Die große Kleinkinder-Bewahranstalt.

Militärische Humoreske von Freiherr von Schlicht.
in: „Abendblatt”, (Chicago Ill.), vom 11.06.1897 und
in: „Türke und Stachelschwein“.


„Der ganze Kommiß ist weiter nichts als eine große Kleinkinder-Bewahranstalt.”

Leider kann ich den Namen des Mannes, der dieses große Wort zuerst aussprach, der Nachwelt nicht verraten, — so viel aber glaube ich sagen zu können, daß er das große Wort nicht nach berühmten Muster „gelassen” aussprach und daß der Sprecher „einer vom Kommiß” gewesen sein muß.

Denn nur, wer seine Nase nicht nur in den Kommiß hineinsteckt, sondern wirklich einmal in den Kommiß „hineingerochen” hat, weiß, wie wahr das Wort ist.

Als Kind ist man von dem Tage seiner Konfirmation erwachsen und läßt sich keine Vorschriften mehr machen. Ich erinnere mich noch ganz genau, daß ich als Obertertianer meinem Klassenlehrer die Antwort gab: „Ich bin kein dummer Junge mehr!”

„Nun,” antwortete er gelassen, „Erwachsenen sind Prügel zuweilen auch sehr bekömmlich!” und eine Minute später lag ich auf dem „lehrerlichen” Knie und bekam fünfundzwanzig auf eine gewisse Körperstelle aufgezählt, die nicht von schlechten Eltern, wenigstens nicht von einem schlechten Vater waren.

Bei der Erinnerung an die Prügel nehme ich in Gedanken ein kaltes Sitzbad. Ich erinnere mich dieser „Ueberlegung” noch sehr genau, denn ich hatte an jenem Morgen zum erstenmal ein ganz neues und sehr dünnes Reitbeinkleid an, durch das ich den Neid meiner Mitschüler in so hohem Maße erregt hatte, daß sie mir die Schläge alle von Herzen gönnten. Natürlich wollte ich mich über die mir zu teil gewordene Behandlung beschweren, ließ es aber bleiben und beschloß, mich zu rächen. Ich that's — das „wie” gehört nicht hierher, oder soll ich es doch sagen? Ich warf meinem Ordinarius, als er bald darauf heiratete, während seiner Hochzeitsnacht sämtliche Fensterscheiben ein, verscheuchte ihn so vom trauten Lager und ließ mich von ihm verfolgen, aber nicht fassen.

Warum ich diese leider wahrhaftige Geschichte, aus der hervorgeht, welch Musterknabe ich gewesen bin, hier anführe? Nicht, um jugendliche Leser anzufeuern, hinzugehen und das Gleiche zu thun — ich erinnere sie an das Wort: denn alle Schuld rächt sich auf Erden —, sondern ich erwähne diese Episode, weil ich während meiner Dienstzeit so oft an sie denken mußte.

Wie oft habe ich aus dem Munde von Kameraden — und auch aus meinem eigenen — nicht die Redensart vernommen: „Ich bin doch kein dummer Junge mehr! Das lasse ich mir nicht gefallen, ich beschwere mich!”

Und sie machten es wie ich und beschwerten sich nicht, sondern beschlossen, sich zu rächen.

Als Schüler kann man sich rächen, als Bleisoldat nicht. Da tröstet man sich mit dem Gedanken, daß diejenigen, die anderen etwas auf den Hut geben — denn auf eine andere Stelle läßt man sich thatsächlich nichts mehr geben —, auch von anderen etwas auf den Hut bekommen.

Es ist dies ein Trost, allerdings nur ein sehr geringer, sicherlich keiner, an dem man sich aufrichten kann.

Daß das Militär eine Kleinkinder-Bewahranstalt ist, erfahren Mannschaften und Offiziere an sich in gleicher Weise. Die Kerls haben ein dickes Fell und sagen sich: „Ach was, laß den Vorgesetzten reden, was er will, wenn er mich nur nicht einsperrt, ich reiße meine zwei Jahre ab und damit Punktum!”

Dem Mann schadet es außerdem nichts, wenn er etwas zur Ordnung und Sauberkeit angehalten wird, denn viele kennen diese beiden Worte aus der Kinderzeit nicht einmal dem Namen nach.

Den Leuten schadet Erziehung nicht — scheußlich aber ist es für die Offiziere, wenn sie, die sie selbst andere erziehen sollen, von anderen erzogen werden.

Man steht beim Exerzieren in der Front, man macht seine Sache so gut man kann, beim Marschieren schmeißt man sich seine Beine gegen die eigene Nase, und doch fühlt man die Blicke des Hauptmanns beständig auf sich ruhen. Ein unangenehmes Gefühl, das der Subordination, durchrieselt einen.

Man wirft die Beine noch höher, so daß man einen Augenblick wegen Nasenblutens nicht mehr mitspielen kann — man hat sich die Nase breitgeschlagen —, aber selbst, als man in einer Ecke steht, wollen die Blicke des Vorgesetzten keine andere Richtung nehmen.

„Was hat der nur?” denkt man im stillen.

Mit aufrichtigem Schmerz sieht man, daß das Nasenbluten aufzuhören beginnt — Nasenbluten zu haben ist viel angenehmer als Kompagnie-Exerzieren —, eine Weile steht man noch und hofft und wartet, daß es vielleicht noch einmal anfangen möge, als aber auch diese Hoffnung sich, wie so manche andere im Leben, als trügerisch erweist, setzt man seine Knochen in Bewegung und meldet sich „vom Austreten zurück”.

„Danke,” sagt der Vorgesetzte und schon will man linksum Kehrt machen und eintreten, als er einem zuruft: „Herr Lieutenant, Ihr Helm sitzt schief. Ich sehe Sie schon lange darauf an.”

„Weiter nichts?” denkt der Lieutenant und schiebt sich seinen Cylinder gerade.

Das Exerzieren nimmt seinen Fortgang.

Auf einmal ruft der Hauptmann seinen Lieutenant vor die Front.

„Der Herr Hauptmann befehlen?”

„Herr Lieutenant, Ihr Helm sitzt immer noch schief.”

Wieder nimmt das Exerzieren seinen Fortgang, nachdem der Helm gerade gerückt ist, und wiederum ruft der Hauptmann nach einiger Zeit seinen Lieutenant vor die Front:

„Herr Lieutenant,zweimal habe ich es Ihnen nun schon gesagt und Ihr Helm sitzt immer noch schief. Solche Nachlässigkeit im Anzug verbitte ich mir von Ihnen, Herr Lieutenant.”

„Verbieten Sie doch lieber dem Helm, schief zu sitzen,” denkt der Lieutenant im stillen, „ich kann doch nichts dafür, wenn mein Helm bei dem ewigen Laufen, Halten, Hinlegen, sprungweise Vorgehen und anderen geistreichen Beschäftigungen vor Verzweiflung und aus Langerweile zu wackeln beginnt und dabei jenen Sitz verliert, der für die Erhaltung des europäischen Friedens im allgemeinen und für die endliche glückliche Lösung der kretensischen Frage im besonderen von einschneidenster Bedeutung zu sein scheint.”

Endlich ist der Dienst beendet, der Lieutenant sitzt zu Hause bei seinem frugalen Frühstück, vorausgesetzt, daß seine Finanzlage ihm diesen Luxus gestattet, als sich die Thür öffnet und eine Ordonnanz erscheint.

„Nun, was giebt's?”

„Ich soll diesen Brief abgeben.”

„Hoffentlich keine Rechnung?”

„Nein, Herr Lieutenant.”

„Na, dann gieb den Wisch 'mal her.”

Der Lieutenant öffnet das Schreiben, das der älteste Sekondelieutenant ihm schickt.

„Na, es ist gut, mein Sohn, sagen Sie dem Herrn Lieutenant, ich würde seinem Wunsche gemäß, eine Viertelstunde vor Beginn des Essens im Kasino sein.”

„Was will denn der nur?” fragt er sich und ebenso fragen es die anderen Sekondelieutenants, die zu derselben Zeit befohlen sind.

Endlich erscheint der älteste der Herren Sekondes:

„Meine Herren, ich habe Sie hierher gebeten, um auf Wunsch eines der Herren Hauptleute einen Fall zu besprechen, der heute morgen auf dem Kasernenhof vorgekommen ist. Er betrifft Sie, Herr Lieutenant, und Ihren Helm.”

„Mich — und — meinen — Helm?”

„Allerdings, Herr Lieutenant, und ich mache Sie darauf aufmerksam, daß ich dienstlich mit Ihnen spreche. Ich bitte Sie, still zu stehen.”

Der Getadelte, der als Mensch älter, als Offizier aber nur wenige Wochen jünger ist, nimmt die Hacken zusammen und spielt mit der linken Hand mit dem Portepee seines Säbels.

„Ich bitte Sie, Ihren Säbel so zu halten, Herr Lieutenant, wie es die Vorschrift befiehlt — Sie sollten den jüngeren Kameraden lieber ein gutes als ein schlechtes Beispiel geben.”

Dunkel färben sich die Wangen des Berufenen — schon will er aufbrausen, rechtzeitig aber besinnt er sich eines besseren, und anstatt loszupoltern, lacht er, wenn auch nur innerlich.

Und nun wird die Helmgeschichte breitgetreten — wie solche Nachlässigkeit nur möglich wäre, „und ich denke, Herr Lieutenant, wenn Ihnen so etwas einmal gesagt wird, ist es doch wohl mehr als genug. Nur der großen Liebenswürdigkeit Ihres Herrn Hauptmanns haben Sie es zu verdanken, daß die Sache für Sie keine weiteren Folgen haben wird. Ich danke Ihnen sehr, meine Herren.”

Und stolz erhobenen Hauptes geht der älteste Sekonde von dannen.

Die anderen umringen den „Gerissenen”, dessen innerliche Heiterkeit doch bei den harten Worten des älteren Kameraden von dannen gewichen ist.

„Und so etwas soll ich mir sagen lassen,” keucht er endlich vor Wut, „bin ich denn ein dummer Junge, der sich hier herunterkanzeln lassen soll von einem solchen — solchen —”

Vergebens sucht er nach einem passenden Wort.

„Beruhigen Sie sich doch,” bitten die Kameraden, „wir wissen doch alle, daß unser Aeltester, gelinde gesagt, etwas verdreht ist; wegen solcher Lappalie werden Sie sich doch nicht aufregen, da sind uns noch ganz andere Dinge gesagt worden.”

„Traurig genug, daß so etwas überhaupt vorkommen kann, noch trauriger aber, daß Ihr es Euch ruhig habt gefallen lassen — ich lasse mir so etwas nicht bieten — ich beschwere mich.”

„Bravo,” pflichteten ihm die anderen bei, „das würden wir an Ihrer Stelle auch thun; aber nun kommen Sie, es giebt Ihr Leibgericht: Rindfleisch mit Brühkartoffeln, dazu trinken wir eine Flasche Sekt.”

Das läßt sich hören — wenn man auf solchen Aerger nicht eine kalte Flasche trinken soll, wann soll man denn eine trinken? Getrunken werden müssen die Dinger doch, dazu liegen sie ja im Keller, und einen Kasinorest hat man ja so wie so, und ob er nun um ein paar Mark größer ist oder nicht, das ist doch ganz einerlei, bezahlt wird er vorläufig doch nicht.

Also her mit der Sektpulle!

Die Logik hat wieder einmal über die Unvernunft den Sieg davongetragen.

Und das ist auch nur gut, denn sie sind ja alle noch Kinder, die da an dem Mittagstisch im Kasino sitzen, und wenn sie es auch nach ihrer Meinung nicht sind, so werden sie wenigstens so behandelt.

Nicht nur die Lieutenants.

Ach nein.

Da sitzt ein Hauptmann, der während seiner Strohwitwerzeit im Kasino ißt — die teure Gattin ist, als sie bei ihrer Mutter zum Besuch war, plötzlich vom Storch ins Bein gebissen worden. Der könnte auch eine Geschichte erzählen, da er sich aber gerade bei dem ihm gegenübersitzenden Major „schustert”, so hat er dazu keine Zeit, und darum erzähle ich sie.

Der Hauptmann hatte eines Abends eine Gesellschaft gegeben, und zwar, da er von Haus aus wohlhabend war und seine Gattin auch recht viel „Gemüt”, das heißt Kleingeld, besaß, so war diese Gesellschaft kein Kommiß-Pekko gewesen, sondern eine wirklich mit Lust und Liebe arrangierte Gesellschaft, bei der es ebenso heiter und lustig wie materiell vortrefflich war.

Am nächsten Mittag, als der Hauptmann mit einigen jungen Kameraden bei dem „Reste Frühstück” in seiner Wohnung saß, erschien eine Ordonnanz — die Kerls bringen nie Gutes — und holte den Hausherrn zum Herrn Oberst.

Er selbst war sich keiner Schuld bewußt, aber vielleicht war in der Kompagnie eine Bummelei vorgekommen, von der er noch keine Kenntnis hatte. So lief er denn schnell noch einmal bei seinem Feldwebel vor, aber auch der konnte ihm keine Auskunft geben, es war alles in schönster Ordnung.

Eine Viertelstunde später stand er dem Kommandeur gegenüber, der ihn sehr ungnädig empfing.

„Er hat 'n Jammer,” dachte der Häuptling, „ das kommt davon, die eine Flasche 67er Chateau Yquem hat er ja aber auch ganz allein ausgetrunken.”

„Herr Hauptmann,” beginnt der Herr Oberst nach einer kleinen Pause, „ich habe Sie zu mir kommen lassen, weil ich mit Ihnen über Ihre gestrige Gesellschaft sprechen möchte. Ich habe an derselben, so trefflich wir uns auch alle amüsiert haben, allerlei auszusetzen.”

„Nanu?”

„Wie meinen Sie, Herr Hauptmann?”

„Ich, Herr Oberst? Nichts, wie könnte ich mir wohl erlauben, in Gegenwart des Herrn Oberst eine Meinung zu haben.”

Der Kommandeur ist befriedigt, diese Unterthänigkeit macht das „Nanu” wieder gut.

„Was ich Ihnen sagen wollte, Herr Hauptmann, betrifft zunächst Ihre Frau Gemahlin.”

„Mei—meine Frau, Herr Oberst?”

„Jawohl, Herr Hauptmann — Ihre Frau Gemahlin. Bei aller Hochachtung, die ich selbstverständlich vor Ihrer Frau Gemahlin hege, kann ich es nicht billigen, daß Ihre Gattin einen so kostbaren Schmuck anlegt, wie gestern abend, und dadurch alle anderen Damen, auch meine Frau, in den Schatten stellt. Sie stimmen mir doch bei, Herr Hauptmann?”

Der Häuptling faßt sich an die Stirn, er weiß nicht, wacht oder träumt er.

„Nun, Herr Hauptmann?”

„Verzeihen der Herr Oberst meine Begriffsstutzigkeit, ich kann nichts dafür, ich habe schon als Kind daran gelitten, aber ich weiß nicht — diese plötzliche Erkenntnis — ich habe bisher immer geglaubt, meine Frau könnte in ihrem eigenen Haus anziehen, was sie wolle, das ginge keinen Menschen etwas an. Ich kenne wohl eine Bekleidungsvorschrift für die Offiziere — aber eine solche Vorschrift für unsere Damen ist mir bis zur Stunde noch nicht vor die Augen gekommen. Wie gesagt, Herr Oberst, das war so meine Meinung — auch glaubte ich — daß die Wirtin die Pflicht hätte — sich für ihre Gäste zu schmücken — aber, wenn der Herr Oberst befehlen — kann meine Frau ja das nächste Mal in Sackleinwand erscheinen.”

„Sparen Sie sich Ihre Witze, Herr Hauptmann,” donnert der Kommandeur, „ich finde, dazu ist due Gelegenheit sehr schlecht gewählt. Ich wünsche den Schmuck bei Ihrer Frau Gemahlin nicht wieder zu sehen.”

„Darüber hat meine Frau zu entscheiden.”

„Darüber habe ich zu entscheiden, Herr Hauptmann, und wenn Ihnen meine Ansichten nicht passen, so ist die Armee reich an anderen Garnisonen.”

„Zu Befehl, Herr Oberst.”

„Und dann noch eins, Herr Hauptmann. Sie reichten gestern nach Tisch Import-Cigarren herum. Darf ich Sie fragen, warum?”

„Damit sie geraucht würden, Herr Oberst.”

„Das kann ich mir denken, zum Radfahren oder ähnlichen Sachen pflegt man keine Cigarren zu benutzen. Sie scheinen mich nicht zu verstehen oder nicht verstehen zu wollen — ich halte es für ungehörig im höchsten Grade, daß Sie Import-Cigarren anbieten, wenn ich, Ihr Kommandeur, meinen Gästen nur hiesige Cigarren offeriere. Ich danke Ihnen sehr, Herr Hauptmann.”

„Bitte, bitte, gar keine Ursache,” denkt der Häuptling im stillen, macht linksum Kehrt und macht sich auf den Heimweg.

Als er zu Haus ankommt, findet er seine Gäste in fröhlichster Stimmung.

„Kinder,” ruft er ihnen zu, „kommt mit in den Garten, Lisbeth, du auch.”

„Aber was sollen wir denn da?”

„Sandkuchen backen aus wirklichem Sand.”

„Aber wir sind doch keine kleinen Kinder?” fragte seine Frau vorwurfsvoll.

„Bis vor kurzem, habe ich das auch geglaubt,” entgegnete er, „nun aber bin ich eines Besseren belehrt worden. Und darum singt mit mir ,Backe, backe Kuchen, der Bäcker hat gerufen!' —” und er erzählt, was er erlebt hat.

„Und was werden Sie thun?” fragt ein Kamerad.

„Natürlich beschwer' ich mich, der Oberst muß in die Wurst, paßt mal auf!”

Aber am nächsten Tage beschwert der Hauptmann sich nicht, und der Oberst kommt, wenigstens dieses Mal, noch nicht in die Wurst.

Der ganze Kommiß ist eine Kinder-Bewahranstalt. Jeder hat sein Kindermädchen, das ihn erzieht.

Freude an seinem Kindermädchen hat nur der Musketier, meinetwegen auch der Grenadier, der abends mit seiner Bertha auf dunklen, verborgenen Pfaden wandelt, bis sie eine Bank gefunden haben, auf der sie ungestört dem Schlag der Nachtigall lauschen können. — — —


zurück zur

Schlicht-Seite