte von allen Offizieren der erste sein, und er war der erste.

Der Herr Divisionskommandeur machte ein sehr erstauntes und keineswegs übertrieben erfreutes Gesicht, als der Herr Major plötzlich als Erster wie die wilde Jagd dahergestürmt kam.

„Sehr fatal,” flüsterte der hohe Herr seinem Adjutanten zu, und der nickte beistimmend mit dem Kopf; nach seiner Ansicht war die ganze Reise und der Alarm weiter nichts als höherer Mumpitz, man hätte ruhig zu Haus bleiben und ordentlich ausschlafen sollen, alles andere war ja Unsinn.

„Ich melde mich ganz gehorsamst zur Stelle, Exzellenz.” Tadeln konnte Exzellenz den Herrn Major nicht, loben wollte er nicht, so sagte er gar nichts und begnügte sich damit, dankend einen Finger der rechten Hand an den Helm zu legen.

Und wie der Herr Major der erste für seine Person war, so traten die Kompagnien seines Bataillons auch als erste an, das war ein Zufall, der den Herrn Major erfreute, Seiner Exzellenz aber die schlechte Laune nicht besonders verbesserte.

„Zu dick ist er doch,” dachte Se. Exzellenz schließlich, und er wurde in seinem Glauben bestärkt, als das Regiment bald darauf abrückte und als er den Herrn Major vor der Front seines Bataillons reiten sah. Der hatte sich nicht wie Doktor Martin Luther ein Bäuchlein angemästet, sondern deren drei, und dem entsprechend war auch sein breiter Rücken, mit dem er nicht nur die Sonne, sondern auch das ganze hinter ihm marschierende Bataillon verdunkelte.

Nach einem Marsch von zwei Stunden erreichte man den Rendezvousplatz, und dort gab Exzellenz die Gefechtsidee aus. „Meine Herren,” meinte er zum Schluß, „wir wollen uns bemühen, das Gefecht möglichst der Wirklichkeit entsprechend durchzuführen. Zu diesem Zweck werde ich im Verlauf der Übung die verschiedensten Annahmen machen, und ich bitte Sie denn, diesen meinen Annahmen gemäß schnell zu handeln.

Und die Annahmen begannen. Bald nahm Se. Exzellenz an, daß plötzlich und unerwartet starke feindliche Artillerie auftauche, bald nahm er an, daß die Beschaffenheit des Geländes das Vorgehen der eigenen Truppen verhindere oder erchwere, bald nahm er dies, bald jenes an, und der Adjutant und die Ordonnanz­offiziere jagten beständig durch die Welt, um dem Herrn Oberst und den anderen berittenen Offizieren die Annahmen Sr. Exzellenz zu überbringen. Mehr oder weniger fingen alle an nervös zu werden, denn man wußte nie so recht, was denn nur eigentlich los sei. Nur einer ließ sich absolut nicht aus seiner Ruhe herausbringen: das war der dicke Major; der saß behaglich auf seinem dicken Streitroß und traf seine Anordnungen so schnell und sicher, daß es eigentlich eine Freude war. Aber Exzellenz freute sich gar nicht darüber.

„Der Herr Major ist von einer geistigen Elastizität, die ich ihm nie und nimmer zugetraut hätte,” wandte er sich jetzt an seinen Adjutanten, „aber es kommt beim Militär doch nicht nur auf den Verstand an, auch das Äußere spielt eine nicht unbedeutende Rolle. Mit der Leibesfülle kann der Major doch nicht Oberst werden, da muß er doch oft durch seine Person das ihm unterstellte Offizierkorps repräsentieren, und das kann er doch nicht, seine Erscheinung fordert doch geradezu Spott und Hohn heraus. Er ist zu dick, und das will ich ihm jetzt beweisen.”

Exzellenz hatte einen guten Einfall und rief jetzt einen Ordonnanzoffizier herbei: „Reiten Sie zu dem Herrn Major und überbringen Sie ihm von mir die Annahme, daß sein Pferd durch einen Granatschuß getötet sei.”

Der Leutnant jagte davon, und Exzellenz rieb sich vergnügt die Hände: „Der Herr Major muß jetzt heruntersteigen, das wird ewig und zwei Stunden dauern, und ich kann ihm dann hinterher mit vollem Recht sagen: ,Das geht nicht, Herr Major, Se. Majestät kann nur solche Offiziere gebrauchen, die körperlich gewandt sind.' Das wird der Herr Major einsehen und infolgedessen gehen. Nun wollen wir es uns einmal ansehen, wie der Herr Major heruntersteigt.”

Exzellenz stellte sich sein Fernglas ein, um den Vorgang möglichst genau beobachten zu können, aber der dicke Major rührte sich nicht, er blieb ruhig auf seinem Gaul sitzen.

„Befehl überbracht,” meldete in diesem Augenblick der Ordonnanzoffizier.

„Reiten Sie noch einmal zu dem Herrn Major hin und überbringen Sie ihm nochmals die Annahme, daß sein Pferd erschossen sei, und fragen Sie ihn, warum er nicht abstiege.”

Der Leutnant jagte davon, um schon nach einigen Minuten zurückzukommen.

„Der Herr Major sitzt ja noch oben,” tobte Exzellenz. „Haben Sie ihm denn die Annahme nicht überbracht?”

„Zu Befehl, Exzellenz.”

„Und warum steigt der Herr Major denn nicht ab?”

„Da sein Pferd nur in der Annahme totgeschossen ist, ist der Herr Major auch nur in der Annahme abgestiegen.”

Exzellenz war starr, einfach starr, dann aber gab er es definitiv auf, den dicken Major hereinzulegen, und dieser blieb auch fernerhin in Amt und Würden.


Fußnote:

(1) In der Fassung von „Die Frau Oberst” heißt es hier: „schwang”. (Zurück)


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