Von Freiherrn von Schlicht.
in: „Die Woche”. Heft Nr.7 (Febr. 1902),
in: „Der deutsche Correspondent” vom 5.7.1903 (Von E.v.M. !!!) und
in: Der höfliche Meldereiter.
Das Infanterieregiment von Dingsda hatte einen neuen Avantageur bekommen, und so sehr das Offizierkorps, das nicht sehr stark war, sich sonst über jeden Nachwuchs freute, ebensosehr schalt es diesmal. Und nicht ohne Grund, denn der neue Avantageur hatte einen großen Fehler, den man ihm nicht abgewöhnen konnte: er war der Sohn des Herrn Oberst.
Na, und den eigenen Sohn des Regimentskommandeurs als Avantageur zu haben, ist immer unangenehm. Während des Dienstes oder im Kasino oder abends in der Kneipe schimpft der eine oder der andere doch einmal auf seinen Oberst, denn Vorgesetzte, über die nicht geschimpft wird, gibt es ja nicht, und wenn der Sohn dann dabeisitzt, alles mit anhört und womöglich zu Hause wiedererzählt, ist das ja sehr unangenehm oder kann unter Umständen sehr unangenehm werden.
Das sahen alle ein, nur nicht der Avantageur von Bolten selbst, der war überhaupt nach Ansicht seiner Vorgesetzten das unmilitärischste Wesen, das jemals im bunten Rock auf dem Kasernenhof gestanden und Griffe und Wendungen gelernt hatte. Nicht etwa, als ob es ihm an den nötigen geistigen Fähgkeiten gefehlt hätte — nein, das nicht, aber ihm fehlte der nötige Ernst und vor allen Dingen der heillose Respekt, den jeder vor dem Herrn Oberst haben muß. Eines Tages drohten sogar die Kasernenmauern vor Entsetzen umzufallen, da rief er nämlich seinem Sergeanten, der ihn ausbildete, die Worte zu: „Herr Sergeant, Papa kommt!”
„Merken Sie sich das ein für allemal, Avantageur,” belehrte ihn hinterher der Herr Sergeant, „einen Papa gibt es beim Militär überhaupt nicht, da gibt es nur einen Vater, und den gibt es auch nur außer Dienst. Im Dienst gibt es für Sie nur Vorgesetzte, und da ist der Herr Oberst für Sie genau so wie für mich und für jeden anderen lediglich der Herr Oberst und Regimentskommandeur. Daß Sie mit dem hohen Herrn verwandt sind, daß er Ihnen sonst im Leben nahesteht, müssen Sie im Dienst ganz vergessen, sonst wird nie etwas aus Ihnen. Und nun wollen wir einmal einen Augenblick Instruktion abhalten, damit Ihnen das, was ich eben sagte, in Fleisch und Blut übergeht: Wie heißt der Herr Oberst?”
„Herr Oberst von Bolten,” gab der Sohn seines Vaters, ohne sich zu besinnen, zur Antwort.
„Sehen Sie wohl, Avantageur, es wird schon werden,” lobte der Vorgesetzte. „Welche Ehrenbezeigung machen Sie vor dem Herrn Oberst?”
„Ich mache Front, Herr Sergeant.”
„Wie benehmen Sie sich, wenn Sie als Ordonnanz oder sonst mit einem dienstlichen Auftrag zu dem Herrn Oberst hingeschickt werden?”
Der Avantageur konnte sich nun zwar nicht vorstellen, daß man gerade ihn mit einer solchen Mission betrauen würde, trotzdem antwortete er, wie er gelernt hatte: „Ich lasse mich durch den Burschen anmelden, und sobald ich die Stubentür geöffnet habe, sage ich: ich bitte eintreten zu dürfen.”
„Und was machen Sie, wenn der Herr Oberst Sie entläßt?”
„Dann gehe ich rückwärts zur Tür.”
„Nein, Avantageur, da machen Sie stramm Kehrt.”
Aber der Avantageur widersprach: „Verzeihung, Herr Sergeant — aber meine Mama ist immer böse, wenn ein Soldat im Zimmer Kehrt macht, sie behauptet, das ruiniere die schönen Teppiche.”
Für einen Augenblick kam der Herr Sergeant aus dem Konzept: da kam ja schon wieder der Sohn des Herrn Oberst, anstatt des Avantageurs zum Vorschein. Aber schnell faßte er sich wieder: „Junker, ich will Ihnen einmal etwas sagen: erst kommt das Reglement, dann erst kommt Ihre Frau Mutter, und die Teppiche gibt es überhaupt nicht. Für Sie als Soldaten darf es gar keine Mutter geben, merken Sie sich das, sonst wird nie etwas aus Ihnen. Und nun wollen wir die Griffe weiter üben: anfangen!”
Und da der Fahnenjunker sich nicht daran gewöhnen konnte, daß es für ihn keinen Vater und keine Mutter gab, obgleich er täglich stundenlang mit ihnen zusammen war, so wurde auch nicht viel aus ihm, wenigstens nicht nach der Ansicht des Herrn Sergeanten. Auch die Offiziere dachten nicht viel anders, bis der Tag anbrach, an dem er bewies, daß er nicht nur der Sohn seines Vaters, sondern daß er auch dessen Untergebener war.
Es war der Tag, an dem der Avantageur von Bolten nach Beendigung seiner Rekrutenausbildung, die er fast zehn Wochen hindurch ganz allein hatte durchmachen müssen, in die Kompagnie eingereiht werden sollte. Natürlich mußte diesem großen Ereignis eine Vorstellung vorangehen, und da es sich um seinen leibeigenen Sohn handelte, war es selbstverständlich, daß der Herr Oberst der Besichtigung beizuwohnen wünschte, und mit Rücksicht darauf, daß der Herr Oberst nicht nur sehen wollte, ob sein Herr Sohn gute Gewehrgriffe machte, sondern ob er sich auch im Gelände benehmen könnte, wurde befohlen, daß die Besichtigung auf dem großen Exerzierplatz, der etwa sieben Kilometer entfernt lag, stattfinden sollte.
Darüber schalten im stillen alle. Der Herr Sergeant, der Herr Hauptmann, der Herr Major und die Adjutanten, die dem feierlichen Akt beiwohnen mußten. Aber wie so oft, half das Schelten auch diesmal nichts.
Um neun Uhr vormittags sollte die Besichtigung ihren Anfang nehmen. Um sechs Uhr ließ der Avantageur sich wecken, und um sieben Uhr trat er mit sich selbst ganz allein auf dem Kasernenhof zum Abmarsch an, denn ein Viertel nach sieben wollte der Herr Sergeant erscheinen, und der Untergebene muß stets eine Viertelstunde vor dem Vorgesetzten zur Stelle sein — im letzten Augenblick zu erscheinen ist unmilitärisch. Mit dem Glockenschlag trat der Herr Sergeant aus seinen Gemächern und sah eine geschlagene Viertelstunde den Anzug seines Zöglings nach — zwar war er schon nach fünf Minuten damit fertig, aber trotzdem suchte er weiter nach einer verbotenen Falte im Rock oder nach einem offenen Knopf, damit man ihm nicht den Vorwurf machen könnte, den Anzug nur flüchtig gemustert zu haben, dann aber auch, weil der Abmarsch zum Exerzierplatz von dem Herrn Hauptmann auf einhalb acht Uhr angesetzt war.
Als die Uhr zum Schlagen ausholte, zog der Herr Sergeant sich seine schneeweißen Handschuhe an, stellte sich neben seinen Zögling, richtete sich mit diesem haarscharf aus, daß ihre Fußspitzen zusammen eine schnurgerade Linie bildeten, und kommandierte gleich darauf, so laut und stramm er konnte: „Bataillon — marsch!”
Und durch die Straßen der Stadt ging es im strammen Tritt, außerhalb der Stadt „ohne Tritt” dem Exerzierplatz entgegen.
Kurz nach halb neun Uhr, als die beiden etwa noch fünf Minuten zu gehen hatten, kam ihnen in der größten Aufregung der Hauptmann entgegengeritten: „Zum Donnerwetter, Sergeant, wo bleiben Sie denn nur? Um neun Uhr kommt der Herr Oberst, der Major wartet auch schon und will den Avantageur vorher noch sprechen, und der Anzug muß doch auch noch nachgesehen werden. Kommandieren Sie Laufschritt!”
Und im Trab langte die aus dem Hauptmann, dem Sergeanten und dem Avantageur bestehende Abteilung wenig später auf dem Exerzierplatz an. Dort wartete bereits der Herr Major mit seinem Adjutanten: „Bitte, Herr Hauptmann, sehen Sie erst den Anzug genau nach und melden Sie mir, wenn Sie damit fertig snd.”
Das geschah, und dann kam der Herr Major hoch zu Roß heran, um auch seinerseits den Anzug zu prüfen. „Der Rock sitzt nicht übertrieben gut, Herr Hauptmann, er scheint mir in der Taille etwas zu kurz zu sein und dann — strecken Sie mal den linken Arm aus, Avantageur, noch mehr, ganz gerade — sehen Sie wohl, Herr Hauptmann, ich habe es gleich bemerkt, die Ärmel sind etwas zu lang, wenigtens einen Zentimeter. Natürlich ist das jetzt nicht mehr zu ändern, aber mich wundert sehr, daß Sie den Rock nicht ändern ließen oder dem Kammerunterofiizier nicht den Befehl gaben, einen andern Rock zu verpassen. Auch der Haarschnitt könnte besser und akkurater sein. Die Hauptsache aber ist, Fahnenjunker, daß Sie Ihre Sache gut machen, wenn der Herr Oberst kommt. Das wollte ich Ihnen nur sagen und Ihnen ans Herz legen, sich rechte Mühe zu geben. Verstanden?”
„Zu Befehl, Herr Major.”
„Schön — dann lassen Sie rühren, Herr Hauptmann.”
Der Hauptmann wendete sich an den Sergeanten: „Lassen Sie rühren, Sergeant.”
Der Sergeant verließ seinen Platz, stellte sich fünf Schritte vor die „Abteilung” und kommandierte mit Stentorstimme: „Rührt euch!”
Und der Avantageur „rührte sich”, er stand nicht mehr in vorschriftsmäßiger Haltung da, sondern er stand bequem.
Nach Verlauf einer Viertelstunde, während der alle beständig nach allen Richtungen der Windrose ausgeschaut hatten, tauchte am Horizont ein dunkler Punkt neben einem hellen auf. Eigentlich hätte der helle Punkt der Herr Oberst und der dunkle Punkt der Regimentsadjutant sein müssen, aber trotz aller Disziplin und Subordination war es gerade umgekehrt, denn der Kommandeur ritt einen Rappen, der Adjutant aber einen Schimmel.
„Der Herr Oberst kommt,” sagte der Bataillonsadjutant zu seinem Major.
„Der Herr Oberst kommt,” sagte der Herr Major zu dem Herrn Hauptmann.
„Der Herr Oberst kommt,” sagte der Herr Hauptmann zu dem Sergeanten, und der begriff den Ernst des Augenblicks: mit einem hörbaren Ruck warf er sich in die Brust und kommandierte sein „Stillgestanden”, als wenn das Wohlergehen der ganzen Armee davon abhinge.
Der Herr Oberst kam näher und näher, und die Berittenen, der Herr Major, der Adjutant und der Herr Hauptmann, galoppierten ihm entgegen und meldeten ganz gehorsamst „einen Avantageur nebst seinem Unteroffizier zur Besichtigung zur Stelle.”
Jetzt war der Herr Oberst an Ort und Stelle. Er winkte dem Sergeanten, zur Seite zu treten und ritt dann seinen Avantageur um — nein, Pardon, er ritt, gefolgt von seiner Suite, um ihn herum. Er besah ihn sich in bezug auf Stellung, Haltung und Anzug von allen Seiten: „Rock sitzt nicht — Taille zu kurz — Rockärmel wenigstens zwei Zentimeter zu lang.”
Der Major warf dem Herrn Hauptmann einen triumphierenden Blick zu: „Na, was sagen Sie nun?”
Aber der sagte gar nichts, und das war entschieden auch das klügste, was er tun konnte.
„So, Sergeant, nun zeigen Sie einmal, was Sie dem Avantageur beigebracht haben.”
„Zu Befehl, Herr Oberst.”
Dann nahm die Vorstellung ihren Anfang, aber viele Vorgesetzte sind eines einzigen Untergebenen Tod: der Avantageur wurde unruhig, er vergriff sich beständig, bei den Wendungen fiel er beinahe um, bei dem Marsch stolperte er über seine eigenen Gebeine, und die Endkritik des Herrn Oberst lautete: „Hundsmiserabel — in vierzehn Tagen sehe ich mir den Avantageur noch einmal an, und wenn er dann nicht mehr leistet als heute, sperre ich ihn mitsamt seinem Sergeanten drei Tage ein.”
Der Herr Oberst galoppierte von dannen: die übrigen blieben zurück. Der Herr Major tadelte den Hauptmann, sich nicht genügend um die Ausbildung gekümmert zu haben, wurde dem Sergeanten und schließlich dem Avantageur grob. Dann ritt er davon, und nun wurde der Hauptmann zuerst dem Sergeanten und dann dem Avantageur grob, schließlich aber ritt auch er davon.
„Nun wird mir der Sergeant auch noch grob werden,” dachte der Fahnenjunker, aber das geschah doch nicht. Der stellte sich nur neben seinen Zögling, richtete sich haarscharf mit ihm aus, daß ihre Fußspitzen zusammen eine schnurgerade Linie bildeten, und marschierte dann, ohne ein Wort zu sprechen, der Kaserne entgegen. Und dort angelangt, suchte der Avantageur gleich das Kasino auf, um seinen Ärger hinunterzuspülen. Das war aber leichter vorgenommen als ausgeführt, denn er hatte sich maßlos geärgert: so viel Grobheiten hatte er während seiner ganzen Dienstzeit noch nicht zu hören bekommen, wie heute vormittag.
Er hätte am liebsten seinen Abschied eingereicht. Bald ertönten draußen auf dem Vorflur die lauten, erregten Stimmen einiger Offiziere: „Ich hab's ja immer gesagt — der Oberst hat keinen Schimmer von einer Idee — er hat da wieder einen Regimentsbefehl losgelassen — so etwas gibt es nicht zum zweitenmal!”
Während immer der eine der Herren schalt, stimmten ihm die andern laut bei, und sie schalten auch jetzt noch weiter, als sie das Kasino betraten. Aber mit einemmal verstummten sie — sie hatten den Sohn des Herrn Oberst von Bolten bemerkt.
„Junker,” sagte der älteste der Herren nach einer etwas verlegenen Pause, „ich weiß nicht, ob Sie gehört haben, was wir soeben besprachen, aber selbst wenn Sie es hörten, ist es doch wohl ganz selbstverständlich, daß Sie es nicht hörten.”
Da richtete der Avantageur sich stolz auf: „Herr Leutnant, ich habe noch nie den Angeber gespielt und werde es in Zukunft erst recht nicht tun — seit heute morgen habe ich keinen Vater mehr.”
„Nanu?” Überrascht sahen sich die Herren an: „Ihr Herr Vater ist doch nicht etwa plötzlich gestorben?”
Und ohne sich zu besinnen, sagte der Fahnenjunker: „Für mich ist Herr von Bolten fortan nur noch der Herr Oberst und Regimentskommandeur, und auf den kann meinetwegen schimpfen, wer da will — ich schimpfe mit.”
Und in Zukunft zweifelte niemand mehr daran, daß aus dem Fahnenjunker noch einmal ein äußerst tüchtiger Offizier werden würde.