Humoreske vom Freiherrn von Schlicht.
in: „Kieler Zeitung” vom 6.10.1897,
in: „Mährisches Tagblatt” vom 13.10.1897,
in: „Leipziger Tageblatt und Anzeiger” vom 18.Okt. 1897,
in: „Süd-Dakota Nachrichten” vom 11.11.1897,
in: „Der Deutsche Correspondent” vom 13.11.1897,
in: „General-Anzeiger für Hamburg-Altona” vom 21.11.1897,
in: „Grenzbote des nordwestlichen Mährens” vom 25.12.1897,
in: „Budweiser Zeitung” vom 15.11.1898,
in: „Livländischer Kalender 1898,
in: „Sonntagsblatt”, Jhrgg. 1899, Nr. 40,
Beilage zur „Güstrower Zeitung” vom 8.10.1899 und
in: „Meine kleine Frau und ich”.
Nach langen, langen Jahren kehrte ich zurück(1) in die Stadt, in der ich geboren war und in der ich die Schule besucht hatte, bis man mich eines schönen, oder richtiger gesagt, eines traurigen Tages mit dem consilium abeundi in der Tasche nach Haus schickte.
Ueber den väterlichen Empfang damals zu Haus will ich rücksichtsvoll schweigen — nur das muß ich sagen, daß ich herzlich froh war, als ich endlich nach einigen Wochen zur Stadt heraus war. Außer meiner guten Mutter weinten mir nur die Lieferanten der Rohrstöcke Thränen nach — die hatten in der letzten Zeit ein gutes Geschäft gemacht.
Als ich nun kürzlich erfuhr, daß ich nach meiner Vaterstadt versetzt worden sei, machte ich es wie der berühmte Mimiker Herrmann: ich weinte mit dem einen Auge und lachte mit dem anderen.
Zur Traurigkeit und zur Freude lag Veranlassung genug vor: in meiner Vaterstadt wohnen weniger Menschen als in einem großen Etagenhaus in Chicago, von Vergnügungen kennt man bei uns am Sonntag nur „Große Tanzmusik bei freiem Entree”; Theater, Musik, Kunst und Wissenschaft sind hier unbekannte Delicatessen.
Aber dafür bietet das stille Stück Erde auch wieder manches Schöne: Herrliche Luft, Wald und Feld, Wasser und Jagd. Draüber freute ich mich, und auch noch auf etwas Anderes: im Grunde meines Herzens ziehe ich das Leben in der Kleinstadt dem der Großstadt vor, die Menschen treten sich näher, gewinnen mehr Fühlung mit einander, nehmen mehr Interesse an dem Wohlergehen des Einzelnen.
Und ich kam ja nicht als Fremder dahin: waren meine Eltern inzwischen auch gestorben, so lebte ihr Name doch noch fort und das Andenken an manches Gute, das sie dem Städtchen und seinen Bewohnern erwiesen hatten. Auch meiner würde man sich noch erinnern. Durch manchen tollen Jugendstreich glaubte ich mir ein, wenn auch nicht gerade ehrendes Gedächtniß gesichert zu haben.
Ich täuschte mich nicht. Mit Weib und Kind war ich endlich in der Heimath angelangt, und bis ich eine Wohnung gefunden in dem einzigen, dafür aber sehr schönen Hotel abgestiegen. Absichtlich hatte ich meinen Namen nicht sofort in das Fremdenbuch eingetragen.
„Erst frühstücken,” befahl ich, „wer kann denn mit leerem Magen schreiben!”
Der Kellner trug auf, was es an Delicatessen gab, und während ich Hunger und Durst stillte, umkreiste der Hotelier mich, wie ein Löwe seinen Dresseur, die Gelegenheit erspähend, wo er sich auf mich stürzen könnte.
Endlich blieb er vor mir stehen:
„Nun thun Sie mir die einzige Liebe und sagen Sie es mir, sonst vergehe ich vor Neugierde: sind Sie es oder sind Sie es nicht?”
„Ich bin ich,” gab ich zur Antwort, „wer sollte ich wohl sein, wenn ich nicht ich wäre?”
Er nannte nun meinen Namen, und als ich zustimmend genickt hatte, zeigte er eine so herzliche und offene Freude, daß ich ihn gerührt auf ein Glas Rothwein einlud, dem dann noch verschiedene Flaschen folgten.
In den nächsten Tagen ging es an das Einrichten der bald gefundenen Wohnung. Um Handwerker war ich nicht verlegen, ich nahm dieselben, die in meinem Elternhaus gearbeitet hatten — lauter gute, alte Bekannte. Mit dem Sohn des Tapezierers war ich einmal beinahe zusammen ertrunken, mit dem Sohn des Glasers hatte ich nach Möglichkeit Fensterscheiben eingeworfen, um seinem Vater Verdienst, meinem Freunde aber ein höheres Taschengeld, von dem auch ich profitirte, zuzuwenden, und mit dem Sohn des Tischlers hatte ich einmal zusammen Feuer in der Werkstatt angelegt, als wir von gräßlichem Tabaks-Genuß krank wurden und, die Cigarren fortwerfend, ins Freie gestürzt waren.
Aber auch sonst fehlte es nicht an alten Bekannten: da kam zuerst die Fischfrau, die mich noch kannte aus der Zeit, da ich so, so klein war, kaum geboren, und ich mußte ihr schwören, nie bei jemand Anderem Fische zu kaufen, als nur bei ihr, und um mich davon zu überzeugen, wie schön sie waren, mußte ich ihr gleich ein paar Pfund Dorsch abnehmen; — dann kam mein früheres Kindermädchen, Mutter von sechzehn Kindern — zwölf waren ihr Eigenthum und vier hatte sie angenommen, denn Kinder sind doch zu was Süßes, da kann man doch gar nicht genug von kriegen; — seit vielen Jahren war sie nun Wittwe und hatte einen Handel mit Besen und Matten.
„Nein, wie ich mich gefreut habe, als ich hörte, der gnädige Herr wäre wieder hier — da hab' ich gleich zu meinen Kindern gesagt: Kinder, hab' ich gesagt, das ist ein guter Herr, der wird mir ordentlich was abkaufen, denn ich hab' ihn doch schließlich großgezogen — nein, und was er für ein süßes Kind war —”
Und das süße Kind kaufte seinem früheren Kindermädchen große und kleine Besen, Bürsten und Gläserreiniger dutzendweise ab — für jedes Zimmer und für jeden Treppenabsatz einen besonderen Besen, für jedes Glas einen besonderen Reiniger.
Dann kam — nein, wer kann sie alle aufzählen, die noch kamen, um mich zu begrüßen, mich wiederzusehen nach so langer Abwesenheit. Und merkwürdiger Weise war es allen schlecht ergangen in der langen, langen Zeit und sie hatten anscheinend alle nur auf mich gewartet, um ihre Finanzen zu verbessern. Allen, allen mußte ich etwas abkaufen — mein Haus füllte sich mit den unglaublichsten und unnützesten Sachen der Welt, aus meinem Portemonnaie gähnte mir eine wahrhaft grausige Leere entgegen.
Endlich war die Zahl dieser alten Bekannten erschöpft, und ich freute mich, nun mit denjenigen Bekannten zusammenzutreffen, die mir gesellschaftlich nahe oder gleich standen.
Aber auch das hatte seine Schattenseiten! Ich stellte eine Liste derjenigen Personen auf, bei denen wir Besuch machen mußten — ich strich und strich, als wenn ich ein Maler wäre, aber es blieben doch noch immer über hundert Personen übrig.
„Hundert Besuche!” klagte meine Frau, „so viel Visitenkarten habe ich ja gar nicht.”
„Brauchst Du auch nicht,” tröstete ich sie, „wir werden überall angenommen werden.”
Wir fuhren von Hausthür zu Hausthür.
„Nein, wie liebenswürdig, daß Sie sich Ihrer alten Bekannten noch so erinnern — nein, das ist wirklich zu freundlich — ach, Sie wollen schon wieder fort? — nein, bei so alten Bekannten nimmt man das mit der Form nicht so genau — ein kleines halbes Stündchen weren Sie doch wohl für uns übrig haben — wissen Sie, wir kennen uns ja schon so lange — ja, gnädige Frau, als Ihr Herr Gemahl noch so klein war, kannten wir ihn schon — er hat immer mit unserem Otto gespielt — wissen Sie wohl noch, Sie aßen immer so gerne Fruchtbonbons — Sie waren ein richtiges Kind, Sie weinten immer nur, damit Sie Bonbons bekämen — wie, Sie wollen wirklich schon fort? — aber nicht wahr, Sie bringen uns Ihre Gemahlin recht, recht bald wieder einmal her — Sie kommen doch einmal so ganz gemüthlich zum Thee — so ganz en petit comité — nur lauter alte Bekannte . . . . .”
Ich stöhnte „Halleluja, gelobt sei Gott in der Höh'”, wenn ich die Hausthür hinter mir zumachte und ein „Gott steh' mir bei”, wenn ich die Thür des Nebenhauses öffnete.
Als ich Abends zu Hause ankam, war ich tödter als todt, meine kleine Frau aber war lebendig, unheimlich lebendig.
„Das sind ja schöne Sachen, die ich da über Dich zu hören bekommen habe,” sprach sie, als wir uns bei dem Abendbrot gegenüber saßen, „schöne, sehr schöne Sachen! Du weißt, ich habe Deinen Worten nie geglaubt, daß ich Deine erste Liebe wäre — aber daß ich Deine hundertste bin, das habe ich denn doch auch nicht vermuthet. Pfui, was habe ich da Alles hören müssen — in der Tanzstunde hast Du öffentlich vor aller Auge die kleine Marie geküßt und mit der Bertha bist Du Abends auf der Eisbahn ertappt worden und der Elsa hast Du Gedichte geschickt und mir nicht ein einziges!”
„Weil ich Dich zu lieb hatte, um Dich mit meinen dichterischen Erzeugnissen zu elenden,” versicherte ich, „aber wenn Du es wünschest, will ich Dich heute Abend noch andichten. Ich habe übrigens immer geglaubt, daß Du viel zu klug und zu verständig seiest, um solchen Kinderthorheiten das geringste Gewicht beizulegen.”
Sie lachte spöttisch auf: „Natürlich, Eure bequeme Ausrede, aber die alten Bekannten —”
„Der Teufel hole alle alten Bekannten!” rief ich wüthend.
Da trat der Diener in das Zimmer.
„Ein Herr wünscht den gnädigen Herrn zu sprechen, er läßt sich nicht abweisen, er sagt, er wäre ein alter Bekannter von dem gnädigen Herrn.”
„Wie sieht er aus?” fragte ich, „ist es ein Mann oder ein Herr —”
„Ein Herr,” erwiderte der Diener.
Fragend sah ich meine Frau an — die aber wies mir als Zeichen ihres Zornes den Rücken.
„Wenn wir Besuch haben, muß sie ja wieder gut werden,” dachte ich und gab dem Diener Bescheid:
„Ich lasse sehr bitten.”
Der Diener verschwand und gleich darauf stand mein alter Schulkamerad Peter Hansen vor mir.
Ich freute mich wirklich, ihn wiederzusehen:
„Mensch,” rief ich, „das ist ja famos, daß Du zu mir kommst, ich ahnte gar nicht, daß Du noch hier wärest, sonst hätte ich Dich schon lange einmal aufgesucht — hier, meine kleine Frau — und dies ist der berühmte und berüchtigte Peter Hansen, von dem ich Dir soviel erzählt habe, der so viel auf dem Kerbholz hat, daß ich im Vergleich damit überhaupt ein ungeborenes Kind bin. Nun aber leg ab und mach' es Dir bequem.”
Zuerst weigerte er sich — er genirte sich wohl — aber ich wußte ihn zu überreden: „Ach was, Unsinn — Ausreden giebt es nicht — so hier, mein Sohn, iß und trink — was willst Du haben, Bier oder Rothwein?”
„Es ist wirklich ganz einerlei — was Du hast.”
Endlich saß er in Ruhe und Gemüthlichkeit, und nun ging das erzählen los, eigentlich erzählte ich ganz allein, fragte nach diesem und jenem, alte Streiche wurden aufgefrischt, und wir lachten so herzlich, daß selbst meine kleine Frau wenigstens für Secunden ihren Zorn vergaß und sich zu einem Lächeln herbeiließ.
„Und nun, Peter Hansen, alter Knabe, Freund und Genosse so mancher Irrfahrt, nun kannst Du auch mal was sagen, nachdem ich mich heiser geredet habe. Zunächst. wie ist es Dir gegangen in den langen Jahren, da wir uns nicht sahen?”
„Schlecht, herzlich schlecht, das Geschäft ist zu flau.”
„Also Kaufmann bist Du geworden? Ich dachte, Du wolltest studiren?”
„Wollt ich auch,” gab er zurück, „aber der Vater starb früh, da fehlte es an dem nöthigen Kleingeld.”
Das klang so traurig, daß ich ihn tröstete: „Na, na, nimm's nur nicht so tragisch, Kaufmann ist auch ein nicht zu verachtender Stand — womit handelst Du denn oder richtiger gesagt: worin machst Du?”
„Ich bin Weinreisender, Vertreter der großen Firma Kehler und Sohn in Hamburg.”
Mir ahnte plötzlich nichts Gutes.
Nun war mir Alles klar: warum er dem Diener seinen Namen nicht genannt, warum er sich nicht hatte abweisen lassen!
„Um Gottes Willen,” stöhnte ich. „Weinreisender?”
Als ich es gesagt, fühlte ich, daß ich damit eine große Tactlosigkeit begangen hatte — der arme Peter Hansen war erbleicht wie unter einer tödtlichen Beleidigung, und meine Frau warf mir einen Blick zu, der nicht mißzuverstehen war. Ich gab dem alten Freunde die Hand: „Sei nicht böse,” bat ich, „aber seitdem mir einmal ein Weinreisender in fünf Minuten einen halben Weinkeller aufgeredet hat, habe ich einmal eine Antipathie gegen den Stand.”
Da hatte ich abermals eine Tactlosigkeit begangen.
„Peter Hansen, nimm auch das nicht übel — aber bei Dir bin ich wohl sicher oder willst Du mir auch(2) etwas verkaufen?”
„Es war eigentlich meine Absicht,” sagte er leise, „ich dachte, Du als alter Bekannter —”
„Natürlich,” pflichtete ich bei, „ich als alter Bekannter —”
„Siehst Du,” frohlockte er, „ich wußte ja, daß Du mich nicht abweisen würdest — Du wirst hier viel Wein gebrauchen, die Geselligkeit ist hier sehr groß und ich habe gerade jetzt sehr, sehr schöne Sorten.”
Meine Frau entfernte sich unter dem Vorwand, einmal nach der Wirthschaft sehen zu müssen.
„Na, Peter Hansen, denn(3) schieß mal los, was hast Du Dir denn gedacht —”
Und nun entwickelten wir Beide eine Beredsamkeit, die nicht gering war, weil wir Beide für unser Portemonnaie kämpften.
„Sieh mal, drei Sorten Rothwein mußt Du doch wenigstens haben, einen Tischwein, eine bessere Sorte und dann einen ganz guten Rothwein und Sect und Rheinwein mußt Du doch auch nothwendig haben — natürlich nicht viel — aber doch hundert Flaschen von jeder Sorte!”
„Und wer soll das bezahlen” stöhnte ich.
„Aber ich bitte Dich — Du hast ja Credit — unter alten Bekannten ist das doch selbstverständlich.”
„Aber ich bitte Dich,” rief ich „hundert Flaschen von jeder Sorte — sagen wir zehn.”
„Unter fünfundzwanzig giebt mein Haus nicht ab.”
„Gut, dann fünfundzwanzig.”
„Sagen wir fünfundsiebenzig —”
„Nicht für die Welt,” stöhnte ich.
„Gut, dann also fünfzig — wenn Du als alter Bekannter mir nicht einmal etwas abkaufen willst —”
Und gegen das Wort war und blieb ich machtlos — und als Peter Hansen mich endlich verließ, hatte er gesiegt — fünfhundert Flaschen Wein hatte ich ihm abgekauft.
Mit einem leeren Portemonnaie war ich am Morgen aufgestanden — Mit einem Schuldbewußtsein von tausend Mark und darüber legte ich mich Abends schlafen.
Als meine Frau das Ergebniß unserer Unterredung erfuhr, wollte sie sich von mir scheiden lassen, mich zum mindesten unter Curatel bringen — der eheliche Friede des Hauses war zerstört, die Finanzen des Hauses für lange erschüttert.
Und seit dieser Minute wird mir schlecht, wenn sich mir ein alter Bekannter nähert — ich bin um meine Versetzung nach Indien oder sonst einer Gegend, in der mich Niemand kennt, bereits eingekommen.
Mein Geldbeutel erlaubt mir manchen Luxus, aber nicht den alter Bekanntschaften.
(1) Unter dem 15.Sept. 1895 wird im „Militärwochenblatt” angekündigt: „Graf v. Baudissin, Sec.-Lt. vom I.-R. 76 in das I.-R. 84 (Schleswig) versetzt.” (zurück)
(2) In der Buchfassung fehlt hier das Wort „auch”. (zurück)
(3) In der Buchfassung heißt es statt „denn schieß mal los” : „dann schieß mal los”. (zurück)