Die Bismarck-Cigarre

Von Freiherr von Schlicht
in: „Der Deutsche Correspondent” vom 14.5.1899


Es war am 1. April 1895. Wir waren vom frühen Morgen bis zum Abend in Friedrichsruh gewesen, um Zeugen der großartigen Huldigungen zu sein, die dem großen Kanzler an seinem achtzigsten Geburtstage gebracht wurden, hatten dann für kurze Zeit den Kommers der deutschen Studentenschaft, der in den großen Räumen des Etablissements „Sagebiel”(1) stattfand, beigewohnt und saßen nun in meiner kleinen Villa(2), die ich damals in Hamburg bewohnte.

Wir hatten am Abend Gäste bei uns, Schriftsteller, Literaten, Zeichner und Maler, die sich während dieser Tage in Friedrichsruh aufhielten und nun so liebenswürdig waren, uns einen Abend zu schenken.

Man muß die Feste feiern, wie sie fallen, und den 1. April 1895 feierten wir in meinem Hause gründlich. Meine Frau hatte die besten Speisen auf den Tisch gebracht, an guten [sic! D.Hrsgb.] Rothwein und noch besserem Champagner ist in Hamburg ja auch kein Mangel — so gaben wir unseren Gästen das Beste, was wir hatten auftreiben können.

Das Allerbeste an einem Diner aber ist die Cigarre, wenn sie gut ist — und ich war damals der glückliche Besitzer hervorragend schöner Cigarren, die mein Schwager, der Marineoffizier ist, mir vor wenigen Wochen aus Havana mitgebracht hatte.

Wenn man eine gute Cigarre raucht, darf man nicht sprechen — da muß man sich ganz der wunderbaren Wirkung hingeben, die solch edles Kraut auf alle unsere Sinne und Nerven ausübt.

Eine feierliche Stille herrschte am Tisch, während die Herren sich dem Hochgenuß des Tabaks hingaben, keiner sprach, jeder rauchte nur mit Verstand — die Wolken von sich blasend und sie doch wieder mit der Hand zurückholend, um gleichzeitig den Geschmacks- und Geruchsnerven einen Genuß zu bereiten.

Mir gegenüber saß der in der ganzen literarischen Welt durch seine meisterhaften Romane und durch seine mit köstlichen Humor durchwürzten Novellen bekannte Schriftsteller L. Er hatte sich in seinen Stuhl hintenübergelegt und sah sinnend und träumend den blauen Wolken nach, die zur Decke hinaufstiegen.

Nun richtete er sich auf, und mit zärtlichen, fast verliebten Blicken dir Cigarre betrachtend, die er in der Linken hielt, sagte er plötzlich und unvermittelt: „Donnerwetter, das wäre so eine.”

Ich sah ihn verwundert an, ich begriff den Sinn seiner Worte nicht, und auch die anderen Herren wurden neugierig: „Wer wäre so eine? Was soll das heißen? Wer ist die eine? Was für eine meinen Sie?” So klang es durcheinander.

„Wie Sie alle wissen, meine Herrschaften,” nahm L. das Wort, „ich wohne seit zwei Jahren nicht mehr in Berlin, sondern in einer ganz kleinen Stadt, die mich durch ihre Natur entschädigen muß für alles, was ich sonst entbehre. Als der achtzigste Geburtstag Bismarck's herannahte, regte ich in meiner Vaterstadt oder, richtiger gesagt, in meiner jetzigen Heimathsstadt den Gedanken an, dem Reichskanzler eine Adresse zu übersenden, und ich selbst unternahm es schließlich, mich auf den Weg nach Friedrichsruh zu machen, um die Adresse persönlich dem Fürsten zu übergeben.

„Wer zählt die Völker, nennt die Namen, die alle in Friedrichsruh zusammenkamen?” Erst als ich die zahllosen Fremden, die Vereine, Korporationen, Deputationen sah, die alle den Fürsten persönlich sprechen wollten, wurde mir das Wagniß klar, das ich unternommen hatte. Wie sollte ich als Abgeordneter einer der kleinsten Städte Deutschlands es anfangen, um vorgelassen zu werden, wo so viele mit Rücksicht auf die Gesundheit des Fürsten abgewiesen werden mußten?

Und doch mußte ich den Kanzler sehen, wenn ich daheim nicht um Ehre und Reputation kommen wollte, denn ich hatte geschworen, dem Fürsten persönlich die Adresse zu übergeben. Man hatte Zweifel in meine Worte gesetzt, nun galt es zu beweisen, daß ich nicht nur viel mehr schwören als halten, sondern umgekehrt auch viel mehr halten als schwören konnte. Fortes fortuna adjuvat — ich wurde nicht nur beim Fürsten zugelassen, sondern mir widerfuhr auch die Auszeichnung, heute Morgen zur Frühstückstafel befohlen zu werden.

Nach Tisch wurden Cigarren herumgereicht, die der Fürst von den Deutschen in Havana zum Geschenk erhalten hatte.

Schon wollte ich sie mir anzünden, da sprach plötzlich eine innere Stimme zu mir: „Thue es nicht, bewahre dir die Cigarre auf, nimm sie mit nach Haus, zeige sie dort als Beweis, daß Du wirklich bei Bismarck gewesen bist, und wenn du sie genug gezeigt hast, dann versammle die Stadtverordneten, die dich hierher sandten, um dich herum und rauche ihnen die Cigarre vor, damit auch sie theilnehmen an dem Glück, das dir widerfahren ist.”

So sprach die Stimme, und ich versenkte, wenn auch nur langsam und widerstrebend, die Cigarre in die tiefste Tasche meines Fracks.

Aber kaum hatte ich es gethan, da packte mich die Reue und in meinem Innern begann ein Kampf, den nur der begreift, der da weiß, was eine gute Cigarre für den Raucher bedeutet.

Zwanzig Mal fuhr meine Hand nach der Rocktasche, um das edle Kraut hervorzuholen und es anzuzünden — zwanzig Mal rief eine Stimme zu mir: „Das schwerste ist, sich selbst zu besiegen.”

Als ich zum einundzwanzigsten Male die Hand ausstreckte, hielt ich die Cigarre zwischen den Fingern und gleich darauf im Mund.

Meine Herrschaften, für den Genuß, den die Spender mir mit der Havana bereitet haben, will ich sie segnen bis an mein Lebensende!

Und doch störte mir eins den Genuß: das war die Reue darüber, daß ich nicht standhaft geblieben war.

Was würden meine Stadtverordneten sagen, wenn ich mit leeren Händen und mit leerem Mund zu ihnen zurückkehrte? Würden Sie mir glauben, daß ich wirklich bei dem Fürsten gefrühstückt hätte? Würden sie mich nicht mit Recht einen krassen Egoisten nennen, weil ich ihnen nicht einmal den Geruch der Cigarre gegönnt hätte? Im Geiste sah ich, wie man mit Fingern auf mich weisen würde, und ich hörte die Stimmen meiner Stadtverordneten, die da sprechen: „Seht da den schlechten Menschen.”

Reue und Verzweiflung packte mich, und diese Stimmung hielt an bis zu diesem Augenblick, bis zu jener Sekunde, in der ich den Tabak, den ich jetzt zwischen den Fingern halte, anzündete. Und ich wiederholte: „Das wäre so eine — wenn ich diese Cigarre meinen Stadtverordneten vorrauchen könnte, würden sie mir glauben und ich würde ihnen einen großen Genuß bereiten. Dann hätten auch sie ihre Bismarckcigarre.”

Lachend schob ich ihm den Cigarrenkasten hin.

„Darf ich mir wirklich noch eine für meine Stadtverordneten nehmen?” fragte er etwas verlegen.

„Nicht nur eine, sondern so viel Sie wollen,” gab ich zur Antwort, und ich schickte mich an, sein Etui zu füllen.

Aber er erhob Widerspruch: „Seien Sie nicht so verschwenderisch — mit diesen guten Cigarren wird es Ihnen gehen wie mit meiner Bismarck-Cigarre, man bekommt sie nur einmal in seinem Leben. Eine nehme ich mit tausend Dank an, aber auch nicht mehr.”

„Zwei sind sicherer,” sagte ich, „eine kann leicht entzwei gehen, nehmen Sie die zweite zur Reserve mit, sicher ist sicher.”

Nach langem Sträuben that er es.

Wenige Tage später erhielt ich von dem lieben L. ein Telegramm:

„Soeben in öffentlicher Sitzung bei kolossalem Andrang des Publikums und bei Ueberfüllung der Tribünen im feierlichsten Aufzug, in Frack und weißer Binde, den versammelten Stadtverordneten die Cigarre vorgeraucht. Großartiger Erfolg, ich bin der Held des Tages. Niemand zweifelt daran, daß die Cigarre von Bismarck sei, — ach, und dabei war es nicht einmal die von Ihnen.”


Anmerkung des Herausgebers

Denselben Vorfall beschreibt Baudissin/Schlicht auch im letzten Abschnitt seiner militärischen Erinnerungen „Aus meiner Dienstzeit”, allerdings muß sein Gedächtnis auf Grund der Zeit zwischen beiden Niederschriften (vor 1899 — 1907/08) ihm manches unterschiedlich vorgespiegelt haben.


Fußnoten:

(1) Sagebiels Fährhaus, Blankenese (Zurück)

(2) Kielortallee 3 (Zurück)


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© Karlheinz Everts