Christa.

Humoristisch-satirische Plauderei von Freiherr von Schlicht
in: „Wenn die kleinen Mädchen treu sind”


Darüber war sich die schöne Christa, wie sie neidlos nicht nur von ihren besten Freundinnen, sondern erst recht voller Neid von den anderen jungen Mädchen, die nicht zu ihren Freundinnen zählten, früher immer genannt wurde, schon immer einig gewesen, wenn sie einmal heiraten sollte, würde sie ihrem späteren Mann ewig treu bleiben, und solange ihr Mann lebte, würde sie niemals und unter gar keinen Umständen jemals in irgendwelchem Zusammenhang auch nur vorübergehend an irgendeinen anderen Mann denken. Das alles entsprach ihrer ehrlichsten Überzeugung, und sie begriff gar nicht, wie andere junge Mädchen anders denken und sogar mit der festen Absicht in die Ehe treten konnten, neben ihrem eigenen Manne auch noch andere Männer, wenn natürlich auch nur in allen Ehren und nur zum Flirten und Kokettieren, als Hausfreunde haben zu wollen. Über diesen Punkt hatte sie sich mit ihren Freundinnen bei Kuchen und Schlagsahne oft genug herumgestritten, ohne daß eine Einigung über die verschiedenen Ansichten erzielt worden wäre, bis man sich schließlich dahin entschied, es könne eine jede in ihrer Ehe nach ihrer Fasson selig werden. Um aber so oder so selig zu werden, brauchte man in erster Linie einen Mann, und den hatte die schöne Christa nun bekommen, denn sie war selbst zum Neid ihrer allerbesten Freundinnen nun schon ganz lange verheiratet. Wie lange eigentlich schon? Frau Christa richtete sich in ihrem Bett auf und warf einen Blick auf die goldene Armbanduhr, die auf dem Nachttisch lag. Die Zeiger wiesen auf neun Uhr vormittags. Da war sie also schon — aber nein, aus dem Kopfe wußte sie das nicht, das mußte sie erst an den sehr schönen, schlanken, wundervoll geformten Fingern abzählen, und als sie das getan hatte, wußte sie auch die Antwort. Sie war schon einundzwanzig Stunden verheiratet, eigentlich sogar noch länger, denn sie standesamtliche Trauung war gestern vormittag bereits um elf Uhr gewesen, aber die zählte nicht mit, obgleich sie bei der ein neues, geradezu herrlich sitzendes Jackenkleid getragen hatte. Aber trotzdem, es war außer ihrem Harry und den beiden Trauzeugen, von denen der alte Onkel Eduard noch dazu dreiviertel blind war, niemand zugegen gewesen, der sie und ihr Kleid hätte bewundern können. Nein, die richtige Zeitrechnung für ihre Ehe begann erst gestern mittag um zwei Uhr, als sie unter den feierlichen Klängen der Orgel am Arm ihres Harry die mehr als überfüllte Kirche betrat. Das waren nun schon neunzehn Stunden her, es war geradezu unglaublich, wie die Zeit verging. Schon neunzehn Stunden, und auf der anderen Seite doch erst neunzehn Stunden. Was hatte sich in denen nicht alles abgespielt! Zuerst die kirchliche Trauung, dann die Entgegennahme der Glückwünsche, von denen wenigstens einige aufrichtig gemeint zu sein schienen, und der kleine Leutnant Karl Otto von Recklinghausen hatte es sogar ganz bestimmt ehrlich gemeint, denn der hatte ihre Hand gar nicht wieder losgelassen und sie dabei so traurig angesehen, daß ihr der liebe kleine Kerl von ganzem Herzen leid tat. Ach ja, sie wußte, wie er sie geliebt hatte, und wie er sie auch heute noch liebte, und wenn alles im Leben so ginge, wie man es sich wünschte, und wenn der hübsche Leutnant anstatt seiner Schulden Vermögen besessen hätte, und wenn sie selbst ihrem Mann etwas anderes mit in die Ehe hätte bringen können als nur ihre Schönheit, vielleicht, nein, sehr wahrscheinlich, daß ihr heißgeliebter Harry da heute gar nicht Harry, sondern Karl Otto hieß. Aber nein, so etwas durfte sie nicht denken, sondern nur an das, was sich weiter in den letzten neunzehn Stunden für sie ereignet hatte. Nach der Beglückwünschung das große Essen, bei dem die Küche und der Keller des ersten Hotels das Allerbeste boten. Bei dem Essen unendlich viele, meistens sehr langweilige Reden, und nach dem Essen ein großer Ball, an dem sie sehr gern teilgenommen hätte, aber das ging nicht, weil ihr Zug ging, mit dem sie und ihr Harry auf die Hochzeitsreise fuhren. Natürlich war man gestern nicht sehr weit gefahren, sondern hatte schon nach zwei Stunden hier in der Stadt haltgemacht und das Hotel aufgesucht, in dem schon tagelang vorher das Zimmer bestellt war. Das Zimmer! Ihr persönlich wäre es viel lieber gewesen, wenn es zwei Zimmer gewesen wären. Sie hätte sich neben dem gemeinsamen Schlafzimmer wenigstens noch einen Ankleide- oder richtiger gesagt einen Auskleideraum gewünscht, denn wenn sie auch absolut nicht prüde war, so empfand sie doch eine gewisse Verlegenheit bei dem Gedanken, sich in Gegenwart ihres Mannes zum erstenmal ausziehen zu sollen. Der Gedanke war ihr sogar immer peinlich gewesen, selbst als sie noch gar nicht verlobt war, aber trotzdem zuweilen schon an ihre spätere Hochzeitsnacht dachte. Und damit ihr Mann da nicht mehr von ihr sähe, als sie ihm unbedingt zeigen mußte, hatte sie sich eines Tages, als sie bei Verwandten in Berlin zum Besuch war, in einem der allerersten Wäschegeschäfte Unter den Linden heimlich und verstohlen ein Hochzeitsnachtgewand gekauft. Das hatte nicht nur für ihre Verhältnisse ein kleines Vermögen gekostet, sondern ihre ganzen Ersparnisse waren draufgegangen, aber dafür war das Nachthemd auch ein Gedicht aus dem allerdünnsten Batist und den schönsten Spitzen. Wie ein Heiligtum hatte sie dieses Kleinod gehütet, es keinem Menschen, nicht einmal ihrer Mutter, gezeigt, und sie hatte voller Ungeduld dem Tage, oder richtiger gesagt der Nacht entgegengesehen, in der sie es zum erstenmal anlegen konnte, und wenn es erst soweit war, würde es sicher seinen Zweck erfüllen. Ihr späterer Mann würde ebenfalls von der märchenhaften Schönheit dieses Gewandes hingerissen sein, er würde sie in dem so schön und begehrenswert finden wie noch nie. Aber es war ganz wesentlich anders gekommen, als sie es sich dachte, denn als es nun gestern abend soweit war, da sah ihr Harry nicht, welch wundervolles Märchenhemd sie anhatte, sondern er sah nur, daß sie eins anhatte.

Und dann, und dann, und dann — dann wußte sie eine Zeitlang gar nichts mehr, aber als sie sich dann wieder auf sich selbst besann, war sie inzwischen seine Frau geworden. Und das war sie sehr gern geworden, und sie war es auch jetzt noch sehr gern, und sie würde es auch in Zukunft immer sehr gern sein, denn sie liebte ihren Karl Otto, ach nein, ihren Harry doch über alles, aber darüber täuschte sie sich nicht, sie würde ihn noch viel, viel mehr lieben, wenn er am Abend schön das Hemd nach Gebühr bewundert hätte. Daß er das nicht tat, das fraß an ihr, das betrachtete sie als eine ihr zugefügte Beleidigung, oder wenn auch das nicht, wie hatte er ihr nur so die Freude verderben können? Er mußte ihr doch anmerken, wie stolz sie auf diesen ihren Besitz war. Ahnte er denn nichts davon, wie oft sie schon als junges Mädchen heimlich dieses Hemd vor dem Spiegel anzog und wie sie sich immer wieder fragte: „Was wird dein späterer Mann nur sagen, wenn er dich eines Abends so sieht, wenn du dich ihm in diesem dünnen Gewebe, das eigentlich mehr verrät als verhüllt, zu eigen gibst?” Hatte er sich denn gar nicht darüber gewundert, wie sie zu dieser Kostbarkeit kam, und mußte es nicht auch ihn rühren, daß sie die paar hundert Mark, die sie persönlich ihr eigen nannte, schon vor Jahren für ihn ausgab, um ihm dadurch eine solche Freude zu bereiten? Das heißt, an ihn persönlich hatte sie bei dem Einkauf natürlich nicht gedacht, denn damals kannten sie einander noch gar nicht, sie lernte ihn erst kennen, als er, der in einer großen norddeutschen Handelsstadt die glänzend bezahlte Stellung eines Syndikus bei einer sehr angesehenen Handelsgesellschaft bekleidete, sich teils zur Erholung, teils aus geschäftlichen Gründen vorübergehend in der kleinen Stadt aufhielt, in der sie mit ihrer Mutter wohnte. Für ihn war es eins gewesen, sie zu sehen und sich in sie zu verlieben, und auch sie hatte sich sofort in ihn verliebt, denn er war nicht nur reich, sondern er war auch sehr hübsch, ganz so, wie sie sich ihren späteren Mann immer erträumt hatte: groß, schlank, kräftig und muskulös, mit einem klugen, intelligenten Gesicht, mit lachenden, dunkelblauen Augen, mit dichtem, schwarzen Haar und einem kräftigen Schnurrbart. Ach ja, er entsprach ganz dem Ideal, das sie sich früher äußerlich von ihrem Manne machte, wenn sie an den kleinen Leutnant dachte, den sie ja leider nicht heiraten konnte. Aber trotzdem, das hätte ihr Harry ihr nicht antun dürfen, daß er sie beinahe mit brutaler Gewalt zwang, das dünne Gewebe auszuziehen, wenigstens hätte er das vorher eine Stunde, oder wenn auch nicht das, so doch eine halbe Stunde lang bewundern müssen, und wenn nicht vorher, so doch wenigstens hinterher, als sie es wieder anzog. Auch jetzt hatte sie es noch an und streichelte es zärtlich mit den Händen, gleichsam, als wolle sie durch diese Liebkosung dem Gewand eine Genugtuung für die ihm widerfahrene Kränkung und Zurücksetzung zuteil werden lassen. Sie streichelte es zärtlich und voller Liebe, wie sie es eigentlich die ganze Nacht hindurch gestreichelt hatte, denn daran, daß sie hätte schlafen können, war natürlich nicht zu denken gewesen. Dazu hatte sie seit gestern mittag zuviel erlebt und durchgemacht. Das zitterte noch in ihr nach, und wenn sie auch für einen kurzen Augenblick die Augen geschlossen hatte, so war sie doch schon nach wenigen Minuten wieder wach geworden, das auch schon deshalb, weil ihr Mann in seinem Bett, das unmittelbar neben dem ihrigen stand, so fürchterlich schnarchte, daß sie sich im Verlaufe der stillen Nacht oft gefragt hatte: „Ob der hübsche, kleine Leutnant wohl auch so geschnarcht hätte, wenn er ihr Mann geworden wäre?” Ja, ob der überhaupt in der ersten Nacht an ihrer Seite geschlafen haben würde? Wäre es nicht viel hübscher und stimmungsvoller gewesen, wenn ihr Mann sie die Nacht hindurch in seinen Armen gehalten, sie geküßt und ihr etwas recht, recht Hübsches erzählt hätte? Etwa, wie ihm zumute war, als er sie, seine jetzige liebe, kleine Frau, zum erstenmal auf der Straße sah. Aber nein, das waren alberne Backfisch- oder wenigstens törichte Brautgespräche. Nun aber war sie junge Frau, da hätte er ihr von seinen früheren Freundinnen erzählen müssen, wie die hießen, wie die aussahen, und vor allen Dingen, wie viele er schon vor ihr in seinen Armen gehalten hätte, ob zwei oder drei, oder ob gar zwanzig oder dreißig. Nein, so viele natürlich nicht, denn er war doch schließlich kein Pascha, wo hätte er wohl alle die jungen Mädchen hernehmen sollen, die sich ihm aus Liebe hingaben, denn daß ihr Mann, ihr geliebter Harry, sich jemals mit Mädchen eingelassen haben sollte, deren Liebe käuflich war, das war natürlich ganz ausgeschlossen. nein, solche Mädchen hatte er sicherlich nie kennengelernt, dafür aber wohl desto mehr andere. Ihm war der intime Verkehr mit einem weiblichen Wesen sicherlich etwas schon oft Dagewesenes und längst Bekanntes, denn wie hätte er sonst wohl die ganze Nacht an ihrer Seite schlafen und schnarchen können, als habe sich zwischen ihnen beiden gar nichts Besonderes abgespielt.

Die Nacht an und für sich mußte für ihn wohl wirklich nichts Besonderes gewesen sein, aber es war doch schließlich das erstemal gewesen, daß er sie, gerade sie in seinen Armen hielt, und daß das gar keinen tieferen Eindruck bei ihm hinterließ, daß er da hinterher sofort einschlafen und sogar schnarchen konnte, das empfand sie nach ihrer ehrlichsten Überzeugung mit vollem Recht als eine Beleidigung. Wenn er nur wenigstens nicht geschnarcht hätte, denn dieses Schnarchen bewies ihr, daß er nicht einmal von ihr träumte, und so viel wußte sie, sie hatte ihren Harry gewiß lieb, schon weil der sie und keine andere geheiratet hatte, und sie würde ihren Mann auch ewig weiterlieben und ihm stets eine treue Gattin sein, aber trotzdem, wenn sie das geahnt hätte, daß er so schnarchte, und wenn sie sich vorstellte, daß ihr Harry, der jetzt erst fünfunddreißig Jahre alt war und sich der denkbar besten Gesundheit erfreute, vielleicht noch fünfzig Jahre lang Nacht für Nacht an ihrer Seite so weiterschnarchen sollte, nein, dann hätte sie ihn doch nicht genommen, sondern hätte lieber gewartet, bis ihr hübscher, kleiner Leutnant Hauptmann erster Klasse war, dann hätten sie sich heiraten können, weil sie da kein Kommißvermögen nachzuweisen brauchten.

Frau Christa schauderte bei dem Gedanken an die zahllosen ihr noch bevorstehenden Schnarchnächte zusammen. Ach wie wenig kannte man doch eigentlich vor der Ehe den Mann, den man nur, aber auch nur aus Liebe heiratete, und so viel wußte sie, wenn sie einmal Witwe werden und als solche wieder heiraten sollte, dann würde sie als erstes ihren zweiten Mann, bevor der ihr Mann würde, fragen: „Schnarchst du auch?” Und wenn er „ja” sagte — aber natürlich würde er nicht „ja” sagen, denn wo wäre der Mann, der in einem solchen Falle die Wahrheit eingestände? Das täte ihr zweiter Mann höchstens, wenn sie ihm erklärte, daß auch sie schnarche. Aber erstens tat sie das nicht, und zweitens würde sie das unter allen Umständen leugnen, denn sie war doch eine hübsche, junge, elegante Frau, die unmöglich eine solche entsetzliche Angewohnheit haben und diese erst recht natürlich niemals eingestehen konnte.

Wieder warf Frau Christa einen Blick auf die Uhr. Nun war es schon halb zehn Uhr, die Sonne schien bereits hell in das Zimmer, und ihr Mann schlief immer noch, während sie ihr hübsches Nachthemd streichelte und darüber nachdachte, ob ihr zweiter Mann wohl auch schnarchen würde? Bis sie sich jetzt dessen, was sie tat und was sie dachte, beinahe schämte, denn sie hatte doch nicht ihr Nachthemd und nicht ihren zweiten Mann geheiratet, sondern ihren Harry, ihren ersten Mann, und dem allein gehörten ihre liebkosenden Hände und erst recht ihre Gedanken. So wandte sie sich jetzt dem zu und sah ihm so lange in die Augen, bis er das selbst im Schlaf merkte und endlich davon erwachte, um sie dann gleich wieder in seine Arme zu nehmen. Und dieses Mal gab sie sich ihm voller Liebe hin, denn er fand plötzlich, sie sähe in dem Nachtgewand besonders hübsch und verführerisch aus, und Frau Christa war glücklich über seine Worte, weil sie noch zu unerfahren war, um zu wissen, daß nichts so unbeständig ist wie der Geschmack der Männer, wenn sie eine Frau begehren. Was die gestern abstieß, reizt sie heute und läßt sie morgen ganz kalt.

Frau Christa war glücklich, und sie blieb es auch während der ganzen Zeit ihrer Hochzeitsreise, nur mit dem Schnarchen ihres Mannes vermochte sie sich trotz aller Liebe zu ihm nicht auszusöhnen, aber sie brachte es doch nicht über das Herz, ihn zu bitten, er möge ihr ein eigenes Schlafzimmer geben lassen. Das aber bekam sie, als die Hochzeitsreise endlich, aber doch für beide Teile viel zu früh, ihren Abschluß fand, weil seine Geschäfte ihn zurückriefen, und sie war sprachlos vor Freude und vor Überraschung, als sie ihre neue Wohnung sah, die sie bei dieser Gelegenheit zum erstenmal betrat. Mit der hatte er sie überraschen wollen, das sollte sein Hochzeitsgeschenk für sie sein, und dabei hatte er ihr doch schon so vieles andere geschenkt. Aber was war das alles gegen diese Flucht von Zimmern, von denen eins immer hübscher, aber womöglich immer noch wärmer und behaglicher eingerichtet war als das andere. Nein, daß sie in ihrem Leben noch einmal so schön wohnen würde, hätte sie nie, niemals geglaubt, aber am schönsten waren nach ihrem Geschmack doch die beiden großen, hellen Schlafzimmer mit den breiten, herrlichen Reformbetten, mit den großen Waschtischen, in denen kaltes und warmes Wasser floß, mit den großen Kleiderschränken, den großen Spiegeln, den weichen Teppichen, die den ganzen Boden bedeckten, und der sonstigen prachtvollen Einrichtung. Aber das nicht allein, neben dem eigenen Schlafzimmer hatte jeder von ihnen seinen Ankleideraum und sein eigenes Badezimmer. Ach, es war einfach zu schön, nun konnte ihr Harry schnarchen, ,soviel er wollte, sie würde es nicht hören, und in diesem herrlichen Bett konnte sie des Abends, wenn er ihr gute Nacht gesagt hatte, vor sich hin träumen, soviel sie wollte, ohne sich dabei durch seine Gegenwart gewisse Einschränkung auferlegen zu müssen. Nun aber, da er sie des Nachts nicht mehr störte, würde sie wachend und schlafend nur noch von ihm träumen, denn sie hatte ihn doch über alles lieb, schon weil er gerade sie geheiratet hatte und weil er so reich war, viel reicher noch, als sie es glaubte, denn diese Wohnung stellte ja ein großes Vermögen vor. Bis sie sich nun plötzlich schämte, daß sie überhaupt an sein Geld dachte, denn die wahre Liebe fragt doch gar nicht danach, ob ein Mann reich oder arm ist, aber sehr angenehm war es trotzdem, daß ihr Harry über so große Mittel verfügte, und es freute sie immer aufs neue, daß er gerade sie geheiratet hatte, obgleich sie ihm weiter nichts mit in die Ehe brachte als nur ihre Schönheit, ihre mehr als mittelgroße schlanke Figur mit dem untadelhaften Wuchs, in dem selbst ein Bildhauer nichts auszusetzen gehbt hätte, dazu das entzückende Gesicht mit den rehbraunen Augen, der feinen Nase, dem reizenden Mund mit den roten Lippen und den schneeweißen Zähnen. Ja, ja, hübsch war die schöne Christa mit ihrem dichten dunklen Haar, mit den feingeschwungenen Augenbrauen, mit den schlanken, vornehmen Händen und Füßen. Ja, hübsch war sie, aber den Beinamen „die schöne Christa” hatte sie wohl eigentlich nie verdient, dafür war alles an ihr zu lebendig und natürlich, und deshalb hatte sie sich auch stets gegen das Prädikat „schön” zu sein gewehrt. Ihr persönlicher Ehrgeiz ging mehr dahin, hübsch und begehrenswert zu erscheinen, und daß sie das war, das wußte sie natürlich, und wenn sie es nicht gewußt hätte, würde ihr das die Tatsachen bewiesen haben, daß gerade ihr Harry um sie warb, obgleich der bei der Stellung, die er bekleidete, und bei dem Einkommen, über das er verfügen mußte, sicher auch eine reiche Frau gefunden hätte. Statt dessen nahm er sie, seine Christa, nur ihres Äußeren wegen, und das schmeichelte ihr, das bewies ihr, wie lieb ihr Mann sie haben, oder auch, wie hübsch sie sein mußte. Sicher noch sehr viel hübscher, als sie es selbst bisher glaubte. Aber so sehr sie das beides auch erfreute, etwas bekümmerte es sie trotzdem, und zwar weil sie sich absolut nicht klar darüber werden konnte, was sie am meisten beglückte: daß ihr Harry sie so lieb hatte, oder daß sie so hübsch war. Um aber eine Antwort darauf zu finden, stellte sie sich eines Tages die Frage: Was könntest du leichter ertragen: ohne die Liebe deines Harry oder ohne dein hübsches Äußere leben zu müssen? Was dann, wenn du eines Tages durch das Geschick vor die Wahl gestellt würdest, entweder deinen Mann, oder durch irgendeine Krankheit dein verführerisches Äußere zu verlieren? Wofür würdest du dich entscheiden? Ihr erster Gedanke war selbstverständlich: „Dein Harry muß am Leben bleiben, was solltest du wohl ohne ihn anfangen? Es wäre doch auch sehr die Frage, ob du nach seinem Tode diese große Wohnung beibehalten könntest; aus der müßtest du vielleicht ausziehen und dich kleiner einrichten. Nein, nein, dein Harry darf nicht sterben, obgleich er dir erst letzthin erzählt hat, daß er sich mit einem außerordentlich hohen Betrag, der dir nach seinem Tode zufallen würde, bei einer Lebensversicherung eingekauft hat. Aber trotzdem darf er nicht von dir gehen, niemals! Tausendmal lieber verzichtest du darauf, weiterhin hübsch zu sein, viel lieber willst du alt und häßlich werden.” — Aber nein, das war auch nicht das richtige, denn wenn sie ihrem Harry dieses Opfer ja auch gern bringen möchte, nein, es war vielleicht doch besser, wenn er da starb, denn was sollte er wohl mit einer häßlichen Frau anfangen? Anstatt ihn wie bisher um sie zu beneiden, würde man ihn in Zukunft bemitleiden und beklagen, und das würde ihm auf die Dauer nicht gefallen. Aber davon abgesehen, hatte sie ihn viel zu lieb, um ihn jemals dem auszusetzen, daß er bemitleidet würde. Viel eher würde sie ihn um seiner selbst willen sterben lassen, da nahm er wenigstens die Erinnerung an ihre Schönheit mit in das Grab, und ihm blieb die grenzenlose Enttäuschung erspart, es mit ansehen zu müssen, wie ihr Gesicht sich entstellte. Und je länger sie darüber nachdachte, desto klarer wurde es ihr, sollte das Geschick sie wirklich jemals vor eine so schwere Frage stellen, dann durfte sie da nicht an sich, sondern sie mußte da nur an ihren Harry denken und mußte den sterben lassen, nicht, weil sie ihn nicht liebte, sondern weil sie ihn über alles liebte. Und aus diesem Opfer, das sie sich da brachte, würde die Welt wieder einmal sehen können, daß es selbst in der jetzigen Zeit doch noch eine Liebe gäbe, wie sie selbstloser gar nicht gedacht werden könne.

Bis sie sich dann damit tröstete, daß das Schicksal eine solche Frage noch nicht an sie gestellt hatte und das voraussichtlich auch in den nächsten fünfundzwanzig Jahren nicht tun würde. Da brauchte sie sich weiter keine dummen Gedanken zu machen, sondern konnte sich ruhig des Glückes freuen, so hübsch zu sein. Und dessen freute sie sich täglich, ohne deswegen eitel zu werden. Zu dieser schlechten Eigenschaft hatte sie glücklicherweise gar kein Talent, dazu war sie auch nicht dumm genug, sie blieb frisch, einfach und natürlich in ihrem Wesen, das auch schon deshalb, weil sie wußte, daß ihr das am besten stand und daß gerade dadurch die Zahl ihrer Verehrer und Courmacher ständig wuchs, denn das hatte sie sofort, als ihr Harry sie an ihrem neuen Wohnort in der Gesellschaft einführte, mit freudigem Stolz bemerkt, daß ihre Erscheinung Aufsehen erregte, und daß unter den Herren viele, viele waren, die sich ein großes Vergnügen daraus gemacht haben würden, mit ihr ein klein wenig Ehebruch zu treiben, weil die sehr ernstlich den Standpunkt vertraten, daß eine schöne Frau nicht für einen Mann, sondern für die Männer im allgemeinen da sei. Aber wenn sie auch die Blicke, mit denen die Herren sie ansahen, und die Worte, die sie ihr leise zuflüsterten, sehr deutlich verstand, und wenn sie sich auch im stillen über die entsetzte, mit dem innerlichen Entsetzen war es doch nicht allzu weit her, denn es belustigte sie außerordentlich, daß man ihr zumutete, sie könne ihrem Mann jemals untreu werden. Um einen solchen Schritt zu begehen, lag für sie nicht die geringste Veranlassung vor, denn ihr Harry hatte sie über alles lieb, sie liebte ihn wieder, er war reich, sie hatte eine sehr hübsche Wohnung, eine ausgezeichnete Köchin, eine glänzende Zofe, und wer konnte wissen, ob das alles so blieb und ob sie alle Bequemlichkeiten, die sie jetzt umgaben, beibehielt, wenn sie ihren Mann jemals betrog und wenn das später herauskommen sollte. Und damit, daß es eines Tages herauskam, mußte sie als kluge Frau doch rechnen.

Nein, sie dachte nicht daran, ihren Mann jemals zu betrügen, ihr Harry liebte sie über alles, und sie liebte ihn wieder, ja, ihre Liebe zu dem hatte sogar noch zugenommen, seitdem sie letzthin die Nachricht erhielt, daß ihr früherer hübscher, kleiner Leutnant, der ihr einst geschworen hatte, sie oder keine heiraten zu wollen, sich nun doch mit einer anderen verlobt habe. Da sah man es einmal wieder, die Männer taugten alle nichts, und auch sie hatte ihre frühere Liebe einem Unwürdigen geschenkt. Nur ein Glück, daß der nicht reich genug gewesen war, sie um ihre Hand bitten zu können, denn wenn er ihr jetzt nicht einmal die Treue hielt, wer konnte wissen, ob er ihr da treu geblieben wäre, wenn sie seine Frau geworden wäre? Dann vielleicht, nein, dann sicher erst recht nicht, denn wenn er sie wirklich geliebt hätte, da hätte er darauf warten müssen, ob sie nicht durch einen unglücklichen Zufall vielleicht viel schneller, als er es dachte, Witwe würde. Ach, und wie schön und wie sorglos hätte sie dann sein Leben gestalten können. War es wirklich nur ein Zufall gewesen, daß sie sofort an ihn dachte, als ihr Mann ihr erzählte, wie hoch er sich für sie in die Lebensversicherung einkaufte, so hoch, daß sie davon ganz geührt war und daß sie ihm schon deshalb in Tränen ausbrechend um den Hals fiel, während sie ihm mit erstickter Stimme zurief: „Sprich mir nicht von deinem Sterben, Harry, ich kann und will es nicht mit anhören, was du da sagst. Was sollte wohl aus mir werden, wenn du mich jemals verließest?” Ihr waren die Tränen wirklich nicht nur aus den Augen, sondern aus dem Herzen gekommen, denn die Versicherungssumme war doch schließlich eine ganze Menge Geld und gab, wenn man das Kapital nicht zu dumm anlegte, im Jahre ein ziemlich erkleckliches Sümmchen an Zinsen, und außerdem hatte sie doch ihren Harry über alles lieb. Und trotz ihrer Tränen hatte sie gleich an ihren hübschen, kleinen Leutnant gedacht. Hatte der das um sie verdient? Darauf gab es jetzt nur eine Antwort: Nein, er hatte es nicht um sie verdient, und je eher sie ihn aus ihrem Gedächtnis und aus ihrer Erinnerung tilgte, desto besser. So tilgte sie denn, und als sie getilgt hatte, war sie glücklich, nun hatte sie ihren Harry noch viel, viel lieber als bisher, aber schade war es eigentlich doch, daß sie nun gar nicht mehr an den hübschen, kleinen Leutnant denken durfte, wenn sie sich dadurch nicht vor sich selbst etwas vergeben wollte. Er war ein Treuloser, sie aber war eine treue Frau. Sie war treu, sie würde es ewig bleiben, und trotzdem, oder gerade deshalb hatte sie ihren Harry bisher zuweilen etwas mit dem kleinen Leutnant betrogen. Natürlich nur in Gedanken, nur in allen Ehren und nur im Scherz und eigentlich ganz, ohne es zu wollen. Aber eines Abends war es ganz plötzlich über sie gekommen. Sie hatte sich hingelegt und wartete auf ihren Mann, damit er ihr den letzten Gutenachtkuß gäbe, und als sie so dalag und wartete, da dachte sie plötzlich: Es wäre doch eigentlich zu komisch, wenn jetzt statt deines Harry dein kleiner Leutnant zu dir in das Schlafzimmer träte. Und im Zusammenhang damit war sie neugierig geworden, ob er bei dieser Gelegenheit wohl ein weißes Nachthemd oder einen modernen, hübschen Schlafanzug tragen würde. Sicher ein Nachthemd, denn um sich selbst des Nachts nach der neuesten Mode zu kleiden, fehlten ihm die Mittel, und schon deshalb tat er ihr so leid, daß sie auch noch weiter an ihn dachte, als ihr Mann bei ihr eingetreten war, um ihr den Gutenachtkuß zu geben. Und als er sich dann nicht mit dem einen Kuß begnügte, da dachte sie erst recht an ihn. Natürlich nicht an ihren Mann, das heißt an den auch, schon weil der sie in seinen Armen hielt, aber sie dachte eigentlich erst recht an den hübschen, kleinen Leutnant, und sie dachte daran, ob der wohl in diesem Augenblick auch gerade zufällig an sie dächte, und ob er wohl jetzt ein hübsches, kleines Mädchen in seinen Armen hielte, und sie dachte so viel, daß sie schließlich gar nicht mehr wußte, an wen und an was sie dachte, aber gerade das hatte dem Gutenachtkuß einen neuen, ihr bisher völlig fremden Reiz verliehen, und da die Reize das Reizen nun einmal so an sich haben, reizte es sie, das, was sie in der letzten Nacht erlebte, baldmöglichst wieder zu erleben.

Aber trotzdem, es war nur gut, daß der kleine Leutnant sich mit einer anderen verlobte, da durfte sie gar nicht mehr an den denken, und ihr Harry hatte ihr auch eine wundervolle Perlenkette gekauft. Die war einfach herrlich und kostete zweitausend Mark mehr als die Perlenschnur, mit der ihre Freundin Lilli, die Frau eines Rechtsanwaltes, soviel spielte, wenn sie bei ihr zum Besuch war. Dieses Spielen mit der Kette hatte sie schon längst nervös gemacht, einmal, weil das nach ihrer Ansicht ungebildet und protzenhaft war, dann aber auch, weil sie selbst noch keine Perlen besaß, mit denen sie spielen konnte. Nun aber hatte sie welche und wollte und konnte der Lilli etwas vorspielen, daß die sehr bald vor Neid in allen Regenbogen­farben schillern würde. Und als die dann, während sie zusammen bei ihr den Tee tranken, zum erstenmal geschillert hatte, da gab sie sich am Abend ihrem Mann mit solcher Liebe und solcher Leidenschaft hin, daß er es lebhaft bedauerte, nicht so reich zu sein, um alle ihre Freundinnen schillern zu lassen, denn sie hatte ihm natürlich anvertraut, weshalb sie ihn heute noch viel, viel lieber habe als sonst. Ja, schon um dieser Perlenkette willen durfte sie nie wieder, wenn auch nur im Scherz, an den kleinen, hübschen Leutnant denken, und damit sie das auch ganz gewiß nie wieder täte, vernichtete sie eines Tages das Bild, das er ihr vor Jahren schenkte, sie riß das Bild in tausend Fetzen, das heißt, eigentlich waren es nur zwei Fetzen, und der eine Fetzen war lediglich ein kleines Stück von dem die Photographie umgebenden Pappstreifen. Das Bild selbst blieb unversehrt, aber trotzdem, es war vernichtet, und deshalb warf sie es auch nicht weg, damit die Dienstboten sich über diesen Fund nicht etwa ihre Gedanken machen könnten, sondern sie schloß das einstige Bild in ihren Schreibtisch, während es bisher in einer der vielen Kommodenschubladen gelegen hatte.

Ja, sie durfte ihren Harry nie, nie wieder, wenn auch nur im Scherz, betrügen, und von dem Tage an, da der kleine Leutnant sich verlobte, war der wirklich vollständig für sie erledigt, und die anderen Herren, die sie hier in der Stadt kennenlernte, waren und blieben ihr vollständig gleichgültig, so daß die schließlich jeden weiteren Versuch, ihre Gunst zu erringen, aufgaben. Das auch schon deshalb, weil ihnen die Sache langweilig wurde, denn sie kannten Frau Christa nun bald drei Jahre, ohne daß sie in dieser Zeit auch nur das geringste bei ihr erreicht hätten. Da gaben die Herren schließlich das Rennen um sie auf und überließen es ihr, nach ihrer Fasson mit ihrem Gatten allein glücklich zu werden und glücklich zu bleiben.

Und Frau Christa war und blieb glücklich. Sie hatte ihren Harry doch über alles lieb, und wie lieb sie ihn hatte und wie glücklich sie mit ihm war, das merkte sie eines schönen Wintertages auf der Mittagspromenade, als sie dort einem ebenso auffallend hübschen wie tadellos gekleideten Herrn begegnete, der keinen Blick von ihr abwandte, so daß sie ihren Harry schon deshalb besonders liebhatte, weil der ihr den herrlichen Breitschwanzmantel mit dem großen Breitschwanzmuff. die sie heute trug, letzthin zu ihrem Geburtstag schenkte, so daß auch der Fremde, denn ein solcher konnte es nur sein, ihr im stillen das Zeugnis ausstellen mußte, ebenso vornehm einfach wie elegant gekleidet zu sein. Und zu ihren Pelzsachen der hübsche Winterhut, der kurze, aber auch nicht zu kurze Rock, unter dem ihre schlanken, schmalen Füße in einem Paar Lackstiefel mit dunklem Tucheinsatz hervorsahen. Ja, ja, Frau Christa wußte es selbst, daß sie auch heute wie immer sehr gut angezogen war. Aber trotzdem hatte der Blick des Fremden nicht ihrer Kleidung, sondern nur ihr gegolten, das hatte sie sofort an der Art erraten, mit der der ihr in die Augen sah, bis er seinen Blick von ihren Augen immer tiefer hinabgleiten ließ bis zu ihrem großen Muff, gleichsam, als wolle er ihr dadurch zu verstehen geben, wie gern er ihr einmal die Hände, die in diesem Muff steckten, drücken oder gar küssen möchte. Solche Gedanken zu hegen, war von ihm natürlich sehr ungezogen, denn wer konnte wissen, ob er sich wirklich mit einem Handkuß begnügt hätte, und außerdem war er ihr doch noch gar nicht vorgestellt! Und daß sie seinen Blick nur duldete, weil sie sich gegen den nicht wehren konnte, sondern daß sie den, fast ohne es zu wollen, ein klein wenig erwiderte, gab ihm noch lange kein Recht, ihr gleich die Hände zu drücken oder gar küssen zu wollen. Aber trotzdem, der Fremde gefiel ihr, und ein Fremder mußte es sein. Er zeigte sich heute auf der Promenade sicher zum erstenmal, sonst müßte ihr seine hohe, schlanke Figur mit dem ebenso hübschen wie intelligenten Gesicht schon längst aufgefallen sein. Wer und was war er wohl nur? Ob er sich hier nur vorübergehend aufhielt? Das wäre schade, denn ohne eigentlich recht zu wissen weshalb, hätte sie gern seine persönliche Bekanntschaft gemacht. Er sah danach aus, als wenn er ein guter Gesellschafter und auch ein sehr guter Tänzer wäre. Wer und was war er wohl? Wo wohnte er? Privat oder in einem der ersten Hotels? Das und manches andere beschäftigte sie derartig, daß sie sich beinahe wie Gretchen fragte: „Wenn ich nur wüßt', wer heut' der Herr gewesen ist!” Aber sie war kein Gretchen, sie würde auch nie eins werden, und wer der Herr war, würde sie schon eines Tages erfahren, und wenn nicht, war es auch noch so, sie hatte doch ihren Harry! Aber gerade weil sie den hatte und weil sie dadurch die Gewißheit besaß, niemals auch nur die allerkleinste Dummheit zu begehen, lockte und reizte es sie immer mehr, Näheres über den Fremden zu erfahren, und teils aus diesen, teils aus anderen Gründen, weil sie ganz notwendige Einkäufe zu machen hatte, ging sie am nächsten Vormittag genau zu derselben Minute wie am Tage zuvor wieder denselben Weg, und sie hatte Glück. Nein, Glück war das für sie natürlich nicht, sondern lediglich ein ihr ganz gleichgültiger Zufall. Aber auf jeden Fall traf sie den Fremden wieder, der auch heute seinen ihm ausgezeichnet stehenden Zylinder und einen geradezu blendend schönen, langen Sealspelz trug. Und als sie sich begegneten, als er ganz dicht und ganz langsam an ihr vorbeiging, da sah er ihr wieder in die Augen, während er ihr zugleich leise und doch für sie verständlich zurief: „Der Muff!” Was er damit sagen wollte, wußte sie nicht recht, bis sie ihn zu verstehen glaubte. Er wollte ihr damit sagen, daß er noch nie bei einer anderen Dame einen so wundervollen Muff gesehen hätte, und das schmeichelte ihr, denn daß er sehr viel von Pelzsachen verstand und auf die sehr großen Wert legte, das bewies ja die Art, in der er sich selbst in seinen Pelz kleidete, aber trotzdem war es sehr ungezogen von ihm, daß er sie im Vorübergehen gleichsam ansprach. Was hätten die anderen davon denken sollen, wenn die es zufällig mit angehört hätten? Zum zweitenmal durfte er sich das ihr gegenüber nicht herausnehmen, das wollte sie ihm, wenn sie ihn morgen zufällig wieder treffen sollte, durch einen Blick ihrer Augen zu verstehen geben. Sie wollte ihn ansehen, bevor er Zeit und Gelegenheit fände, sie anzusehen, und alles, was sie ihm am liebsten mündlich gesagt hätte, würde er in ihren Augen lesen können, eine zwar kurze aber inhaltsreiche Abhandlung über das Thema: „Ich bin und bleibe meinem Mann treu, und wenn Sie mir erzählen wollen, daß ich nach Ihrem Geschmack gut angezogen gehe, dann suchen Sie bitte erst eine Gelegenheit, sich mir vorstellen zu löassen, so vorübergehende Unterhaltungen auf der Gasse liebe ich nicht. Das lassen sie sich bitte ein für allemal gesagt sein, mein Herr. Und außerdem, wer sind Sie denn überhaupt?”

Frau Christa hatte sich ihre sehr energische Strafrede für ihre Augen vor dem Spiegel genau einstudiert, aber sie kam am nächsten Tage nicht dazu, die auf der Promenade an den Mann zu bringen, denn der Fremde kam ihr, soviel sie auch nach dem aussah, gar nicht entgegen. Woran lag das nur? War er schon wieder abgereist? War er krank? War er geschäftlich oder sonst irgendwie abgehalten, sich zu zeigen? Das alles wußte sie nicht, aber sie war verstimmt, und so ging sie ärgerlich und mißmutig dahin, immer in der Hoffnung, er möchte doch noch irgendwie auftauchen, bis plötzlich ganz dicht hinter ihr eine äußerst wohlklingende Stimme ihr zurief. „Sie werden gleich Ihren Muff verlieren, gnädige Frau!” Und wie es kam, wußte Frau Christa selbst nicht, hatte sie nicht auf ihren Muff geachtet, war der wirklich im Begriff gewesen, ihren Händen zu entgleiten, oder ließ sie den nun vor Schrecken fallen, weil sie plötzlich angesprochen wurde, und weil sie instinktiv erriet: das ist er? Das alles wußte sie nicht, auf jeden Fall lag der Muff eine Sekunde später tatsächlich auf der Erde, richtiger gesagt im Schnee, und bevor sie sich noch hätte bücken können, hatte der Fremde das getan, um ihr den Muff erst wieder zu überreichen, nachdem er den sehr umständlich und gewissenhaft von den letzten Schneespuren gereinigt hatte. Und noch bevor sie Zeit fand, sich bei ihm zu bedanken, hatte er sich von ihr verabschiedet, nachdem er vor ihr ganz tief seinen Zylinder gezogen hatte. Und bei der Gelegenheit bemerkte sie erst, was er für wunderhübsche dunkle Haare hatte, auch seine Augen waren ihr noch nicht so schön vorgekommen wie eben, da sie die in allernächster Nähe sah. Und wie hatten diese Augen sie angeblitzt und angefunkelt! Beinahe mit der Angst hatte sie es bekommen, denn sein Blick verriet ihr, wie hübsch und begehrenswert er sie fand, sie, die ihrem Mann stets treu war und der er noch nicht einmal gesellschaftlich vorgestellt war. Da hörte doch eigentlich alles auf, und das war erst recht der Fall, als sie, ihren Weg nun weiter fortsetzend, ihre Hände wieder in den Muff vergrub, und als sie dort etwas fühlte, was vorhin noch nicht dort gewesen war, ein Brief. Frau Christa bekam einen solchen Schrecken, daß sie am liebsten unwillkürlich stehengeblieben wäre, aber das durfte sie nicht, was sollten da die Vorübergehenden von ihr denken. Die mochten glauben, daß ein Schwächeanfall über sie gekommen sei und würden ihr vielleicht sogar Hilfe anbieten. Nein, stehenbleiben durfte sie auf keinen Fall, sie mußte weitergehen, so schwer ihr das auch wurde, denn ihre Glieder waren ihr jetzt wie Blei, bis sie sich plötzlich sagte: „Du mußt sofort kehrtmachen, diesem Fremden noch einmal begegnen und ihm dann seinen Brief vor die Füße werfen.” Aber auch das ging nicht, denn als sie sich nun nach ihm umsah, war er spurlos von der Erdoberfläche verschwunden, und selbst wenn er noch dagewesen wäre, was hätten die Vorübergehenden wohl von ihr denken sollen, wenn sie ihren Entschluß ausgeführt hätte? Nein, nein, behalten mußte sie den Brief schon, aber er brannte durch ihre dünnen Handschuhe hindurch in ihren kleinen Fingern wie höllisches Feuer, schon weil sie mehr als neugierig war zu erfahren, was in dem Brief stände. Was konnte er ihr nur schreiben? Er ihr, der ihr vollständig Fremde, ihr, einer Dame der ersten Gesellschaft, denn daß sie das war, mußte er ihr doch sofort angesehen haben. Sollte er es wirklich wagen, ihr in diesem Billett eine Liebeserklärung zu machen? Nein, so frech konnte und durfte er nicht gewesen sein, aber was konnte das Billett sonst enthalten? Das wollte und mußte sie um ihrer selbst willen baldmöglichst erfahren, aber wo sollte sie die Zeilen lesen? Hier auf offener Straße unmöglich, da würden sich die Vorübergehenden fragen: „Nanu, seit wann öffnet denn die gnädige Frau die Briefe, die sie erhält, auf der Gasse, und warum liest sie die erst dort?” Und was dann, wenn irgendein frecher Schusterjunge oder sonst ein derartiger Bengel ihr zurufen sollte; „Nanu, Madameken, Sie erledigen Ihre geheime Liebeskorrespondenz wohl auf der Straße, damit Sie ganz sicher sind, daß der Gatte, der Dämelklaas, nichts davon merkt? Na, von mir aus gern, Madameken, amüsieren Sie sich gut, und sagen Sie ihm, ich ließe ihn unbekannterweise schön grüßen.” Nein, dem, daß man ihr etwas Derartiges zurief, oder daß man ihr Verhalten auf der Straße auch nur derartig deutete, durfte sie sich auf keinen Fall aussetzen. So betrat sie denn plötzlich kurz entschlossen eine Konditorei, um sich dort eine Tasse Schokolade zu bestellen, und kaum war der Kellner gegangen, um die Bestellung weiterzugeben, als sie auch schon den Brief aus dem Muff hervorzog. Aber ebenso schnell schob sie den uneröffnet und ungelesen wieder in den Muff zurück, denn es war doch immerhin möglich, daß unter den anderen Gästen, die hier schon saßen, sich der eine oder der andere befand, der sie, wenn auch nur vom Ansehen oder dem Namen nach kannte und der sich dann vielleicht verwundert fragen würde: „Nanu, seit wann liest die gnädige Frau ihre Briefe denn in der Konditorei, noch dazu solche Briefe, die sie zu Hause wohl aus irgendeinem Grunde nicht zu öffnen wagt?” Aber davon ganz abgesehen war es auch möglich, daß plötzlich eine ihr bekannte Dame das Lokal betrat, daß die sich ihrem Tisch näherte, ohne daß sie selbst gleich etwas davon bemerkte, und was dann, wenn die den Brief in ihrer Hand sah? Da würde die andere es nicht an boshaften Sticheleien und an angeblich völlig harmlosen Neckereien fehlen lassen, und auch das ging nicht, das ging sogar unter keinen Umständen, und deshalb wurde es ihr plötzlich klar, sie durfte das Billett nicht hier öffentlich vor anderen Leuten lesen, sondern — ja aber wo denn nur? Bis sie darauf die Antwort fand, die da lautete: in der Waschtoilette. Aber als sie sich den Weg dorthin hatte zeigen lassen, fühlte sie sich auch dort nicht sicher, denn wer konnte wissen, ob nicht auch eine andere Dame den Wunsch verspürte, sich die Hände zu waschen, und was dann, wenn sich mit einemmal die Tür öffnete, und wenn eine andere Dame vor ihr stand, um sie womöglich auszulachen, weil sie sich hierher mit ihrem Liebesbrief zurückgezogen hatte? Nein, auch hier war sie nicht sicher, und wenn sie sich dessen auch noch so sehr vor sich selbst schämte, sie sah es ein, es gab nur einen Ausweg, wenn sie allein bleiben und vor jeder Überraschung sicher sein wollte. So öffnete sie denn jetzt kurz entschlossen eine andere Tür und riegelte sie gleich darauf hinter sich zu. Dann aber atmete sie auf, so schwer und so tief, aber auch so erleichtert wie ein Verbrecher, der der Gefahr, erwischt zu werden, entronnen ist, bis eine solche Verlegenheit über sie kam, daß sie nicht wußte, ob sie über das Sonderbare der Situation, in der sie sich befand, weinen oder lachen sollte. Es hätte nicht viel gefehlt, und sie hätte wirklich darüber geweint, daß sie ganz ohne ihre Schuld in eine solche Lage geraten war, dann aber nahm sie endlich den Brief hervor und las auf dem Umschlag die Worte:

„An die schönste und eleganteste Frau, die meine Augen jemals sahen.”

In dem Brief selbst aber stand geschrieben.

„Die Götter haben es bisher in meinem reichbewegten Leben immer sehr gut mit mir gemeint, und daß sie das auch heute noch tun, beweisen sie mir dadurch, daß sie mir das Glück zuteil werden ließen, Ihnen, schönste aller Frauen, auf der Straße begegnen zu dürfen. Daran, mich Ihnen auf dem üblichen Wege zu nähern und gesellschaftlich Ihre Bekanntschaft zu suchen, fehlt es mir an Zeit und Gelegenheit, denn ich bin hier fremd und halte mich nur vorübergehend eine Woche hier auf. Aber ich würde untröstlich sein, wenn ich wieder abreisen müßte, ohne daß Sie mir Gelegenheit gegeben hätten, Ihnen zu sagen, wie schön und begehrenswert Sie sind, so schön, daß ich mit gutem Gewissen beschwören kann, auf meinen weiten Reisen, die mich fast durch die ganze Welt führten, noch nie einer Dame begegnet zu sein, die gleich in der ersten Minute einen derartig unauslöschlichen Eindruck auf mich machte, wie Sie es taten. Zum Zeichen dessen, daß Sie es mit einem Ehrenmanne zu tun haben, unterzeichne ich diese Zeilen mit meinem vollen Namen und erbitte an die untenstehende Adresse ein paar Worte, ob und wann ich hoffen darf, mich Ihnen, wenn auch nur unter vier Augen, persönlich vorstellen zu dürfen. Sollten Sie, schönste aller Frauen, die Gnade haben, mir ein paar Stunden des Zusammenseins schenken zu wollen, so bitte ich, alle weiteren Einzelheiten desselben freundlichst mir zu überlassen. Ich verbürge mich mit meiner Ehre dafür, daß Sie an dem Orte, zu dem ich Sie führen würde, vor jeder Möglichkeit, gesehen zu werden, absolut sicher wären. Ich hoffe, daß Sie, gnädige Frau, die mit vollstem Recht den Beinamen ,die schöne Frau Christa' führt, mich nicht vergebens auf Antwort warten lassen, und küsse Ihnen bis dahin die Hände

als Ihr aufrichtigster Verehrer
Erwin Graf von Trattenbach
Hotel Europäischer Hof.”

,

Darüber war Frau Christa sich, als sie diese Zeilen gelesen hatte, sofort klar, dieser Brief war eine bodenlose Unverschämtheit, aber trotzdem enthielt er manches, das ihr so gut gefiel, daß sie ihn nun noch einmal las. Woher hatte er schon erfahren, wer sie war und daß man sie auch jetzt noch die „schöne Frau Christa” nannte? Daß man das tat, war ihr eigentlich ganz neu, sie dachte, sie hätte den Beinamen „die schöne Christa” nur als junges Mädchen geführt, und ihr Mann, ihr Harry, der es doch wissen mußte, hatte ihr nie etwas davon erzählt, daß sie jetzt „die schöne Frau Christa” hieß. Um das zu erfahren und um sich darüber freuen zu können, hatte erst dieser Fremde kommen müssen, und es schmeichelte und beglückte sie auch, daß sie schöner sei als alle die anderen Frauen, die er auf seinen weiten Reisen kennenlernte. Das freute sie sogar derartig, daß sie gar nicht hätte sagen können wie sehr. Aber eine bodenlose Unverfrorenheit war dieser Brief trotzdem, und daß er den mit seinem vollen Namen unterzeichnete, war eigentlich der Gipfel, denn was dann, wenn man diesen Brief bei ihr fand? Aber anonym hätte er ihr natürlich auch nicht schreiben dürfen, denn da hätte sie ihn selbstverständlich noch viel weniger einer Antwort gewürdigt, als sie das nun tun würde. Und eigentlich war es sogar sehr anständig von ihm, daß er sich ihr sofort zu erkennen gab. Aber das war nicht nur sehr anständig, sondern auch sehr mutig und sehr tapfer, denn er mußte doch mit der Selbstverständlichkeit rechnen, daß sie diesen Brief sofort ihrem Mann übergab und daß der mit der Waffe in der Hand von ihm für die ihr zugefügte Beleidigung Rechenschaft forderte, denn eine Beleidigung war es, ihr zuzumuten, sie würde ihm, dem Fremden, wirklich eines Tages ein paar Stunden schenken und sie mit ihm an einem Ort verbringen, wo sie vor jeder Gefahr, gesehen und erkannt zu werden, sicher war. Für eine solche Zumutung gab es überhaupt keine Worte, und für die mußte ihr Harry den Grafen zur Rechenschaft ziehen, aber ob ihr Harry dafür der geeignete Mann war? Der war, wie sie wußte, ein grundsätzlicher Gegner des Duells, der hatte sogar als Student einer nichtschlagenden Verbindung angehört, er war wegen eines ganz unbedeutenden Herzfehlers, der sich inzwischen längst wieder gelegt hatte, nicht einmal Soldat gewesen und infolgedessen natürlich auch nicht Reserveoffizier. Er war auch kein Jäger und wußte wohl überhaupt nicht mit der Pistole umzugehen, und da sollte ihr Harry diesen fordern? Und was dann, wenn er es doch tat, und wenn er in dem Zweikampf fiel oder so schwer verwundet wurde, daß er seine glänzend bezahlte Stellung aufgeben mußte? Nein, nein, das durfte beides nicht sein, und schon deshalb durfte ihr Mann nie etwas von diesem Brief erfahren, und damit das nicht durch einen unglücklichen Zufall eines Tages vielleicht doch geschähe, mußte sie diese Zeilen sofort vernichten. Aber nein, dafür war der Brief trotz alledem zu hübsch, wenigstens waren die Stellen hübsch, die von ihrer Schönheit sprachen. Die Sätze wollte sie sogar zu Hause noch einmal lesen, zu Hasue nach Tisch in ihrem Boudoir, wo sie vor jeder Überraschung sicher war.

So zog sie jetzt fast mechanisch den Riegel zurück, um gleich darauf, nachdem sie den Kellner bezahlt hatte, die Konditorei zu verlassen und auf die Straße zu treten, um einen weiten Spaziergang durch die Anlagen zu machen, bevor sie nach Hause zurückkehrte, denn es stürmte so vieles auf sie ein, daß sie sich erst ganz wieder in der Gewalt haben mußte, bevor sie ihrem Mann gegenübertreten konnte. Aber als sie wieder auf der Straße war, fehlte ihr die innere Ruhe zu dem geplanten Spaziergang, und sie wußte auch, woran das lag, an dem Brief, den sie immer noch in dem Muff trug, den sie in dem Muff ängstlich zwischen den Händen hielt, damit der nicht durch einen unglücklichen Zufall aus dem Muff auf die Erde fiel. Durch die weißen Glacéhandschuhe hindurch brannte ihr dieser Brief immer noch wie höllisches Feuer in den Fingern, aber wenn sie ganz offen und ehrlich sein wollte, mußte sie eingestehen, daß sie sich doch über den freute. Erstens weil es selbst der anständigsten Frau oder gar [wohl richtiger: gerade - D.Hrsgb.] einer solchen schmeichelt, wenn ein Mann es wagt, sein außereheliches Auge zu ihr zu erheben, zweitens weil die Worte des Fremden ihre Schönheit priesen, und drittens weil dieser Fremde ein Graf war. Gewiß, Name war Schall und Rauch, und bei einem Mann kommt es nicht darauf an, wie er heißt und wessen Standes er ist, sondern nur auf das, was er als Mann leistet. Von diesem theoretischen Standpunkt aus wäre sie über das Billett deshalb auf der einen Seite ebenso empört, aber auf der anderen Seite ebenso widerwillig erfreut gewesen, wenn der Absender nicht Graf Erwin von Trattenbach, sondern ganz einfach Emil Meier geheißen hätte. Bis sie sich eingestand, daß sie einem Herrn Meier, einerlei, ob der Mann christlichen oder jüdischen Blutes wäre, eine solche Dreistigkeit nie verziehen hätte, denn ein Herr Meier hätte sich um sein Geschäft oder um seinen sonstigen Beruf zu kümmern, aber nicht um die Schönheit anderer Frauen. Bei einem Grafen lag die Sache aber wesentlich anders, vorausgesetzt natürlich, daß der Fremde auch wirklich ein Graf war und sich nicht nur einen falschen Namen beilegte, um ihr vielleicht durch den zu imponieren, weil er von der irrigen Annahme ausging, auch sie gehöre zu jenen dummen, eitlen Frauen, auf die es irgendwelchen Eindruck macht, wenn sich ihnen ein leibhaftiger Graf nähert. Als wenn ein Herr Meier im einfachen Winterpaletot nicht in jeder Hinsicht viel mehr wert sein könne als ein Graf in einem kostspieligen Sealspelz, der am Ende noch nicht einmal bezahlt war. Und plötzlich bekam sie es mit der Angst, daß dieser Graf gar kein echter sei, aber nein, die Angst war unnötig, dem Fremden sah man auf den ersten Blick den Aristokraten an, und nur ein solcher hatte eine so schöne, vornehme Handschrift wie dieser Fremde. Nein, echt war ihr Graf, wie sie ihn jetzt plötzlich nannte, aber trotzdem durfte und würde sie ihn nie näher kennenlernen, und antworten durfte sie ihm selbstverständlich auch nicht. Nur nichts Schriftliches von der eigenen Hand aus der Hand geben, das konnte unter Umständen einem Selbstmord gleichkommen. Anders läge die Sache für sie, wenn sie die Schreibmaschine beherrschte. Da hätte sie ihm, wenn auch nur anonym, mitteilen können, daß er sich keine Hoffnungen auf sie zu machen brauche, aber leider konnte sie nicht tippen, und das bedauerte sie nun sehr lebhaft. Warum hatte man sie das in ihrer Jugend nicht lernen lassen, das gehörte doch eigentlich mit zu dem, was man lernen mußte, bevor man in das Leben hinaustrat, denn wer konnte wissen, ob man nicht später einmal in die Lage kam, sich mit der Schreibmaschine das tägliche Brot verdienen zu müssen. Aber um nun noch das Tippen zu lernen, war es zu spät, und bis sie diese Kunst gelernt hätte, war der Graf längst wieder abgereist. Aber trotzdem, besser war auf alle Fälle besser, und so nahm sie sich denn fest vor, sich zu Weihnachten vor ihrem Mann eine kleine Erika- oder Liliput­schreib­maschine schenken zu lassen. Iregndeinen Vorwand, diesen Wunsch zu begründen, würde sie schon finden.

Ihren Gedanken nachhängend, hatte sie ganz mechanisch, anstatt den geplanten weiten Spaziergang zu machen, den Weg nach Hause eingeschlagen und war nun froh, als sie wieder in ihrer Wohnung war. Gott sei Dank, da wurde sie nun endlich diesen Brief aus ihren Händen los, aber ganz so einfach ging das doch nicht, denn als die Zofe ihr nun entgegeneilte, um ihr beim Ablegen behilflich zu sein, und als die ihr den Muff abnehmen wollte, da wehrte sie ab: „Nein danke, Nanny, ich ziehe mich heute allein aus, Sie können ruhig Ihrer anderen Arbeit nachgehen.”

Ganz verständnislos sah die hübsche Zofe sie an: „Aber ich helfe der gnädigen Frau doch sonst immer, warum soll ich da gerade heute nicht —”

„Weil — weil,” fiel ihr Frau Christa erregt in das Wort, aber weiter wußte sie im Augenblick nichts zu sagen, denn die Wahrheit durfte sie nicht verraten, daß sie befürchtete, Fräulein Nanny könne von dem Muff die letzten Schneeflocken abschütteln wollen und dabei könne der Brief herausfallen. Warum hatte sie auch nur gerade heute ihre kleine Handtasche nicht mitgenommen? Da hätte sie den Brief schon längst in die hineinstecken können. Vor allen Dingen aber, warum hatte sie ein so schlechtes Gewissen, daß sie den Brief nicht einfach aus dem Muff herausnahm und den mit der Adresse nach unten vor sich auf den kleinen Tisch in der Garderobe legte? Warum nur? Bis sie plötzlich darauf die Antwort fand, weil sie eben eine durch und durch treue Gattin war, die in solcher heimlichen Liebeskorrespondenz noch nicht die leiseste Erfahrung besaß und weil es ihr an der für solche Dinge nötigen Routine fehlte. Auf jeden Fall aber hatte sie die Empfindung, sich so dumm und so ungeschickt wie nur möglich anzustellen, denn durch die Art, wie sie sich benahm, mußte sie ja den Verdacht ihrer Nanny erwecken. Aber das war ihr auch einerlei, mochte die von ihr denken, was sie wollte, die Hauptsache war, daß sie die jetzt los wurde, und deshalb sagte sie nun: „Ich brauche Sie wirklich nicht, Nanny, ich habe es mir schon längst vorgenommen, mir bei dem Ablegen der Sachen nicht mehr von Ihnen helfen zu lassen. Man darf sich auch nicht zu sehr verwöhnen, und Sie haben genug anderes für mich zu tun, also gehen Sie nur.”

Das tat die Nanny denn auch, nachdem sie ihre Gnädige voll ehrlichsten Erstaunens angeblickt hatte, weil sie die absolut nicht begriff, und kaum war Frau Christa allein, da legte sie schnell den Hut, die Jacke und den Muff ab, ohne sich die Zeit zu nehmen, alles an seinen Platz zu räumen, denn für solche Aufräumungsarbeiten war ja die Nanny da, und wenn sie sich auch nicht mehr von ihr verwöhnen lassen wollte, so durfte sie ihre Leute erst recht nicht verwöhnen und denen nicht alle Arbeit abnehmen. Hut, Jacke, Muff und Handschuhe lagen wirklich recht unordentlich herum, aber das kümmerte Frau Christa nicht, sie eilte schnell in ihr Wohnzimmer und verschloß dort den Brief des Grafen in ihrem Schreibtisch. Dann aber atmete sie erleichtert auf, als hätte sie die Spuren eines von ihr begangenen Verbrechens beseitigt, und dabei hatte sie doch eigentlich gar kein Unrecht begangen. Aber trotz alledem schlug ihr Herz ein klein wenig unruhig, und selbst als ihr Harry am Mittag nach Hause kam, mußte sie sich noch etwas beherrschen, um ihm ebenso unbefangen gegenübertreten zu können wie sonst. Aber vollständig mußte ihr das doch nicht gelungen sein, denn als sie beide sich nun bei dem Frühstück gegenübersaßen, da sah ihr Harry sie ein paarmal verwundert an, bis er plötzlich fragte: „Sag' mal, Christa, bilde ich es mir nur ein, oder bist du heute wirklich anders als sonst? Hast du dich über irgend etwas erregt? Hast du einen Verdruß gehabt, den du mir verheimlichen willst? Hast du dich über die Nanny geärgert? Als ich vorhin in der Garderobe den Pelz ablegte, da sah es mir dort ziemlich unordentlich aus, so als ob die Nanny dir heute nicht geholfen hätte. Oder liegt sonst irgend etwas vor? Was ist dir, Christa?”

Frau Christa lachte hell und fröhlich auf: „Aber Harry, was sollte mir wohl sein? Nichts, wirklich nichts, aber die Nanny muß ich gegen deinen Vorwurf in Schutz nehmen. Die wollte mir wie immer helfen, aber ich schickte sie fort, weil sie etwas Notwendiges für mich zu nähen hatte. Im übrigen, Harry,” redete sie plötzlich darauf los, „vergiß bitte nicht, daß wir bald Weihnachten haben und daß dieses Fest der Freude oft mit mannigfachem Ärger und Verdruß verbunden ist, besonders wenn man sich ein Geschenk für seinen Mann ausdachte und die Entdeckung machen muß, daß man das in keinem Geschäft so bekommt, wie man es gern haben möchte.”

„Das also ist es, Christa,” gab ihr Mann nicht nur beruhigt, sondern erfreut zur Antwort. Aber trotzdem setzte er nun hinzu: „Wegen einer solchen Kleinigkeit würde ich mich an deiner Stelle nicht eine halbe Minute aufregen. Kannst du mir nicht das schenken, was du gern möchtest, schenkst du mir einfach etwas anderes, und wenn du mir gar nichts schenkst, ist es auch noch so, wir haben wirklich alles, was wir brauchen, und vor allen Dingen haben wir uns, was kann uns da der Weihnachtsmann schließlich noch viel bringen?”

„Da hast du recht, Harry,” stimmte sie ihm bei, „die Hauptsache ist, wir haben uns, da brauchen wir nichts anderes, das heißt,” setzte sie schnell hinzu, „brauchen kann man natürlich trotzdem noch tausend schöne und nützliche Dinge, und weißt du wohl, Harry, was ich mir heute morgen plötzlich gewünscht habe? Eine kleine Schreibmaschine.”

Ihr Mann lachte fröhlich auf: „Du, Christa, als Tippelfräulein? Aber wie bist du nur auf diesen für dich sicherlich etwas sonderbaren Wunsch gekommen?”

Völlig verständnislos blickte Frau Christa ihren Mann an, dann meinte sie: „Mein Gott, Harry, wie man eben auf so etwas kommt? Auf die einfachste und natürlichste Art von der Welt. Ich sah in der Kaiserstraße, oder war es in einer anderen,” setzte sie vorsichtshalber schnell hinzu, weil sie nicht wußte, ob sich in der von ihr genannten Straße ein Schreibmaschinengeschäft befand oder nicht, „wie gesagt, Harry, ich glaube, es war in der Kaiserstraße, es kann natürlich auch in einer anderen gewesen sein, aber das ist ja auch ganz gleichgültig, kurz, in irgend einem Schaufenster sah ich die modernen kleinen Schreibmaschinen stehen, die so bequem zu tragen sind, daß man die sogar auf Reisen nehmen kann, und da wurde plötzlich der Wunsch in mir wach: eine solche kleine Schreibmaschine möchtest du auch haben. Ob ich sie allerdings jemals gebrauchen werde, weiß ich heute noch nicht, denn wenn wir Frauen uns nur solche Dinge wünschten, die wir uns wirklich wünschen, würden alle Frauen bekanntlich sehr bald wunschlos sein. Ich wünsche mir also die Maschine lediglich, wie man sich etwas wünscht, was man sich eigentlich nicht wünscht, was man aber trotzdem gern haben möchte, ohne recht zu wissen weshalb, und weil ich diesen Wunsch habe, wirst du ihn mir hoffnetlich erfüllen.”

„Sogar ganz bestimmt, Christa,” pflichtete ihr Mann ihr liebenswürdig bei, bis er nach einer kleinen Pause hinzusetzte: „Aber auch dein Wunsch nach einer Schreibmaschine ist doch kein Grund für dich, nervös zu werden, oder richtiger gesagt, es zu sein. Und daß du das bist, Christa, das ist mir gleich aufgefallen, als ich nach Hause kam. Was hast du denn nur? Hast du vielleicht irgend einen Brief erhalten, der dich erregt hat?”

„Ich? Einen Brief?” gab Frau Christa so erstaunt zurück, als wisse sie gar nicht, was ein Brief sei, oder als habe sie wenigstens in ihrem ganzen Leben noch nie einen solchen erhalten, um gleich darauf zu fragen: „Wer sollte mir auch wohl einen Brief geschrieben haben, über den ich mich hätte ärgern können? Nein nein, das ist es nicht.”

„Also ist es etwas anderes?” erkundigte sich ihr Mann voll ehrlichster Anteilnahme weiter, „denn daß tatsächlich etwas vorliegt, hast du mir eben selbst verraten.”

Ja leider! hätte ihm Frau Christa am liebsten zugerufen, denn sie verstand es jetzt selbst nicht mehr, wie ihr die unüberlegten Worte hatten entschlüpfen können. Aber nun, da sie die aussprach, mußte sie die auch näher erklären, schon um ihre Nervosität zu begründen. Allerdings kam sie sich selbst gar nicht nervös vor, sie hatte sich nach ihrer Ansicht schon längst wieder in der Gewalt, aber irgend etwas schien ihrem Mann trotzdem an ihr aufzufallen. Da mußte sie sich nun also etwas erfinden und für eine kurze Sekunde wünschte sie sich nun ein Buch, das sie kürzlich bei ihrem Buchhändler sah und das den Titel führte „Das Buch der tausend Erfindungen”. Vielleicht, daß sie in dem etwas gefunden hätte, was sich jetzt für sie als Ausrede eignete, bis sie sich ihres Wunsches beinahe schämte, denn eine hübsche, elegante, kluge Frau, wie sie eine war, bedurfte in einem solchen Falle doch wirklich keines Nachschlagebuches, die erfand sich das, was sie brauchte, ganz einfach selbst, und deshalb meinte sie jetzt: „Also schön, Harry, wenn du es denn absolut wissen willst, als ich heute vormittag in der Stadt war, traf ich Frau — doch nein, der Name tut nichts zur Sache und ich habe ihr auch fest versprochen, gegen keinen Menschen zu verraten, daß ich das, was sie mir erzählte, von ihr weiß. Na, kurz und gut, da hörte ich von Frau — daß Frau —, aber auch deren Name darf ich auf keinen Fall nennen, also, daß Frau — ihren Mann betrügen soll. ”

An alledem war natürlich kein wahres Wort: Was Frau Christa da sagte, sagte sie nur, weil ihr Graf ihr zumutete, daß sie ihren Mann betrügen solle. Daran, das wirklich zu tun, dachte sie nicht einen Augenblick, aber trotzdem war es vielleicht ganz interessant, das Gespräch einmal auf dieses Thema zu bringen und zu hören, wie sich ihr Mann zu dem äußern würde. Und das letztere geschah in einer Weise, die Frau Christa ebenso erschrocken wie erstaunt aufblicken ließ, denn ihr Harry meinte hell auflachend: „Das erregt dich so? Ja, hast du denn das wirklich nicht schon längst gewußt? Um welche Dame es sich handelt, kann ich mir selbstverständlich denken, aber da du so verschwiegen bist, deren Namen nicht zu nennen, möchte ich das auch nicht tun. Über die Persönlichkeit, die in Frage kommt, sind wir uns sicher einig und da muß ich dir gestehen, daß ich schon längst einmal mit dir darüber sprechen wollte, da Frau — na, nennen wir sie Frau „Namenlos”, ja auch bei uns im Hause verkehrt und da es eigentlich schon längst kein Geheimnis mehr ist, daß sie ihren Mann betrügt. Aber ich hatte keine Lust, mich als Erster zum Sittenrichter aufzuspielen, so etwas liegt mir nicht, und da die Frau Namenlos auch in den anderen Familien ruhig weiterverkehrt — — aber Christa, was ist dir denn nur,” unterbrach er sich plötzlich, „was starrst du mich nur so fassungslos an?”

„Das fragst du mich noch?” gab Frau Christa mehr als erregt zur Antwort und doch sah sie ein, daß ihr Mann unmöglich wissen konnte, weshalb sie ihn so anstarrte, erstens weil sie keine Ahnung davon hatte, daß eine der in ihrem Hause verkehrenden Damen ihren Mann wirklich betrog, zweitens weil sie mehr als neugierig war, zu erfahren, wer die Betreffende sei, und drittens weil sie sich den Kopf zerbrach, wie sie in Erfahrung bringen könnte, um wen es sich handelte, ohne dabei den Namen, den sie heute morgen selbst gar nicht hörte, nennen zu müssen. Das letztere durfte sie natürlich unter gar keinen Umständen, da hätte sie sich einen Namen erfinden und damit eine ihrer Freundinnen oder Bekannten grundlos verdächtigen müssen, und eine solche Niedertracht durfte sie sich als anständige Frau nicht zuschulden kommen lassen. Deshalb meinte sie jetzt auch nur nach einer kurzen Weile mit einer fast tonlosen Stimme: „Also da scheint es wirklich wahr zu sein, was man mir heute morgen erzählte?”

„Es scheint nicht nur so, Christa,” stimmte ihr Mann ihr bei, „es ist sogar tatsächlich so, aber auch das ist kein Grund für dich, dich irgendwie zu erregen, denn schließlich kommen derartige Geschichten in einer so großen Stadt wie der unsrigen, wenn auch nicht gerade alle Tage, so doch von Zeit zu Zeit immer einmal vor.”

„Und — und — was sagt ihr Mann dazu?” fragte Frau Christa weiter.

Ihr Harry lachte etwas geringschätzend auf: „Ach der! Der ist natürlich wie immer, oder wie wenigstens meistens in solchem Falle der einzige, der nichts von alledem ahnt. Der liebt seine Frau über alles und ist felsenfest davon überzeugt, daß die ihn ebenso wiederliebt. Wir haben schon oft im Klub darüber gesprochen, ob es nicht unsere Pflicht wäre, dem Mann die Augen zu öffnen, aber keiner hatte Lust, ein so undankbares Amt zu übernehmen.”

Eine ganze Weile herrschte Schweigen, dann meinte Frau Christa: „Weißt du, Harry, ich bin doch ganz gewiß nicht dumm, bilde mir wenigstens ein, es nicht zu sein, aber trotzdem, wie eine Frau ihren Mann betrügen kann, das verstehe ich nicht, das ist mir zu hoch.”

„Das glaube ich dir persönlich ohne weiteres, Christa,” gab ihr Mann zur Antwort, „du bist eben eine durch und durch anständige Frau, obgleich man natürlich auch nicht sofort über jede Frau den Stab brechen kann, die ihrem Mann nicht die Treue hält. Es kommt sehr viel auf die Nebenumstände an, aber daß du dich in eine solche Lage nicht hineindenken kannst, fühle ich dir nach,” bis er ein klein wenig selbstgefällig hinzusetzte: „Wie solltest du wohl auch je darauf kommen können, dich mit irgend welchen treulosen Gedanken zu befassen? Du hast in mir einen Mann, wie du dir gar keinen besseren wünschen kannst. Ich tue alles für dich, was ich nur kann, ich erfülle dir jeden deiner Wünsche, ich beschenke dich, soweit ich es nur vermag, keine deiner Schneiderrechnungen ist mir jemals zu hoch, ich halte dir soviel Dienstpersonal, wie du willst, ich unterstütze deine Mutter, die ja leider nicht in den glänzendsten Verhältnissen lebt, ich gebe dir die Mittel, um ein großes Haus zu führen, du hast deine Loge im Theater und einen Schmuck, um den fast alle deine Bekannten dich beneiden. Daß ich dir selbst noch niemals untreu war, daß ich noch nie eine andere als dich zu küssen begehrte, ist so selbstverständlich, daß es sich nicht verlohnt, darüber auch nur ein Wort zu verlieren. Wie solltest du dich da also wohl jemals in einen treulosen Gedanken gegen einen Mustergatten, wie ich es bin, hinein­zudenken vermögen?”

Während ihr Harry sprach, hatte Frau Christa unwillkürlich an ein Aufsatzthema denken müssen, das sie vor vielen Jahren einmal in der Schule bearbeitete, das sich ihr gleichsm als Lebensregel einprägte und das da lautete: „Was du Gutes tust, schreib' in den Sand, was du Gutes empfängst, an die Marmorwand.” Gewiß, ihr Mann hatte ihr viel gegeben und gab ihr noch fortwährend, aber gab sie ihm denn nicht auch? Sich selbst und ihre Schönheit, die größer war als die aller anderen Frauen, die ihr Graf auf seinen weiten Reisen sah? Und wenn man sie um ihren Schmuck und um vieles andere beneidete, beneidete man nicht auch ihn und zwar um sie? Seine Worte verstimmten sie etwas, das hauptsächlich auch deshalb, weil er es als so selbstverständlich anzunehmen schien, daß sie ihn schon wegen seiner Geschenke lieben müsse und daß er die Liebe als solche nur zum Schluß mit einigen flüchtigen Worten erwähnte. Und auch da sprach er nur von der Liebe, die er für sie empfand, aber die, die sie nach seiner Ansicht für ihn empfinden müsse, nahm er als ganz selbstverständlich an und fragte gar nicht danach, ob sie ihn auch heute noch so liebe wie damals, als sie ihn heiratete, obgleich sie doch eigentlich den kleinen Leutnant — aber nein, nur nicht mehr an den denken, das hatte der nicht um sie verdient und sie hatte auch gar keine Zeit, sich im Augenblick weiter mit dem zu beschäftigen, denn im Zusammenhang mit dem, was ihr Mann ihr erzählte und mit dem, was sie sich jetzt selbst darüber im stillen sagte, stürmte so vieles auf sie ein, daß sie aus alledem nicht recht klug wurde, bis sie plötzlich unvermittelt sagte: „Ich komme immer noch nicht darüber hinweg, Harry, daß unsere gemeinsame Bekannte und Freundin ihren Mann wirklich betrogen haben soll, und ich verstehe da auch die Hauptsache nicht. Wie machen zwei solche Leutchen es überhaupt, wenn sie einen Dritten, den Ehemann, betrügen wollen? Ich kann mir da weder den Anfang noch die Fortsetzung und erst recht nicht den Schluß vorstellen. und wenn ich mir ausmalen wollte, ich sollte —”

„Aber da male dir doch ganz einfach so etwas nicht aus, Christa,” unterbrach ihr Mann sie, belustigt über das Entsetzen, das aus ihren Augen sprach, bis er hinzusetzte: „Ich verstehe immer noch gar nicht, Christa, wie du dich darüber nur so aufregen kannst, denn ein derartiges Ansinnen, wie du es zu befürchten scheinst, wird doch nie ein Mann an dich zu stellen wagen, das schon deshalb nicht, weil nie einer den Mut haben wird, auch nur den Versuch zu machen, dich von dem Pfade der Tugend und der Treue abzulenken, weil er im voraus ganz genau weiß, daß du mich hast und daß du schon deshalb für solche abseits liegenden Liebesabenteuer nie und nimmer zu haben bist.”

Schon wieder diese ekelhaften eingebildeten Worte „weil du mich hast”! Frau Christa hätte am liebsten spöttisch aufgelacht. Wie hoch die Männer sich nur immer selbst einzuschätzen pflegten, anstatt diese Einschätzung lieber ihrer Frau zu überlassen. Weil du mich hast! Das hatte der betrogene Gatte seiner ihr vorläufig noch unbekannten Frau sicher auch oft erklärt, und geholfen hatte es ihm doch nichts! Und diese Worte würden auch ihrem Harry nichts helfen, wenn sie jemals die Absicht haben sollte, ihn zu betrügen. Aber das wollte sie natürlich nicht. Und noch eins ärgerte sie bei dem, was er sagte. Daß er es als selbstverständlich annahm, kein anderer Mann würde jemals den Mut haben, sie von dem Pfade der Tugend ablenken zu wollen. Das kam einer Beleidigung ihrer Persönlichkeit und ihrer Schönheit gleich, bis sie plötzlich an sich halten mußte, um jetzt nicht vor Vergnügen laut aufzulachen, denn sie selbst wußte es ja am besten, wieviele Herren schon bisher, wenn auch in diskretester und zartester Weise, diesen Versuch gemacht hatten. Bis ihr nun heute vormittag der Graf in klarer und deutlicher Weise zu verstehen gab, daß und wie sehr er sie begehrte. Eigentlich war sie es sich selbst schuldig, ihrem Mann zuzurufen: „Mein lieber Harry, du mußt dir aber auch nicht zuviel einbilden, denn du irrst dich sehr, wenn du glaubst, die anderen Männer begehrten mich nur deshalb nicht, weil ich dich habe. Was ich an dir habe, weiß ich natürlich, aber es ist nun wohl einmal das Unglück aller Ehemänner, von den anderen Männern ganz bedeutend unterschätzt zu werden, denn sonst würde wohl nie ein Dritter es einer Frau anbieten, ihr das zu sein und ihr das zu ersetzen, was sie nach seiner ehrlichsten Überzeugung bei dem eigenen Mann vermißt und was sie bei dem entbehrt.” — Ja, eigentlich war sie es sich selbst schuldig, so zu ihrem Harry zu sprechen, aber sie schwieg trotzdem, um ihm nicht weh zu tun, denn er konnte doch schließlich nichts dafür, daß er ein Mann und als solcher nicht frei von den Schwächen der Eitelkeit war.

Aber was sie ihm nicht sagen durfte, das sagte sie sich selbst dafür im stillen desto öfter und dachte dabei voller Stolz und mit einer großen freudigen Genugtuung an den Brief des Grafen, nicht weil der so maßlos frech war, seine Augen zu ihr zu erheben, sondern weil der sie eigentlich als erster von allen Männern darüber aufgeklärt hatte, wie hübsch sie war. Und so etwas vergißt eine Frau einem Manne bekanntlich nie. Deshalb allein schon hätte der Graf es wohl um sie verdient, daß sie seinen Brief nicht ganz unbeantwortet ließ, daß sie ihm wenigstens mit ein paar Worten für die ihrer Schönheit gezollte Anerkennung dankte, während sie ihm dabei aber zugleich selbstverständlich erklärte, daß es ihr ganz unmöglich sei, ihm auch nur eine Stunde ihres Lebens, geschweige denn ein paar Stunden zu schenken. Aber nein, das durfte sie ihm nicht schreiben, denn erstens besaß sie noch keine Schreibmaschine und zweitens — wenn er ihr nicht auf den ersten Blick angesehen hatte, wie treu sie ihrem Mann war, dann würde er es ihr auch nicht glauben, daß sie es sei, wenn sie es ihm schrieb. Er mußte ihr doch angesehen haben, wer und was sie war, er hatte sich auch nach ihr erkundigt und erfahren, daß sie die „schöne Frau Christa” hieß, und trotzdem hatte er seine Augen zu ihr erhoben, trotzdem oder gerade deshalb, denn die nähere Bekanntschaft einer Lebedame zu machen, hatte für einen Mann, wie er es war, natürlich keinen Reiz. Aber schreiben hätte er ihr trotzdem nicht dürfen, und wenn sie nun daran dachte, er könne sich allen Ernstes einbilden, sie würde nicht nur zu ihm kommen, sondern sich ihm sogar hingeben, nein nein, das war ein Ding der Unmöglichkeit, denn würde er nicht schon daraus, daß sie zu ihm kam, den Schluß ziehen, sie habe vor ihm schon andere Herren besucht? Aber nein, für so schlecht würde er sie nicht halten, das auch schon um seiner selbst willen nicht, denn jeder Mann, der eine Frau liebt und deren Gunst er genießt, bildet sich ein, der Erste und der Einzige zu sein, der von der Frau geliebt wird. Dafür war auch ihr Mann der beste Beweis, denn der hatte sie bisher während ihrer ganzen Ehe noch nie mit einer Silbe gefragt, ob sie vor ihm wirklich noch nie einen anderen Mann, wenn nach seiner Ansicht selbstverständlich auch nur vorübergehend, geliebt habe. Nein, das würde der Graf um seiner selbst willen nicht glauben, daß sie sich außer ihrem Mann schon einem anderen hingab, bevor sie ihn nun aufsuchte, um ihm dafür zu danken, daß er sie so schön fand und auch dafür, daß er ihr schrieb, so daß sie seine lieben Worte auch dann noch immer wieder lesen konnte, wenn er selbst längst abgereist war. Aber daß sie wirklich zu ihm ging, war ausgeschlossen, sie hatte ihren Mann, und wenn der jemals etwas davon erfuhr — aber würde der jemals etwas davon erfahren? Hatte der ihr nicht selbst erklärt, der Ehemann sei immer derjenige, der zuletzt hinter die Geheimnisse seiner Frau käme, und was alle Welt glaube und wisse, das erführe und glaube der eigene Mann zu allerletzt? Und wer konnte wissen, ob ihr Harry überhaupt je etwas von dem Treubruch erführe, und wenn doch, ob er, gerade er, von ihr glauben würde, daß sie, gerade sie, — und wer konnte wissen, ob er an dem Tage noch lebte, an dem es vielleicht erst über Jahr und Tag durch einen unglücklichen Zufall bekannt wurde, daß sie einmal mit einem anderen Herrn zur Nacht speiste. Wer konnte wissen, ob ihr Mann noch lebte, wenn dieses Geheimnis vielleicht später einmal irgendwie herauskam, und wenn er dann schon tot sein sollte, war es da bis zu einem gewissen sehr hohen Grade nicht eine noch größere Dummheit von ihr, daß sie sich lediglich aus Rücksicht auf ihn treu blieb? Ja, das war das richtige Wort, sie würde sich stets treu bleiben, sich und ihren Grundsätzen und dadurch natürlich auch ihm, weil er nun einmal zu ihr gehörte und weil ihre Zusammen­gehörigkeit in den Büchern des Standesamtes und der Kirche eingetragen war. Aber trotzdem kam er selbst bei ihren Grundsätzen erst in zweiter Linie in Betracht. Sich selbst treu zu bleiben, das war es, darauf allein kam es an, das gestand Frau Christa sich in diesem Augenblick ein und deshalb wußte sie jetzt auch, weshalb sie den Wunsch des Grafen nie würde erfüllen können. Aber das mußte sie dem Grafen lassen, ein auffallend hübscher Mensch war er, er verstand Briefe zu schreiben wie nur wenige, vor allen Dingen aber war er bei dem, was er schrieb, wahrheits­liebend. Er schrieb nichts, was nicht seiner ehrlichsten Überzeugung entsprach, das sah man nicht nur aus seinem Briefe, sondern das sah man auch ihm selbst sofort an, und warum sollte sie sich eigentlich nicht mit ihm für eine kurze Stunde treffen, um sich von ihm von seinen vielen Reisen erzählen zu lassen? Mehr als daß sie ihm erlaubte, ihr allerlei zu erzählen, würde bei der Begegnung selbstverständlich nicht geschehen, und wenn er mehr von ihr verlangen sollte, dann —

Da erklang plötzlich die Stimme ihres Mannes: „Sag' mal, Christa, ich habe dich nun schon eine ganze Weile beobachtet, woran denkst du eigentlich?”

Frau Christa sah überrascht auf, sie mußte sich im ersten Augenblick erst wieder darauf besinnen, daß sie einen Mann hatte und daß der sogar mit ihr zusammen am Tisch saß, dann aber fragte sie ihrerseits mehr als erstaunt: „Ja, Harry, wenn du das nicht allein weißt? Ich meine, du müßtest mir eigentlich nachfühlen können, daß es mir nicht gleichgültig ist, wenn ich plötzlich erfahre, daß eine meiner liebsten Freundinnen ihren Mann schon lange hintergangen hat. Man könnte mir einen Vorwurf daraus machen, daß ich trotzdem mit ihr weiter verkehrte. Man wird es mir unter Umständen nicht glauben, daß ich von alledem nichts wußte, und man wird da vielleicht das Wort auf mich anwenden: „Sage mir, mit wem du umgehst, und ich will dir sagen, wer du bist.” Na und daß man aus dem Lebenswandel meiner intimsten Freundin Schlüsse zieht, die mich und mein eigenes Leben betreffen, das möchte ich, von dir ganz abgesehen, schon um meiner selbst willen nicht.”

„Das fühle ich dir vollständig nach, Christa,” stimmte ihr Mann ihr bei, „aber ich glaube, auf solche Gedanken, wie du sie eben äußertest, wird außer dir kein Mensch in der ganzen Stadt kommen. Man weiß doch, daß dein Ruf und deine Anschauungen über jeden Zweifel erhaben sind. Aber an dem, was du mir da sagtest, war mir eins neu, seit wann gehört die Frau Doktor Mangold zu deinen imtimsten Freundinnen?”

Frau Christa mußte mit aller Gewalt an sich halten, um nicht einen Schrei der Überraschung auszustoßen. Sicher ganz unbeabsichtigt hatte ihr Mann ihr nun den Namen der in Frage kommenden Dame genannt. Also um die Frau Doktor Mangold handelte es sich. Die war es, die ihren Mann nicht erst seit gestern betrog. Ausgerechnet die, und gerade von der hätte sie es nie geglaubt. Gewiß, hübsch, sehr hübsch war sie, obgleich sie selbst trotzdem im Augenblick nicht recht begriff, was ein Mann, wenn es nicht der eigene war, an der so begehrenswert finden könne. Dafür waren deren Augen ihr zu blau, deren blondes Haar ihr zu blond, aber von alledem ganz abgesehen, gerade der hätte sie so etwas nie zugetraut, denn die blickte mit ihren blauen Augen stets so unschuldig in die Welt, als ob sie selbst im ehelichen Schlafgemach des Nachts nicht bis drei zählen könne, und nun hatte die außerhalb des eigenen Hauses vielleicht sogar bis fünf, wenn nicht sogar noch weiter gezählt. Wer hätte das von ihr gedacht! Allerdings, die Hellblonden sollten es nach einem alten Wort ja in sich haben, die taten nur so, als ob sie keusch und züchtig wären in Worten und Werken, in Wirklichkeit hatten die es aber faustdick hinter den kleinen Ohren, und die Ohren der Frau Doktor waren nicht einmal klein, wenigstens hatte sie selbst deren Ohren immer ein klein wenig zu groß gefunden.

„Aber Christa, was machst du denn nun schon wieder für ein Gesicht, aus dir werde ich heute wahrhaftigen Gottes nicht klug,” erklang da abermals die Stimme ihres Mannes. „Daß die Frau Doktor ihren Mann betrügt, hast du heute morgen selbst in der Stadt gehört, und nun sitzt du da, als hättest du eben von mir die denkbar größte Neuigkeit erfahren.”

„Tue ich das wirklich?” gab Frau Christa verwundert zurück, um gleich darauf hinzuzusetzen: „Natürlich hast du mir keine Neuigkeit erzählt, als du eben den Namen nanntest, aber ich nahm meine liebe Frau Kitty heute morgen in Schutz, ich wollte und ich konnte es nicht glauben, daß gerade sie — und nun höre ich von dir, daß es sich doch um die handelt, das erschüttert mich selbstverständlich, denn wenn Frau Kitty bisher auch noch nicht zu meinen intimsten Freundinnen gehörte, wie ich es vorhin sagte,” log sie plötzlich darauf los, „so wollte ich sie gerade in den allernächsten Tagen darum bitten, sie zu meinen intimsten Freundinnen rechnen zu dürfen. Du weißt, daß sie mir immer außerordentlich sympathisch war. Mit ihren wundervollen blauen Augen, ihrem schönen blonden Haar fand ich sie stets besonders hübsch. Nun habe ich eine Freundin verloren, bevor sie mir das geworden war, na und das kann doch unmöglich spurlos an mir vorübergehen, da müßte ich kein Herz in der Brust haben.”

Frau Christa wunderte sich über sich selbst, aber sie brachte das Kunststück fertig, eiune feuchte Träne in ihren Augen schimmern zu lassen, und ihr Mann beeilte sich, sie zu trösten: „Aber Christa, Liebling, wer wird sich deswegen nur so aufregen? Du hast genug Freundinnen, auf eine mehr oder weniger kommt es nicht an, und wenn du trotzdem noch nicht genug hast, so wählst du anstatt der Frau Kitty eine andere in den Kreis deiner intimsten Freundinnen. Aber trockne deine Tränen, verdirb dir mit denen nicht die Augen,” bis er nun, einen Blick auf die Uhr werfend, plötzlich ausrief: „Um Gottes willen, Christa, es wird die höchste Zeit für mich, daß ich auf das Büro [Bureau - im 11. - 13. Tsd.] komme, ich habe eine sehr wichtige Besprechung, die ich unter keinen Umständen versäumen darf. Wir haben heute viel länger bei dem Frühstück gesessen als sonst, daran ist diese dumme Ehebruchsgeschichte schuld, die uns beide doch gar nichts angeht. Ich will nur noch rasch im Stehen meine Tasse Kaffee trinken, klingle bitte schnell, damit die gebracht wird, dann muß ich machen, daß ich fortkomme, und wenn wir uns heute abend wiedersehen, wollen wir gar nicht mehr von der Sache reden. Nicht wahr,” bat er, „du versprichst mir auch, daß du bis dahin gar nicht mehr an die denken willst?”

„Ich will es wenigstens versuchen, es nicht zu tun, Harry,” gab Frau Christa zur Antwort, aber als sie bald darauf allein war und in ihrem Zimmer auf der Ottomane lag, um dort nochmals in aller Ruhe den Brief des Grafen zu lesen, da dachte sie trotzdem sehr viel daran, weniger an Frau Kittys Ehebruch im besonderen, als an einen solchen im allgemeinen.

Durch die Begegnung mit dem Grafen, den sie zum mindesten ebenso hübsch fand wie er sie, denn sie konnte sich nicht entsinnen, jemals einen Herrn gesehen zu haben, der ihr äußerlich so gut gefiel, durch die Begegnung mit ihm, durch sein Schreiben, durch alles, was sie bei dem Frühstück über Frau Kitty erfuhr, sowie durch das Gespräch, das sie im Anschluß daran mit ihrem Mann führte, waren allerlei Empfindungen, Wünsche, Gedanken und Überlegungen in ihr wach geworden, die sie bisher gar nicht kannte, die sie wenigstens als für ihre eigene Person völlig unmöglich stets aus ihrem Ideenkreis ausgeschaltet hatte. Und nun? Sie dachte ja nicht daran, den Grafen zu erhören, aber daß sie ihm wenigstens eine Antwort sandte, konnte er wohl von ihr erwarten, denn sie war doch eine Dame der Gesellschaft und wußte in jeder Hinsicht, was sich gehörte. Und wenn sie ihm schrieb, würde sie ihn für ihr Leben gern fragen, wo er sich, für den selbstverständlich ausgeschlossenen Fall, daß sie zu ihm gekommen wäre, das Zusammensein mit ihr gedacht hätte. Aber daß sie zu ihm kam und daß sie sich ihm hingab, das war ausgeschlossen und undenkbar. Aber schön, wunderbar schön mußte es sein, einmal einem Mann angehören zu dürfen, wenn dem alle Sinne und Leidenschaften entgegenschlugen und wenn sie seine Umarmungen nicht nur deshalb hinnahm, weil sie mit ihm verheiratet war und weil es in der Bibel hieß: „Seid fruchtbar und mehret Euch untereinander.” Und sie war nicht einmal fruchtbar und mehren tat sie sich mit ihrem Mann auch nicht und es war wirklich ein Glück, daß sie nicht einmal veranlagt war, Mutter zu werden, denn sonst hätte sie noch viel weniger als jetzt daran denken können, wie es wohl wäre, wenn sie zu dem Grafen hinginge. Daß sie das nie tun würde, stand für sie fest, aber wenn sie es doch tun sollte, würde sie sich hinterher selbst die strengte Richterin sein und sich fragen, ob sie das auch hätte tun dürfen. Ganz unparteiisch würde sie als ihre eigene Richterin allerdings nicht sein, aber wen sollste sie sonst wohl als Richter anrufen? Etwa ihren Mann? Der war ganz gewiß erst recht Partei, und daß der sie verurteilen würde, stand von vornherein fest und schließlich gab es nach einem alten Wort auf der ganzen Welt keinen strengeren Richter als das eigene Gewissen. Folglich würde sie sich nur vor dem verantworten, wenn sie sich eines Tages anklagen sollte.

Bis sie alles, was sie jetzt beschäftigte, zu verjagen und zu verscheuchen versuchte. Das war ja Unsinn, so etwas durfte sie gar nicht denken und sie verstand auch jetzt Frau Kitty nicht, wie hatte die ihrem Mann nur die Treue brechen können, nicht nur in Gedanken, sondern sogar in Taten? Aber ein eigener und zwar ein großer Reiz mußte in dem liegen, was die Freundin getan hatte. Und außerdem durfte man so etwas selbstverständlich nur einmal tun, nur ein einzigesmal, lediglich um es kennen zu lernen, wie es ist, wenn man es tut. Für das einemal gab es vor dem eigenen Gewissen tausend Erklärungen und Entschuldigungen, vor einer Wiederholung aber mußte man sich hüten, wenn man nicht wirklich aufhören wollte, eine treue Gattin zu sein.

Frau Christa schloß die Augen und träumte wachend vor sich hin und sie erschrak förmlich vor sich selbst, als ihre Sinne dabei immer mehr und mehr erwachten, viel mehr als überhaupt in den Jahren ihrer jetzt schon so langen Ehe. Du großer Gott, wenn ihr Mann sie in seine Arme nahm, war es immer dasselbe und er war auch immer derselbe Mann, und wenn sie ihn dann hinterher schnarchen hörte, oder ihn in seinem Schlafzimmer wenigstens schnarchen zu hören glaubte, wurde jedesmal ein großes Gefühl der Ernüchterung in ihr wach, daß sie oft dachte: zwei Menschen, die sich eben derartig angehörten, die so vollkommen eins waren, dürften hinterher nicht auseinandergehen, als wenn zwischen ihnen etwas ganz Selbstverständliches vorgefallen wäre. Der eine dürfte hier nicht zu schlafen versuchen, während der andere ein paar Zimmer entfernt schnarcht. Die Trennung nach einem solchen Zusammensein war doch bis zu einem gewissen Grade der Tod der Liebe, wenigstens der Tod jeglicher Poesie. Entweder mußte man bei einem solchen Verkehr einer in den Armen des anderen sterben, oder sie mußten auseinandergehen, um sich nie wieder zu sehen, sondern um die Erinnerung an eine selige Stunde ihres Lebens für immer im stillen zu bewahren. Und den Grafen würde sie nie wiedersehen, sie würde es einzurichten wissen, daß sie sich nicht mehr auf der Straße zeigte, solange er noch hier war, und wenn sie ihn darum bat, würde er sicher sofort am nächsten Tage reisen, nachdem sie sich ihm hingegeben hatte. Nein, nicht hatte, sondern hätte, hätte, denn daß sie das wirklich tat, glaubte er wohl selbst nicht. Aber unbeschreiblich süß mußte es sein, einmal voll heißer, flammender Liebe in die Arme genommen zu werden und dabei Liebesworte zu hören, die dem, der sie sprach, aus tiefstem Herzen und aus seinem heiligsten Empfinden heraus kamen. Es mußte köstlich sein, da Worte zu vernehmen, die so verliebt klangen und waren, daß der, der sie sprach, selbst nicht wußte, was er da alles sagte. Ach und gleich hinterher müßte man spurlos verschwinden können. Engel müßten kommen und einen durch die Luft in das eigene Bett tragen, man müßte dort gleich einschlafen und sich am nächsten Morgen fragen können: Hast du den Himmel auf Erden gestern wirklich erlebt oder war es nur ein Traum? Ach ja, schön, wunderbar schön mußte das sein, nur mußte von alledem natürlich nie etwas herauskommen, das würde jede Poesie zerstören, und ihr Mann würde ihr selbstverständlich die bittersten Vorwürfe machen, sie gar nicht verstehen und begreifen, denn sie hatte doch ihn, den nach seiner Ansicht Herrlichsten von allen, der sie beschenkte, der ihr von seinem Überfluß abgab, de ihr die Mittel zur Verfügung stellte, sich hübsch zu kleiden. Als wenn das allein das Glück ausmachte und vor allen Dingen, als ob er selbst nie mit einer verheirateten Frau ein Verhältnis gehabt hätte. Ob das wirklich der Fall war, wußte sie allerdings nicht, aber danach wollte sie ihn gleich heute abend fragen. Sicher war das der Fall und ob er da die verheiratete Frau, die ihm angehörte, ebenso verurteilt hatte, wie er sie verurteilen würde, wenn sie den Grafen erhörte? Nein, nicht erhörte, sondern erhört hätte, hätte! Aber die andere Frau hat er natürlich nicht angeklagt, es im Gegenteil ganz selbstverständlich gefunden, daß die sich ihm nicht verweigerte. Was der einen Frau ihm gegenüber nach seiner Ansicht recht war, das mußte da ihr selbst einem anderen Manne gegenüber doch billig sein. Gewiß, so hätte ihr Mann urteilen müssen, aber die Männer sind ja so dumm, so kleinlich, so egoistisch und namentlich so unlogisch, daß man oft über die einfachsten Dinge nicht mit ihnen sprechen kann.

Deshalb nahm Frau Christa sich auch fest vor, gar nicht erst mit ihrem Mann darüber zu reden, wie er es wohl beurteilen würde, wenn sie mit einem Mann dasselbe täte, was er als Junggeselle sicher mit einer verheirateten Frau getan hatte, sondern sie faßte nur den Entschluß, sich die Gewißheit darüber zu verschaffen, ob er tatsächlich jemals ein Verhältnis mit einer verheirateten Frau gehabt habe, und diesen Entschluß führte sie aus, als sie am Abend nach dem Essen, in dem Wohnzimmer ihres Mannes eine Zigarette rauchend, diesem gegenübersaß.

Und wenn sie gedacht und erwartet hatte, daß ihr Mann sie nun auf den Tod erschrocken ansehen und gar nicht wissen würde, wie er sich dieser Frage aus ihrem Munde gegenüber verhalten solle, dann hatte sie recht. Derartig fassungslos wie in diesem Augenblick hatte sie ihren Mann noch nie gesehen, hätte es überhaupt nicht für möglich gehalten, daß der so seine Ruhe verlieren könne, denn ihr Mann saß da wie ein auf frischer Spur ertappter Verbrecher, und doch lag die Sünde, die er in dieser Hinsicht begangen haben mußte, sicher schon viele Jahre zurück.

Aber wenn ihr Mann sich jetzt so überrascht zeigte, geschah es nur, um nicht zu verraten, daß ihn diese Frage gar nicht überraschte. Auf die war er sogar schon bei Tisch vorbereitet gewesen und er hatte sich fortwährend gefragt: „Nanu, warum fragt Christa denn immer noch nicht?” Daß die Frage kommen würde und mußte, stand für ihn felsenfest, die bildete den logischen Abschluß dessen, was er sich heute nachmittag rekonstruiert hatte. Schon bei dem Frühstück waren ihm das Benehmen und die Äußerungen seiner Frau aufgefallen, aber wenn er ihr das auch sofort erklärte, er hatte doch nicht die Zeit gehabt, sich allzu sehr damit zu beschäftigen, weil seine Gedanken in der Hauptsache bei der außerordentlich wichtigen Besprechung weilten, die nach dem Frühstück in seinem Büro [Bureau - im 11. - 13. Tsd.] stattfinden sollte. Nun war die nicht nur vorbei, sondern sogar glänzend verlaufen. Er hatte die Gegenpartei juristisch und geschäftlich derartig eingewickelt, daß die aus dem Netz, das er über ihrem Kopfe zusammenzog, gar nicht mehr heraus konnte, sondern zu allem, was er vorschlug, nicht nur ja und amen sagen, sondern das vor allen Dingen auch schreiben mußte, so daß es für die nun kein Zurück mehr gab. Nicht nur seine Gesellschaft, auch er selbst, der an deren Gewinn beteiligt war, hatte am Nachmittag ein glänzendes Geschäft gemacht. Ja ja, dumm war er als Jurist nicht, er nahm es in der Schlauheit mit jedem auf und oft hatte er sich gesagt: „Wenn du Untersuchungsrichter geworden wärest, dir wäre kein Verbrecher entschlüpft, du hättest bei dem Verhör selbst den gerissensten Gauner hineingelegt.” Und als wäre er wirklich ein Untersuchungsrichter, hatte er nach beendeter Konferenz in seinem Büro [Bureau - im 11. - 13. Tsd.] bei einer guten Zigarre über seine Frau und über den heutigen Vormittag nachgedacht. Jedes Wort, jede Kleinigkeit, die ihm da auffielen, hatte er sich in sein Gedächtnis zurückgerufen, so daß an diesem Gebäude auch nicht der kleinste Stein fehlte.

Frau Christa saß immer noch da und wartete darauf, was er auf ihre Frage antworten würde, denn mit der Verwirrung allein, die er nun zur Schau trug, war ihr absolut nicht gedient. Einmal mußte er doch mit dem Sprechen anfangen, aber stattdessen sprang er nun plötzlich von seinem Stuhl auf und ging mit großen erregten Schritten im Zimmer auf und ab, so daß sie ihm nach einer ganzen Weile zurief: „Aber Harry, so setze dich doch nun endlich wieder hin, dieses Herumlaufen macht mich vollständig nervös, das bin ich auch gar nicht an dir gewöhnt. Im übrigen verstehe ich dich gar nicht. Was hast du denn nur? Wenn ich gewußt hätte, daß meine harmlose Frage —”

Jetzt blieb er vor ihr stehen und starrte sie mit großen, entsetzten Augen an, bis er mit qualvoll gepreßter Stimme zur Antwort gab: „Deine Frage nennst du harmlos, Christa? An und für sich ist sie es natürlich, denn daß man als Junggeselle auch einmal ein Verhältnis mit einer verheirateten Frau hat, ist etwas ganz Natürliches, das gehört gleichsam mit zur Bildung, das ist, wie einer meiner Freunde es zu nennen pflegte, das Abiturientenexamen, das man als anständiger Junggeselle ablegen muß, bevor man in den heiligen Stand der eigenen Ehe tritt. Gott sei Dank gibt es ja genug verheiratete Frauen, bei denen man dieses Examen ablegen kann. Einer meiner Freunde behauptete sogar, man könne eine solche Prüfung bei jeder Frau ablegen, denn es gäbe keine, die ihrem Mann wirklich treu bliebe, keine, die ihm wenigstens nicht zuweilen in Gedanken untreu wäre, keine, die nicht den sehnlichsten Wunsch hätte, ihm, wenn auch nur ein einzigesmal, untreu werden zu dürfen.”

„Und du hast deinen Freund, der uns Frauen in solcher gemeinen Weise zu beschimpfen und zu verdächtigen wagte, nicht sofort zur Rechenschaft gezogen? Du hast es geduldet, daß der derartig über uns sprach? Du bist nicht sofort für unser Geschlecht mit der Waffe in der Hand eingetreten?” kam es mehr als erregt über Frau Christas Lippen.

Ihr Mann, der seine erste schwere Erregung niedergekämpft hatte, lachte zu ihrem Entfremden beinahe übermütig auf: „Aber Christa, dazu lag damals für mich nicht die leiseste Veranlassung vor, denn damals hatte ich gerade mein Verhältnis mit der in der ganzen Stadt wegen ihrer Schönheit bekannten Frau Gerda. Vor allen Dingen war ich damals noch nicht verheiratet, ich kannte dich noch nicht und wußte nicht aus eigener Erfahrung, daß es unter den verheirateten Frauen tatsächlich sehr rühmliche Ausnahmen gibt, denn daß du in jeder Hinsicht eine solche bist, brauche ich dir wohl nicht erst zu sagen. Täte ich es dennoch, dann käme das einer Beleidigung deiner Person gleich.”

„Als solche würde ich deine Worte auch aufgefaßt haben und deshalb danke ich dir, daß du sie nicht aussprachst,” warf Frau Christa erregt ein, „denn daß ich dir bisher mit jedem meiner Gedanken treu war, daß für mich noch nie ein anderer Mann existierte als nur du, daß es für mich nie einen anderen geben wird — aber eins mußt du mir erklären, Harry,” unterbrach sie sich plötzlich, „wenn es für jeden Junggesellen, der etwas auf sich hält, so selbstverständlich ist, wie du es sagst, daß er mit einer verheirateten Frau einmal ein Verhältnis hat, warum konnte dich meine Frage nur so erregen?”

„Weil da Erinnerungen in mir wach wurden,” gab er schnell zur Antwort, „Erinnerungen an schöne, köstliche Stunden, dann aber auch an eine Stunde, in der ich mich der schönen Frau Gerda gegenüber einfach gemein benahm. Ja, Christa, sieh mich nur ruhig an, es ist, wie ich sagte, ich habe mich gemein benommen, sogar noch gemeiner, ehr- und ruchlos, und wenn ich daran zurückdenke, steigt mir die Schamröte ins Gesicht. Dann schäme ich mich vor mir selbst, vor dir, vor aller Welt,” und schwer aufatmend schloß er: „Nur nicht mehr daran denken, nur nicht mehr daran denken.”

„Nein, denke nicht mehr daran, mein guter Harry,” beeilte Frau Christa sich, ihren ganz gebrochen dasitzenden Mann zu trösten. Aber viel größer als ihr Wunsch, ihn zu beruhigen, war ihre Neugierde, zu erfahren, was ihr Harry denn nur Gemeines getan haben könne. Das mußte ja etwas Furchtbares gewesen sein, daß es ihn selbst heute noch derartig packte, und eigentlich hätte sie ihm so etwas gar nicht zugetraut. Für eine solche Schandtat kam er ihr selbst jetzt etwas zu philiströs vor, und wenn er sich damals so benahm, so war ihr das ein Beweis dafür, daß er doch nicht im vornehmsten Sinne des Wortes ein Kavalier war. Da merkte man es einmal wieder, daß er nicht Reserve-Offizier war. Ein solcher hätte sich einer Dame, noch dazu seiner Geliebten gegenüber nie etwas zuschulden kommen lassen, und auch ihr Graf Trattenbach würde bei dem Zusamensein mit ihr nie vergessen, daß er ein Graf war. Nein, er würde es nie vergessen haben, wenn sie wirklich zu ihm gekommen wäre, oder wenn sie wirklich eines Tages zu ihm kommen sollte. Aber nicht um den handelte es sich jetzt, sondern um ihren Mann; nein, um sie; nein, um ihre Neugierde, und so sprach sie weiter in tröstlicher Weise auf ihren Harry ein, bis der endlich sagte: „Also schön, Christa, wenn du es denn wissen willst, oder es wenigstens gern wissen möchtest, was ich mir damals zuschulden kommen ließ, will ich es dir sagen. Es ist vielleicht auch besser für uns beide, wenn ich fortan auch in dieser Hinsicht kein Geheimnis mehr vor dir habe. Das meiste aus meiner Junggesellenzeit habe ich dir ja schon erzählt, aber gerade diese eine Episode verschwieg ich dir. Nun aber sollst du die erfahren, ich werde dir nichts verheimlichen und ich werde mit meiner Erzählung bei dem Tage beginnen, da ich die mir damals noch unbekannte Schöne an einem herrlichen klaren Wintertag dadurch kennenlernte, richtiger gesagt, sie dadurch kennenzulernen versuchte, daß ich ihr einen Brief in ihren Muff schob.”

Frau Christa saß da, als glaube sie ihren Mann nicht richtig verstanden zu haben. Wie hatte der eben gesagt, er hatte der Dame einen Brief in ihren Muff geschoben? Auch er? Den Trick gab es also schon damals? Und sie hatte geglaubt — aber nein, ganz so wie heute zwischen ihrem Grafen und ihr durfte sich das damals zwischen ihrem jetzigen Mann und seiner damaligen Unbekannten nicht abgespielt haben und deshalb meinte sie jetzt so unbefangen wie nur möglich: „Was du mir da eben sagtest, Harry, verstehe ich nicht, das mußt du mir näher erklären. Auf offener Straße hast du dich ihr genähert, durch einen Brief, den du ihr in den Muff stecktest? Ja, wie bist du denn mit deinen Händen in ihren Muff gekommen?”

Ihr Mann lachte belustigt auf: „Gott erhalte dir dein harmloses Kindergemüt, Christa, so fragen, wie du es eben tatest, kann wirklich nur eine in jeder Hinsicht völlig unverdorbene Frau. Im übrigen war die Sache sehr einfach. Ich war für die Dauer eines Monats, um einen erkrankten Kollegen zu vertreten, als Referendar an das Amtsgericht von — na, den Namen der Stadt möchte ich dir lieber nicht nennen, sagen wir also einfach nach Dingsda versetzt. Sehr erfreut war ich darüber nicht, das auch schon deshalb nicht, da die Versetzung in den Winter fiel, in eine Zeit, da ich mich an meinem sonstigen Wohnsitz wenigstens geschäftlich sehr viel wohler gefühlt habe. Ich langweilte mich in den ersten Tagen, trotzdem es mir nicht an Dienst fehlte, in dem neuen Städtchen mordsmäßig, bis ich eines Vormittags auf dem Wege zum Gericht einer Dame begegnete, bei der ich nicht gleich wußte, was mir an der mehr gefiel, ihr Wuchs und ihr wirklich auffallend hübsches Äußere, oder ihre Art, sich in kostbare Pelze zu kleiden.”

„Sicher das letztere,” warf Frau Christa ein, in der sich unwillkürlich ein klein wenig Eifersucht gegen die Unbekannte regte.

„Kann sein, kann aber auch nicht sein,” gab ihr Mann zurück, „ich vermag mich heute nicht mehr darauf zu besinnen, ich weiß nur, daß ich nicht eher Ruhe hatte, bis ich glücklicherweise sehr bald erfuhr, wer die Dame war, die sonderbarerweise den anderen Herren in der Stadt nicht annähernd so gut zu gefallen schien wie mir, denn Gerda hat es mir später erzählt, es hätte ihr sehr geschmeichelt, als ich sie in meinem Brief „die schöne Frau Gerda” nannte, sie glaubte, aus meinen Zeilen herausgelesen zu haben, daß sie den Beinamen in der ganzen Stadt führte, und sie ahnte nichts davon, daß nur ich sie so nannte, weil mir die Bezeichnung vom Herzen kam, dann aber auch, weil ich wußte, daß ihr das schmeicheln würde.”

„Da hast du also deine spätere Geliebte eigentlich von Anfang an belogen und betrogen,” entfuhr es Frau Christa beinahe empört, denn wenn sie sich vorstellen sollte, daß auch sie gar nicht in der ganzen Stadt „die schöne Frau Christa” hieß, sondern daß nur der Graf sie so nannte — aber nein, bei ihr lag die Sache wesentlich anders, sie war tatsächlich „die schöne Frau Christa”, einer Dame wie ihr gegenüber erfand sich ein Herr, noch dazu ein Graf, eine solche Bezeichnung nicht. Aber von dem, was sie beschäftigte, durfte sie nichts verraten, deshalb meinte sie nun schnell: „Und wie ging die Sache weiter, Harry, wie hast du deinen Brief in ihren Muff hineinbekommen, ohne daß sie etwas davon merkte?”

„Auf die einfachste Weise von der Welt, Christa,” erzählte ihr Mann gelassen weiter, „ich rief ihr eines Morgens im Vorübergehen zu: „Gnädige Frau, Sie werden gleich Ihren Muff verlieren.” Auch das war natürlich eine Lüge, aber sie half, die Dame ließ den Muff unwillkürlich fallen, ich hob den auf, überreichte ihr den mit höflichen Worten und war für meine Person gleich darauf spurlos verschwunden, schon damit sie mir meinen Brief, den ich ihr schnell in den Muff steckte, nicht ungelesen zurückgeben konnte. Aber diese Befürchtung meinerseits war natürlich grundlos, denn es gibt auf der ganzen Welt keine Dame, die in einem ähnlichen Falle einen solchen Brief nicht liest.”

„Erlaube mal, Harry,” verteidigte sich Frau Christa erregt, „das käme doch wohl noch sehr auf die Dame an, und soviel weiß ich, wenn ein Herr sich mir gegenüber so etwas erlauben würde —”

„Erlaubt er sich ja gar nicht, Christa,” beeilte ihr Mann sich, sie zu beruhigen, „du würdest auf diesen uralten Schwindeltrick, deinen Muff zu verlieren, auch niemals hineinfallen und erst recht würdest du niemals glauben, wenn dir ein Herr jemals das schreiben sollte, was ich damals an Frau Gerda schrieb: daß ich auf meinen weiten Reisen noch niemals einer Frau begegnet wäre, die auch nur annähernd so schön sei wie sie.”

„Aber du bist doch gar nicht so viel gereist,” kam es nur mühsam über Frau Christas Lippen.

„Natürlich nicht, Christa, aber sollte ich der Schönen etwa schreiben: „In der kleinen Villenstraße, in der ich wohne, und in der nur sechs Häuser stehen, sah ich noch nie ein Weib so schön wie dich, auch nicht in dem kleinen Städtchen von nur siebzehntausend Einwohnern, in dem ich sonst meine Tage verbringe.” Das wäre das Falscheste gewesen, was ich hätte tun können. Nur weite Reisen imponieren, die aber imponieren immer. Da denkt die Empfängerin eines solchen Briefes sofort an das Ausland, Brüssel, Riviera, Süden, Madrid, was weiß ich.”

Und — und hat dir deine Frau Gerda, wie du sie nanntest, dir sofort deine weiten Reisen geglaubt?” erkundigte sich Frau Christa, der das Herz etwas unruhig zu schlagen begann.

„So etwas glauben Frauen immer, Christa, immer und auch Frau Gerda glaubte es sofort, nachdem sie den Brief natürlich gleich gelesen hatte.”

„Aber das kann sie doch unmöglich auf offener Straße getan haben?” entfuhr es Frau Christa unüberlegt.

„Natürlich nicht,” stimmte ihr Mann ihr bei, „das wäre von ihr zu unvorsichtig gewesen, deshalb ging sie, wie das Frauen in einem solchen Falle immer zu tun pflegen, in eine Konditorei. Aber als sie dort war, fühlte sie sich auch nicht sicher, sie fürchtete jeden Augenblick, es könne eine ihrer Bekannten kommen und es sehen, daß sie hier erst den Brief öffne.”

„Das hätte ich an deren Stelle auch befürchtet,” warf Frau Christa ein, die immer nervöser und nervöser wurde, um nun zu fragen: „Und wo hat sie den Brief dann schließlich gelesen?”

Einen Augenblick zögerte ihr Mann nun noch, dann meinte er: „Weißt du, Christa, der Ort, auf den Frau Gerda sich schließlich zurückzog, entbehrt nicht einer gewissen Komik. In der Konditorei fühlte sie sich nicht sicher, da suchte sie den Waschraum auf, aber auch die Tür dorthin hätte sich jeden Augenblick öffnen können und da, aber du mußt nicht lachen, Christa, da ging die schöne Frau eine Tür weiter, mit Erlaubnis zu sagen, in das W-C, zog den Riegel vor,” und hell auflachend setzte er hinzu: „Sag selbst, Christa, ist es nicht wahnsinnig komisch, einen Liebesbrief auf diesem verschwiegenen Ort zu lesen?”

Ihr Mann lachte, und wenn ihr selbst auch gar nicht danach zumute war, sie mußte mitlachen, wenn sie nicht verraten wollte, wie es in ihr aussah. In ihr kämpften die verschiedensten Empfindungen und Gefühle und mit einemmal wollte nun sogar auch noch der Gedanke in ihr wach werden: alles, was dein Mann dir da erzählt, als hätte er das selbst erlebt, ist nur eine Falle, in die du ihm hineingehen sollst. Er hat es heute morgen auf der Straße gesehen, wie du den Muff verloren hast, er hat es entweder, ohne daß du seine Nähe bemerktest, selbst gesehen oder es ist ihm erzählt worden, auch daß ein hübscher, eleganter, vornehmer Herr dir den Muff wieder aufhob. Und schlecht und mißtrauisch wie die Männer nun einmal sind, hegt er den Argwohn, der Fremde könnte dir einen Brief in deinen Muff gesteckt haben, und er will dich nun mit allem, was er sagt, auf das Glatteis führen.” Und da lachte sie wirklich plötzlich ganz hell auf, denn der Verdacht, den sie eben hatte, war tatsächlich zu komisch gewesen. Ach nein, ihr Harry konnte von ihrem kleinen Erlebnis nichts wissen und nichts ahnen, und er war auch von Natur aus absolut nicht eifersüchtig veranlagt. Und daß der die Absicht haben sollte, sie, wie man so sagt, hineinzulegen, das gab es nicht, und selbst wenn, würde es ihm nicht gelingen. Höchstens schlug sie ihm ein Schnippchen, aber er ihr? Das war wirklich zum Lachen und lachend meinte sie nun: „Das ist allerdings sehr drollig, Harry, aber hat deine dir damals noch persönlich Unbekannte dir von derselben Stelle aus, auf der sie den Brief las, den auch beantwortet? Und vor allen Dingen, warst du so unvorsichtig, deinen Brief mit deinem vollen Namen zu unterschreiben? Das hätte doch sehr gefährlich werden könne, denn wenn diese sogenannte schöne Frau Gerda ihr Erlebnis ihrem Mann erzählt und wenn der dich gefordert hätte —”

„Ja, wenn, wenn und abermals wenn,” unterbrach ihr Mann sie, „wenn ja, dann hätte die Sache vielleicht ein klein wenig unangenehm für mich werden können, aber alle Frauen sind nicht so wie du, Christa. Daß du mir ein an dich gerichtetes Billett zu lesen gegeben hättest, noch bevor du es selber lasest, ist ja selbstverständlich.”

„Selbstverständlich, mein Harry,” pflichtete Frau Christa ihm bei, ohne es selbst zu bemerken, daß sie in diesem augenblick zum erstenmal die Anrede „mein Harry” gebrauchte.

Aber ihr Harry merkte es und gerade deshalb wiederholte er nun noch einmal: „Die Frauen sind nicht alle so wie du, Christa, so in jeder Hinsicht über jeden Zweifel erhaben, das heißt,” verbesserte er sich schnell, „ich will mit dem Lob, das ich dir zolle, natürlich keinen Tadel über die schöne Frai Gerda aussprechen. Nebenbei bemerkt war sie nicht nur eine sogenannte, sondern tatsächlcih eine sehr schöne Frau, aber das gehört ja nicht hierher, dich interessiert vorläufig nur, ob ich meinen vollen Namen unter das Billett setzte. Allerdings ist diese deine Frage beinahe etwas beleidigend, denn als Ehrenmann schreibt man einer Dame nicht anonym, sondern man setzt unter das, was man schreibt, seinen Namen, wenn auch nicht gerade seinen richtigen, sondern mehr ein Pseudonym, möglichst ein adliges, das aber in keinem Gothaischen Adels-Kalender zu finden ist. Erstens zieht so etwas immer, zweitens kann die betreffende Dame, wenn der Brief durch einen unglücklichen Zufall bei ihr gefunden wird, mit gutem Gewissen beschwören, daß sie einen Herrn dieses Namens absolut nicht kenne.”

„Aber sehr anständig finde ich es trotz alledem nicht, sich einer Dame unter einem fremden, noch dazu unter einem adligen Namen zu nähern,” kam es etwas schwer über Frau Christas Lippen, denn wenn ihr Graf wirklich kein Graf sein sollte — aber nein, der war einer, sie war bereit, jeden Eid darauf abzulegen. Kein Bürgerlicher konnte selbst in einem so vornehmen Pelz, wie er ihn trug, einen derartig aristokratischen Eindruck machen.

„Ob anständig oder nicht,” verteidigte ihr Mann sich, „darauf kommt es in einem solchen Falle nicht an, sondern lediglich darauf, daß man im Interesse der Dame so vorsichtig wie nur möglich zu Werke geht. Hat man sich erst näher kennengelernt, sagt man einander ganz von selbst, wer man ist. Bei dem Briefschreiben ist das völlig gleichgültig.”

„Und diese Frau schrieb dir also wieder?” erkundigte sich Frau Christa, um aus ehrlichster Entrüstung hinzuzusetzen: „Diese Dame schämte sich nicht, obgleich sie verheiratet war, dir deinen Brief mit eigener Hand zu beantworten?”

„Mit eigener Hand natürlich nicht, Christa,” belehrte ihr Mann sie, „Frau Gerda schrieb mir mit der Schreibmaschine. Ihr Gatte war Rechtsanwalt, der hatte in seinem Büro [Bureau - im 11. - 13. Tsd.], das sich in seiner Wohnung befand, viele Tippfräuleins sitzen und in der Mittagspause, als die jungen Damen alle fort waren, hat sie die Antwort an mich auf der Maschine zusammengetippt, weißt du, so mit einem Finger, wie die Kinder auf dem Klavier spielen. Na die hübsche Frau Gerda hatte sich da ein schönes Zeug zusammengeschrieben, der Brief wimmelte von Fehlern, aber das war auch gleichgültig, die Hauptsache blieb, daß sie schrieb und daß sie ihren schriftlichen Schwur, meine Bitte, mir eine Stunde des Alleinseins zu schenken, unter gar keinen Umständen erfüllen zu wollen, nicht hielt.”

Frau Christa sah ihren Mann mit großen, entsetzten Augen an: „Das hat sie dir geschworen, Harry, sogar auf der Schreibmaschine? Obgleich ich es absolut nicht verstehe, wie man einen persönlichen Brief, wie den deinen, auf der Maschine beantworten kann, noch dazu, bevor man die vollständig beherrscht. Man kommt da doch leicht in den Verdacht, zwar äußerlich schön, aber dennoch so ungebildet zu sein, daß man nicht einmal richtig deutsch schreiben kann. Aber davon ganz abgesehen, diese Frau Gerda hatte dir geschworen, nicht zu kommen, und sie kam trotzdem?”

Ihr Mann zündete sich eine neue Zigarette an, dann meinte er: „Christa, wenn du nicht eben du wärest, würdest du wissen, daß die Damen der Gesellschaft, die etwas auf sich halten, in solchem Falle immer schwören, daß sie nicht kommen werden. Eine Absage heißt: ich komme, eine Zusage heißt: ich komme nicht. Damit soll natürlich nicht gesagt sein, daß die Dame von Anfang an die Absicht hat, ihren Schwur nicht zu halten. Im Gegenteil, sie ist sogar felsenfest entschlossen, dem treu zu bleiben, aber wenn es dann soweit ist, tut sie gerade das, was sie nicht tun wollte. Die da absagte, will sich davon überzeugen, ob der Herr trotz des Korbes, den sie ihm sandte, noch auf ihren Besuch zu hoffen wagte, und die da von Anfang an zusagte, die läßt ihn warten, damit er sich desto mehr freut, wenn sie am nächsten oder am übernächsten Tage doch noch zu ihm kommt, denn kommen tut auch sie. Kommen tun sie alle, alle, alle! Daß es aber trotzdem selbstverständlich rühmliche Ausnahmen gibt, brauche ich dir, liebe Christa, wohl nicht erst zu sagen.”

„Nein, das hast du wirklich nicht nötig, Harry,” kam es gereizt über Frau Christas Lippen, „aber nun erzähle bitte weiter, also diese Frau Gerda kam —”

„Ja, Christa, sie kam; sie kam aber selbstverständlich nur, um mir zu sagen, daß sie nicht kommen könne, daß sie gar keine Zeit habe und daß sie spätestens in fünf Minuten wieder fort müsse. Aber in der hübschen, behaglichen Junggesellenwohnung, die ich mir damals gemietet hatte, fühlte sie sich so wohl, der Tee und die Süßigkeiten schmeckten ihr so gut, und da sie wußte, daß sie bei mir vor jeder Überraschung sicher war, vergingen die fünf Minuten so schnell, daß aus denen plötzlich fünf Stunden geworden waren.”

Es hätte nicht viel gefehlt und Frau Christa wäre auf ihrem Stuhl in Ohnmacht gefallen. „Wie lange ist diese Frau Gerda bei dir geblieben, Harry?” fragte sie endlich, nachdem sie sich von ihrem ersten Schrecken und Erstaunen erholt hatte. „Fünf Stunden?”

„Aber das ist doch nicht lange, Christa,” gab ihr Mann zurück, „du hast keine Ahnung, wie schnell da die Zeit vergeht. Zuerst trinkt man in aller Ruhe und Behaglichkeit seinen Tee, dann hat man sich unendlich viel zu erzählen, man muß sich küssen und sich sagen, daß man einander lieb hat, und wenn man sich geküßt hat, kann man doch auch nicht gleich wieder auseinandergehen, da muß man sich erst recht sagen, wie lieb man sich hat, und man muß sich doch auch noch gegenseitig schwören, daß man einander immer lieb behalten wird. Nein wirklich, Christa, du brauchst mich gar nicht so entsetzt anzusehen, die Zeit fliegt bei einem solchen heimlichen Beisammensein nur so dahin und bei der schönen Frau Gerda und bei mir war das auch der Fall, so oft wir uns wiedersahen. Es war eine köstliche Zeit, die wir zusammen in einem heimlichen, aber gerade deshalb doppelt und dreifach süßen Liebesrausch verlebten, bis dann der Abend kam, an dem ich von rasender Eifersucht befallen durch eigene Schuld unserm Glück ein vorzeitiges Ende bereitete. Lange hätte es sowieso nicht mehr andauern können, denn meine Zurückberufung an meinen alten dienstlichen Wirkungskreis stand dicht bevor, aber trotzdem oder gerade deshalb hätte ich mich beherrschen und den schönen Stunden nicht einen so häßlichen Abschluß geben dürfen.”

In Erinnerung an das, was war, stöhnte ihr Mann nun so schwer auf, daß Frau Christa ihm tröstend zurief: „Was du auch immer tatest, Harry, ich würde es an deiner Stelle heute nicht mehr schwer nehmen, denn alles gehört doch längst der Vergangenheit an. Wer weiß, ob diese Frau Gerda heute überhaupt noch lebt, ob sie sich deiner noch erinnert, und wenn du damals glaubtest, Grund zur Eifersucht zu haben —”

„Ja, das glaubte ich wirklich,” fiel ihr Mann ihr rasch in das Wort, um gleich darauf lebhaft fortzufahren: „Gerade an jenem Nachmittag, an dem das Schreckliche geschah, hatten wir wundervolle Stunden verlebt. Frau Gerda war schöner, lebenslustiger und übermütiger denn je. Wir umarmten und küßten uns wie toll, als hätten wir einander noch nie angehört, oder als wäre es wenigstens das erstemal, und da mitten in den zärtlichsten Liebkosungen, als ich wachend davon träumte, diese Stunde des Glückes immer und ewig genießen zu dürfen, da geschah es ganz plötzlich und unvermittelt, daß Frau Gerda mir erzählte, sie müsse heute früher als sonst zu Hause sein, ihr Mann —. Ich weiß nicht mehr, was mit dem los war, ich glaube, er kam von einer Reise zurück oder so etwas Ähnliches, genug, Frau Gerda sprach mir von ihrem Mann, obgleich wir beide schon aus Taktgefühl bisher immer vermieden hatten, ihren Gatten jemals auch nur mit einer Silbe zu erwähnen. Und als sie das nun tat, da kam mir das so sonderbar vor, daß sich mir unwillkürlich der Verdacht aufdrängte: aha, den Gatten nennt sie und einen anderen meint sie! Die Eifersucht packte mich, ich wurde den fürchterlichen Gedanken nicht los: sie liebt nicht nur dich, sie liebt auch noch einen Dritten. Dem hat sie für heute abend ein Zusammensein versprochen und um das zu ermöglichen, schiebt sie nun ihren Mann vor. Das alles sagte ich ihr auch in das Gesicht, und als sie es unter ihrer Würde hielt, sich auch nur mit einer Silbe gegen meine Anklagen zu verteidigen, als sie die schweigend nur mit einem Lächeln auf den Lippen anhörte, da glaubte ich, in alledem nur einen Beweis ihrer Schuld zu sehen. Aber sie sollte und sie durfte nicht von mir gehen. Ich bat und beschwor sie, bei mir zu bleiben, gerade heute die Stunden unseres Glückes nicht zu kürzen, aber sie gönnte mir kein Wort der Entgegnung, sondern machte sich lediglich aus meinen Armen frei und begann sich anzukleiden. Und als sie das tat, während ich mir dabei vorstellte, daß vielleicht nach einer oder zwei Stunden ein anderer, ein Dritter, es mit ansehen dürfe, wie sie sich in seiner Gegenwart, oder wenigstens für ihn entkleidete, als ich sie, die eben ihr Korsett angelegt hatte, so vor mir sah, da verlor ich meine klare Überlegung. Da wußte ich vor Liebe, vor Eifersucht und vor Wut nicht mehr, was ich tat. ich war meiner selbst nicht mehr Herr und fast besinnungslos wie ich war, stürzte ich auf meinen Schreibtisch zu, ergriff dort die ganz lange, große, spitze, haarscharfe Papierschere und stürzte damit auf Frau Gerda zu.”

Aus Frau Christas Mund kam ein gellender Schrei der Angst und des Entsetzens, bis sie nun fragte: „Und da — da — Harry, gestehe mir die Wahrheit, da hast du sie getötet?”

Ihr Mann strich sich ein paarmal mit der Hand über die Stirn, so daß sie ihm deutlich anmerkte, er mußte sich erst wieder auf sich selbst besinnen, dann meinte er mit fast tonloser Stimme: „Getötet, Christa? nein, das tat ich nicht, dann säße ich heute wohl nicht bei dir, sondern hätte meine Schuld auf dem Schafott oder im Gefängnis gebüßt. Außerdem, selbst wenn ich sie hätte töten wollen, das wäre nicht gegangen. Ich sagte dir schon, daß sie das Korsett anhatte, der Weg zu ihrem Herzen wäre also durch die Korsettstangen versperrt gewesen. Nein, getötet habe ich sie nicht, das war auch gar nicht meine Absicht, ich wollte sie nur daran verhindern, mich zu verlassen. Sie mußte und sollte bei mir bleiben, und weißt du, was ich da tat, Christa? Da schnitt ich mit einem einzigen Schnitt der langen scharfen Schere von oben bis unten in dem auf dem Rücken ein ganz klein wenig offenstehenden Korsett das Korsettband durch, und als das Korsett, da es nun an ihrem Körper keinen Halt mehr hatte, zu Boden fiel, da hob ich es rasch auf und rief ihr hohnlachend zu: „So, gnädige Frau, nun ziehen Sie sich bitte weiter an, wenn Sie es können.”

Von dem Geständnis seiner Schuld erschöpft fuhr sich ihr Mann mit dem seidenen Taschentuch über die heiße Stirn, Frau Christa aber saß starr und regungslos da, bis sie ihm endlich zurief: „Harry, was du da tatest, war mehr als gemein von dir. Ich habe dich bisher stets für einen Ehrenmann gehalten, aber daß du an einer Dame, die dir den größten Beweis ihrer Liebe gab, und die du wiedergeliebt zu haben behauptest, daß du an der so schamlos handeln konntest, dafür habe ich überhaupt gar keine Worte.”

„Ich selbst habe die auch nicht, Christa,” stimmte er ihr ganz geknickt bei, „aber nun wirst du es begreifen, daß mich auch heute noch die Scham und die Reue packt, wenn ich an das denke, was ich an jenem Abend tat, obgleich ich damals für mein Verhalten einen Entschuldigungsgrund hatte.”

„Etwa deine Liebe?” fragte Frau Christa mehr als spöttisch, und da ihr Mann nicht den Mut hatte, sich gegen diesen ihren Spott zu verteidigen, herrschte eine ganze Weile zwischen beiden tiefes Schweigen, bis Frau Christa endlich fragte: „Und wie endete die Sache, blieb diese Frau Gerda bei dir?”

„Das schon, Christa,” gab ihr Mann kleinlaut zur Antwort, „aber mit dem Austausch von Zärtlichkeiten war es nun erst recht vorbei. Frau Gerda bekam einen Weinkrampf, wie ich einen solchen nie für möglich gehalten hätte, bis sie schließlich kategorisch von mir verlangte, ich solle und müsse ihr ein neues Korsettband besorgen, denn ohne dem könne sie sich nicht anziehen und ohne Korsett könne sie nicht nach Hause kommen, denn daß sie das in Papier gewickelt in der Hand trüge, ginge erst recht nicht. Das sah ich auch ein, aber wie sollte ich ihren Wunsch erfüllen? Die Geschäfte waren schon geschlossen, meine Wirtin hatte ich, wie stets, wenn ich Besuch erwartete, fortgeschickt, da war wirklich guter Rat teuer, bis ich endlich in einer Schublade ein Band fand, das zwar nicht in das Korsett eingezogen werden konnte, das wir aber um das Korsett herumbanden, so daß es immer noch einen ganz leidlichen Sitz hatte. Bald darauf verließ Frau Gerda mich, nachdem sie mir geschworen hatte, nie, nie wieder zu mir zu kommen.”

„Und den Schwur hat sie hoffentlich gehalten, denn sonst müßte ich sie geradezu bodenlos verachten,” fiel Frau Christa ihm in das Wort.

„Ja, den hielt sie,” pflichtete ihr Mann ihr bei, „aber wenn sie nicht wiederkam, hatte das, glaube ich, auch noch einen anderen Grund, denn am nächsten Tage schrieb sie mir, sie wäre auch jetzt noch vor Angst mehr tot als lebendig. Als sie von dem Besuch bei mir nach Hause kam, hatte ihr Mann sie bereits erwartet. Das und manches andere teilte sie mir wohl hauptsächlich nur deshalb mit, damit ich noch nachträglich einsähe, daß mir jeder, aber auch der leiseste Grund zu meiner häßlichen Eifersucht und zu meinem schandbaren Benehmen gefehlt habe. Aber sie schrieb mir nicht das allein. Allerdings deutete sie als vornehme Frau das Weitere mehr an, als daß sie es in den Einzelheiten schilderte, und deshalb möchte auch ich mich nicht in solche verlieren. Genug, als Frau Gerda zu Hause ihrem Mann entgegentrat, um den zu begrüßen, verspürte ihr Gatte Gott weiß aus welchen Gründen einen wahren Liebeshunger nach seiner Frau. Und wenn die ihm auch seine Gedanken auszureden oder ihn wenigstens auf eine spätere Stunde zu vertrösten versuchte, so hatte sie dennoch kein Recht, sich ihm vorzuenthalten, als er sie immer stürmischer begehrte. Und da, bei der Gelegenheit, sah ihr Mann das von mir an ihrem Korsett angerichtete Unheil.”

Abermals stieß die schöne Frau Christa einen Schrei der Angst und des Entsetzens aus, dann aber meinte sie: „Harry, ich sagte dir schon vorhin, du hättest gemein und ehrlos an dieser Frau gehandelt, jetzt aber sehe ich es ein, selbst diese Ausdrücke reichen für dein Benehmen nicht aus. Ich will diese sogenannte schöne Frau Gerda ganz gewiß nicht verteidigen, nichts liegt mir ferner, denn trotz des Beispiels, das auch Frau Kitty mir gab, vermag ich mir bei dem besten Willen nicht vorzustellen, daß auch ich jemals, oder richtiger gesagt, daß eine wirklich anständige Dame sich jemals einem anderen Mann hingeben kann, als dem, dem sie vor dem Altar ewige Treue schwur, obgleich das ja eigentlich bis zu einem gewissen Grade wenigstens in den meisten Fällen etwas sehr viel verlangt ist, denn man lernt sich doch erst in der Ehe kennen und weiß erst dann, ob der andere Teil diese eidlich gelobte Treue auch verdient. Aber trotz alledem, in eine solche Situation hättest du die arme Frau nicht bringen dürfen, niemals. Was hat denn nur der Ehemann zu der Sache gesagt, ist es vielleicht deinetwegen zwischen den beiden zu einer Ehescheidung gekommen?”

Ihr Harry machte eine ablehnende Handbewegung: „Hat sich was mit Ehescheidung, Christa, allerdings, das hat Frau Gerda mir brieflich eingestanden, für eine kurze Sekunde ist die Lage sehr kritisch gewesen, wenigstens für sie, dann aber ist ihr ein genialer Einfall gekommen und sie hat sich aus der Bedrängnis, in der sie sich befand, in wahrhaft glänzender Weise herausgelogen.”

Frau Christa atmete erleichtert auf, als wäre sie selbst in jener Minute gerettet worden: „Das freut mich, Harry, das freut mich sehr. In erster Linie natürlich deinetwegen, denn wenn es zwischen den beiden zu einer Scheidung gekommen wäre, hättest du als Ehrenmann diese Frau Gerda selbstverständlich heiraten müssen und wer weiß, ob du mit der so glücklich geworden wärest, wie du es mit mir bist. Aber was du mir da sagtest, freut mich auch sehr für die Frau Gerda. Ich vermag mich zwar absolut nicht in eine solche Lage hineinzudenken und ich hätte damals vor Angst, nein, vor Scham und Reue erbarmungslos sofort einen Herzschlag bekommen. Es ist mir auch rätselhaft, wie deine Geliebte sich herauslügen konnte, aber die Hauptsache bleibt, daß es ihr gelang,” bis sie nach einer kleinen Pause hinzusetzte: „Und ihr Mann hat ihr diese Lüge geglaubt?”

„Wären die beiden sonst wohl noch heute miteinander verheiratet und sogar glücklich verheiratet?” gab ihr Mann zurück. „Merke dir eins, Christa, ein Mann glaubt in solchem Falle immer alles, oder er stellt sich wenigstens so, und darauf kommt es ja für die Frau hauptsächlich an. Aber Frau Gerdas Gatte scheint ihr tatsächlich geglaubt zu haben. Immerhin war die Ärmste selbst am nächsten Tage von der ausgestandenen Angst noch halbtot und schon deshalb haben wir uns nicht wiedergesehen, wenigstens nicht mehr unter vier Augen. Und damit, Christa, ist die Schilderung dieses Erlebnisses, an das ich auch jetzt nicht zurückdenken kann, ohne mich meines Verhaltens zu schämen, beendet, und ich weiß eigentlich gar nicht mehr, wie ich dazu gekommen bin, dir alles zu erzählen.”

„Ja, das weiß ich offen gestanden auch nicht,” meinte Frau Christa, „aber doch, jetzt fällt es mir wieder ein, wir sprachen von Frau Kitty und im Zusammenhang damit fragte ich dich, ob auch du jemals einer verheirateten Frau nähergestanden hättest. Aber nun, da ich alles weiß, sehe ich ein, ich hätte dich lieber nicht fragen sollen, denn das, was ich von dir erfuhr, gereicht dir offen gestanden wenig zur Ehre. Na, aber das alles ist gewesen und gehört längst der Vergangenheit an. Sprechen wir jetzt also von etwas anderem, dann werde ich hoffentlich bald wieder für immer vergessen, wie du dich damals benommen hast. Schön war es wirklich nicht, Harry.”

Und was Frau Christa ihrem Mann mit aller Deutlichkeit sagte, das sagte sie sich selbst erst recht, als sie endlich in ihrem Bett lag und nochmals über alles nachdachte, was ihr Mann ihr erzählte. Wenn sie ganz offen und ehrlich sein wollte, dann hatte ihr Harry sich benommen wie ein ganz ungebildeter Mensch, der zum erstenmal mit einer wirklichen Dame zusammenkommt und der nicht weiß, wie er sich in deren Gegenwart zu verhalten hat. Schon daß er sich dieser Frau Gerda unter einem falschen Namen, noch dazu unter einem adligen näherte, war skandalös, das tat kein wirklicher Herr, das tat höchstens einmal zur Not ein Handlungsreisender, ohne daß sie durch diesen Vorwurf diesem ehrenwerten Stand zu nahe treten wollte. Aber das tat kein geborener Kavalier. Und dann die Geschichte mit der Schere! Gewiß, sie hatte ihren Harry lieb, sie hatte ihn immer noch lieb, obgleich er der Frau Gerda vorschwindelte, er habe weite Reisen gemacht und habe auf diesen nie eine Frau gesehen, die ihr glich! Wie konnte ein Mann nur so lügen, wie konnte ein solcher überhaupt jemals von der Wahrheit abweichen, und wenn er es doch einmal in seinem Leben getan hatte, wie konnte er nur so dumm sein, das seiner eigenen Frau einzugestehen und die dadurch auf den Gedanken zu bringen, selbst einmal zu lügen, wenn die Umstände es erforderlich machten? Aber das schlimmste war und blieb die Geschichte mit der Schere. Und wenn sie sich vorstellte, daß vielleicht auch andere Männer so handeln konnten, und daß womöglich auch der Graf Trattenbach ihr das Korsettband durchschnitte — aber nein, das war alles ein Unsinn, denn sie ging doch unter gar keinen Umständen zu ihm, und wenn doch, war sie bei dem ganz sicher, daß er bessere gesellschaftliche Formen besaß, als damals ihr Harry, nein, als ihr Mann, denn daß sie den bei Vornamen nannte, verdiente er vorläufig nicht. Welche Todesangst mußte die arme Frau Gerda ausgestanden haben und wie raffiniert mußte die sein, daß es ihr gelungen war, sich vor ihrem Mann herauszulügen. Aber das gestand sie sich offen ein, sie selbst wäre da um eine Ausrede auch nicht verlegen gewesen, denn das war man in solchem Falle schon dem Mann schuldig, daß man den gar nicht auf den Gedanken kommen ließ, man habe ihm etwas zu verheimlichen. Aber trotzdem, besser war es natürlich, wenn man sich gar nicht in die Lage brachte, sich ein Märchen erfinden zu müssen. Aber auch die Märchen hatten ihren Reiz, nicht nur für die Kinder, es gab sogar in den Büchern Märchen für Erwachsene und die waren oft viel amüsanter als die ewigen Liebesromane, die dort enden, wenn die Liebe sich erst als Liebe erweisen soll, bei der Ehe.

Frau Christa lag in ihrem Bett und sann und träumte vor sich hin, bis sie sich plötzlich entschloß, sich gleich morgen die Gewißheit zu verschaffen, ob ihr Graf wirklich ein Graf sei, oder ob auch er sich mit Unrecht einen solchen Namen zugelegt habe, nur um ihr damit zu imponieren, wie ihr Mann das nannte. Und als sie am nächsten Vormittag bei ihrem Buchhändler gewesen war und sich dort den gräflichen Taschenkalender gekauft hatte, da wußte sie, was sie von Anfang an gewußt hatte, er war tatsächlich ein Graf, war siebenundzwanzig Jahre alt, denn nur er konnte der Graf Trattenbach sein, der augenblicklich hier in der Stadt weilte, denn im Gothaer stand hinter seinem Namen als Wohnort in Klammern: zur Zeit auf einer Weltreise begriffen. Sicher befand er sich nun auf dem Rückweg in seine nordische Heimat, denn von hier nach Schweden, wo er ansässig war, war es nur noch eine kurze Fahrt. Was mochte er nicht alles unterwegs auf seiner Weltreise gesehen haben. Sicher mußte es wahnsinnig interessant sein, seinen mündlichen Schilderungen zu lauschen, und soviel wußte sie plötzlich, wenn sie nicht eine über jeden Zweifel erhabene treue Frau wäre, dann wäre sie vielleicht, aber auch nur vielleicht, der Versuchung unterlegen, ihm die Gelegenheit zu geben, sie näher kennenzulernen, wenn natürlich auch nicht so nahe, wie er es sich wünschte und wie auch sie es sich vielleicht, nein sicher, auch gewünscht haben würde, wenn — —

Ach ja wenn! Frau Christa seufzte schwer auf. Man lebte nur einmal, und wenn es auch sicher sehr schön war, sich als edle Frau in seiner Grabrede nachsagen zu lassen, daß man in jeder Hinsicht ein leuchtendes Vorbild aller weiblichen Tugenden gewesen sei, noch schöner mußte es eigentlich sein, die Freuden dieses Lebens ausgekostet zu haben, vorausgesetzt selbstverständlich, daß es wirklich zu den Freuden gehörte, sich auch einmal einem anderen Mann als dem eigenen hinzugeben. Ob das tatsächlich eine Freude war oder nicht, das konnte man doch nur dann beurteilen, wenn, ja wenn —

Frau Christa kam aus dem Wenn gar nicht mehr heraus, obgleich sie felsenfest entschlossen war, der Stimme der Versuchung nicht zu unterliegen. Aber darüber täuschte sie sich nicht, groß war die Versuchung, in der sie sich befand. Der Fremde, ihr Graf, hatte es ihr angetan, ohne daß sie sich recht zu erklären vermochte weshalb und wodurch. Auf jeden Fall dachte sie nur an ihn und sie vergaß dabei immer mehr, daß sie verheiratet war. So sehr waren ihre Gedanken bei dem anderen, daß sie laut um Hilfe gerufen haben würde, wenn ihr Harry, nein ihr Mann, plötzlich aus irgend einem Grunde zu ihr in das Schlafzimmer gekommen wäre, weil sie da geglaubt hätte, ein ihr gänzlich fremder Mann träte bei ihr ein. So sehr dachte sie an den andern und dabei war sie ihrem Mann doch eine in jeder Hinsicht tadellos treue Frau, wie würde sie da erst an den Grafen denken, wenn —

Schon wieder dieses entsetzliche, dumme Wenn. Aber süß und mollig und wohltuend war es doch, daran zu denken, und es war wohl erst recht süß, davon zu träumen. Aber als Frau Christa endlich mit diesem festen Vorsatz eingeschlafen war, da träumte sie von ganz anderen, völlig gleichgültigen Dingen, für die sie nicht einmal wachend irgend welches Interesse gehabt hätte: von einer Anprobe, bei der ihr die Näherin eine kostbare Bluse total, aber auch total verpfuscht hatte, und als sie mit dem Traum fertig war, träumte sie, sie säße bei ihrem Zahnarzt auf dem Marterstuhl und ließe sich von dem mit der Bohrmaschine auf einem bloßliegenden Nerven herumradeln. Und solche harmlos scherzhaften Sachen träumte sich Frau Christa noch eine ganze Menge zusammen, aber das, was sie träumen wollte, träumte sie doch nicht und deshalb hatte sie beinahe ein schlechtes Gewissen, als sie am nächsten Vormittag auf der Promenade ihren Grafen sah. Ihr war, als müsse sie sich etwas vor dem schämen, denn sicher hatte der sich die ganze Nacht hindurch in seinen Gedanken mit ihr beschäftigt, während sie selbst — aber nein, sie brauchte sich nicht zu schämen, sie hatte den festen Vorsatz gehabt, auch ihrerseits im Schlaf nur ihn zu sehen, und wenn ihr das nicht gelang, war das ganz gewiß nicht ihre Schuld. So hatte sie also gar keine Ursache, die Augen niederzuschlagen, wenn er ihr nachher in die hineinsehen würde. Dazu hätte sie vielleicht eher Veranlassung gehabt, wenn sie tatsächlich von ihm geträumnt hätte. Nein, dann erst recht nicht, oder vielleicht doch, wer konnte das wissen, das hing ganz von dem ab, was sie geträumt haben würde. Aber sie hatte ja gar nicht von ihm geträumt, und selbst wenn, dann würde sie ihm das nicht dadurch verraten haben, daß sie seine Blicke nicht völlig ruhig und unbefangen erwiderte, so unbefangen, wie es nur eine treue Gattin vermag, die noch nie daran gedacht hat, ihrem Mann untreu zu werden, und die für ihre Person nichts dafür kann, wenn ihr trotzdem solche Gedanken einmal im Schlafe kommen.

Frau Christa wußte selbst nicht recht, was sie sich da alles zusammendachte, während sie den Grafen vor sich hergehen sah. Noch lieber wäre es ihr selbstverständlich gewesen, er wäre ihr entgegen gekommen, aber auch von rückwärts gefiel er ihr sehr gut. Da sah sie eigentlich noch viel besser als von vorn seine untadelhafte Figur, seinen stolzen aufrechten Gang und seine Art, den kostbaren Pelz zu tragen. Wenn sie ganz offen sein sollte, der Graf gefiel ihr viel besser als ihr Mann, aber das war dessen Schuld, schon weil er ihr Mann war, und eigentlich hatte sie den ja auch gar nicht geheiratet, sondern er sie. Da mußte er es sich gefallen lassen, daß sie ihn nun mit einem anderen verglich und daß dieser Vergleich nicht zu seinen Gunsten ausschlug. Das auch schon deshalb, weil man sich den eigenen Mann, selbst wenn man ihn noch so lieb hat, mit der Zeit ein ganz klein wenig über sieht.

Ob sie sich auch den Grafen mit der Zeit über sehen würde, wenn der ihr Mann geworden wäre? Aber Frau Christa kam nicht dazu, eine Antwort auf diese Frage, die sich ihr plötzlich aufdrängte, zu finden, denn sie bemerkte, wie der Graf jetzt vor dem großen Schaufenster eines Eckhauses stehen blieb und dort aufmerksam die Auslagen betrachtete. Was mochte dort nur sein Interesse erregen und was gab es in dem Geschäft zu kaufen? Und nun fiel es ihr ein, sie war selbst schon oft in dem Laden gewesen, in dem es nur Messer und Scheren gab, hauptsächlich aber Scheren jeglicher Art und jeder Größe. Und da wurde plötzlich ein furchtbarer Verdacht in ihr wach. Aber nein, mit dem tat sie ihrem Grafen sicher unrecht, er war doch nicht ihr Mann und würde niemals so gemein handeln, wie der es an Frau Gerda tat, und außerdem wußte er doch noch gar nicht, ob sie seiner Einladung Folge leisten würde. Nein nein, was sie da annahm, sah dem Grafen wirklich nicht ähnlich und deshalb bat sie ihn sofort im stillen wegen ihrer häßlichen Gedanken um Verzeihung. Aber als der Graf nun den Laden betrat und sie selbst eine Minute später ihrerseits vor dem Schaufenster stand, da lagen in dem in erster Linie nur große Papierscheren aus. Frau Christa konnte sich nicht helfen, aber sie fühlte sich beinahe einer Ohnmacht nahe und ihre Kniee fingen an zu zittern. Dann aber gab sie sich mit aller Gewalt einen Ruck, sie wollte und sie mußte sich beherrschen und es war ihrer und seiner unwürdig, ihn in dieser Weise zu verdächtigen. Gott mochte wissen, was er sich in dem Laden kaufte. Jetzt sah sie es auch, es lagen in dem Fenster viele Nagelscheren, die allerdings so winzig klein waren, daß ihr die nicht gleich auffielen. Sicher kaufte er sich eine solche und auch ihr fiel es jetzt ein, daß sie sich schon längst eine neue schmale Schere hatte kaufen wollen. Bisher hatte sie das immer wieder vergessen, jetzt aber wollte sie den Einkauf gleich besorgen, schon weil sie mehr als neugierig war, was ihr Graf wohl für ein Gesicht machen würde, wenn sie plötzlich den Laden betrat. Und wie würde er sich wohl benehmen? Ansprechen konnte er sie ja unmöglich, aber ob er sie grüßte? Auch das durfte er eigentlich nicht, aber einer Dame gegenüber, der er heimlich einen Brief in den Muff steckte, konnte er doch auch nicht so tun, als sähe er sie jetzt zum erstenmal. Irgendein Zeichen, daß er sich des Wiedersehens mit ihr freue, mußte er ihr geben, aber was würde das für ein heimliches Zeichen des Einverständnisses sein?

Auf alle diese Fragen vergebens Antwort suchend, betrat Frau Christa nun den Vorflur des Eckladens, um von dort aus, bevor sie die große Glastür öffnete, durch diese hindurch einen Blick in den Laden zu werfen. Aber was sie da sah, ließ ihr das Blut in den Adern erstarren, denn vor dem Ladentisch stand der Graf und hatte sich von den vielen großen Scheren, die die Verkäuferin vor ihn hinlegte, die allergrößte ausgesucht. Aber selbst die, die er nun in der Rechten hielt, schien ihm noch nicht groß genug zu sein, denn seine linke Hand von der Spitze ein ganzes Stück abhaltend, deutete er dadurch an, wie groß er sich die Schere denke, während die Verkäuferin vor ihm stand und zu überlegen schien, ob sie ihm dienlich sein könne, bis die nun plötzlich davoneilte, wohl um das Gewünschte zu holen.

Das aber wartete Frau Christa nicht ab, sie hatte mehr als genug gesehen und sie wußte ja auch, wofür er die Schere brauchte, für sie, für ihr Korsett, für ihren Besuch, wenn sie zu ihm kam und wenn er sie zwingen wollte, länger zu bleiben, als es nach ihrer ehrlichsten Überzeugung möglich war, nein, möglich gewesen wäre, denn sie hatte doch noch nie eine Minute daran gedacht, seiner brieflichen Aufforderung Folge zu leisten. Vor Gott und vor jedem Richter konnte sie es mit gutem Gewissen beschwören, sie hatte nicht einmal davon geträumt und erst recht hatte sie sich im wachenden Zustande so etwas nie vorgenommen. Wie hätte sie wohl auch dazu kommen sollen, sie hatte doch ihren Mann, nein, ihren Harry, der sie über alles liebte und den sie schon deshalb über alles wiederliebte. Und den hätte sie jemals auch nur mit einem Gedanken betrügen sollen, ihn, der so gut zu ihr war und ihr jeden ihrer Wünsche erfüllte?

Das und vieles andere sagte Frau Christa sich immer wieder, als sie endlich zu Hause war, ohne eigentlich recht zu wissen, wie sie dorthin gelangt sei. Ihr war nur dunkel in der Erinnerung, als habe sie sich plötzlich so schwach gefühlt, daß sie sich einen Wagen herbeirief, der sie nach Hause fuhr. Ja und dann war noch etwas gewesen, aber was denn nur? Ach so, ja richtig, die Zofe, die Nanny, hatte ihr bei dem Ablegen der Sachen nicht von selbst geholfen, sie hatte ihr das erst befehlen müssen, und da hatte die Nanny ein ganz schnippisches Gesicht gemacht und ihr erklärt, sie, die Gnädige, schiene selbst nicht mehr zu wissen, was sie wolle, denn vor ein paar Tagen hatte sie ihr erst erklärt, sie, die Nanny, habe genug andere Arbeit zu tun. Wie kam die Nanny nur dazu, so impertinent zu sein? Aber das war ihr einerlei, die Hauptsache blieb, daß sie nun wieder zu Hause war, um sofort den Brief dieses elenden Grafen vernichten zu können, bevor den ihr Harry durch einen unglücklichen Zufall vielleicht doch eines Tages fand. Aber nein, vernichten wollte sie den Brief nicht, dafür war der zu hübsch und es war der erste und sicher, nein vielleicht, auch der letzte Liebesbrief, den sie als verheiratete Frau bekam. Da mußte sie den schon als einen Beweis dafür aufbewahren, wie hübsch sie war. Nein, deshalb nicht, sondern als Beweis dafür, wie maßlos frech und unverschämt selbst ein solcher Herr, der es durch seine Geburt und durch seine Erziehung wissen mußte, wie man sich gegen eine Dame zu benehmen habe, zuweilen sein konnte.

Und den Grafen würde sie nie, nie wiedersehen, er reiste je glücklicherweise bald wieder ab, und wenn sie ihm durch einen unglücklichen Zufall doch noch einmal begegnen sollte, dann sah sie ihn nicht einmal mehr mit den Hacken an, geschweige denn mit den Augen, und eigentlich verdiente der es heute noch um sie, daß sie seinen Brief ihrem Mann zu lesen gab, schon weil sie vor ihrem Mann kein Geheimnis haben durfte, denn der war doch ihr Mann, ihr über alles geliebter Harry, denn wie lieb sie den hatte, das wurde ihr erst jetzt klar, jetzt, da er sie, allerdings ohne es zu ahnen, vor einer großen Gefahr gewarnt und sie vor der behütet hatte, nein hätte, in die sie als anständige Frau, trotzdem sie ihrem Mann niemals untreu geworden wäre, vielleicht trotzdem blindlings hineingetappt wäre. wenn ihr geliebter Harry ihr nicht noch im letzten Augenblick rechtzeitig die Augen über die bodenlose Gemeinheit der Männer geöffnet hätte. Ganz deutlich sah sie in Gedanken den Grafen vor sich, wie er in seinem Wohnzimmer in einem bequemen Lehnstuhl saß und voller Liebe seine große Schere betrachtete, während er vor sich hin sagte: „Na warte nur, schöne Frau Christa, sei erst mit mir zusammen in meinem verschwiegenen Liebesnest, da werde ich dir schon das Korsettband zerschneiden, daß du es in den nächsten drei Wochen nicht wieder zusammenknoten kannst; da mußt du ganz einfach so lange bei mir bleiben, bis ich dich frei gebe.” Gott sei Dank, dieser Gefahr war sie entronnen, und wem verdankte sie das? Nur ihrem geliebten Harry und zum erstenmal in ihrer Ehe sah Frau Christa es erst recht ein, wie gut es doch war, verheiratet zu sein, welchen sittlichen und moralischen Halt man zuweilen an dem Mann habe und wie gut es war, daß der Mann seine Junggesellengeschichten hinter sich hatte, damit die Frau aus denen lernen könne. Ach und aus vielen anderen Gründen war es sehr gut, verheiratet zu sein, denn sonst hätte der Graf es sicher nie gewagt, ihr diesen Brief zuzustecken, und wenn das auch zu keinem Erlebnis geführt hatte, so war diese Begegnung für sie eine kleine Abwechslung, eine kleine Zerstreuung in dem ewigen Einerlei der alltäglichen Ehe. Und ganz ohne Abwechslung konnte kein Mensch leben, am wenigsten eine bis zum Tode getreue Gattin, wenn sie sich nicht eines Tages zu Tode langweilen sollte.

Die schöne Frau Christa lag auf ihrer Chaiselongue und sann und träumte und philosophierte auf ihre Art vor sich hin, bis sie plötzlich aufstand und sich in ihrem Ankleidezimmer vor den großen Spiegel stellte, gerade dorthin, nicht aus irgend welcher besonderen Veranlassung, sondern nur mal so. Sie hatte nach ihrer Ansicht lange genug gelegen, nun wollte sie auch einmal wieder etwas stehen und da stellte sie sich eben vor den Spiegel. Sie hätte sich ja auch vor einen Stuhl stellen können, oder vor einen Schrank, aber vor dem Spiegel stand sie bequemer und vor allen Dingen würde sie das Stehen dort nicht ermüden, denn da hatte sie das Schönste zu sehen, was es für sie, ebenso wie für jede andere Frau der Welt gab, sich selbst. Und dort vor dem Spiegel gelobte Frau Christa sich, ihrem Harry weiter so treu zu bleiben, wie sie es bisher schon mit allen ihren Gedanken, mit allen ihren Sinnen und mit ihrem ganzen Empfinden bis zu dieser Stunde gewesen war. Auch in Zukunft sollte, würde und dürfte es für sie keinen anderen Mann auf dieser Welt geben als nur ihren Mann, denn sie hatte ihn ja über alles lieb, obgleich, oder gerade weil er sich damals gegen die Frau Gerda wie ein ungebildeter Hausknecht, aber nicht wie ein Kavalier benahm.

Ach, sie hatte ihn über alles lieb, denn sie ahnte nichts davon, daß der Graf sich die große Papierschere nur gekauft hatte, weil er die tatsächlich brauchte, und sie ahnte erst recht nichts davon, daß ihr Harry niemals ein Verhältnis mit einer verheirateten Frau hatte und daß er sich alles, alles, alles, was er ihr erzählte, nur erfand, weil er ihr deutlich anmerkte, daß sie im Begriffe stand, ihm untreu zu werden.

Und es war nur gut, daß die schöne Frau Christa von alledem nichts wußte, denn sonst hätte sie ihren über alles geliebten Harry über alles gehaßt und dann wäre sie dem sicher untreu geworden, weil ihr Harry nein, ihr Mann, das nicht anders um sie verdiente, schon weil er sie damals in der Hochzeitsnacht zwang, ihr kostbares Hemd abzulegen, hauptsächlich aber, weil es ihre sittliche und moralische Pflicht gewesen wäre, ihrem Grafen jede von ihm gewünschte Genugtuung dafür zu geben, daß sie, wenn auch nur vorübergehend, von ihm glaubte, er sei ebenso wie ihr Mann kein Kavalier und er hätte sich seine Papierschere für ihr Korsett gekauft!


zurück zur

Schlicht-Seite
© Karlheinz Everts