Arme Schlucker

von Freiherr von Schlicht

in: „Arme Schlucker”
Grethlein & Co., 1907 und
in: „Die Fürstentreppe”
Verlag Oskar Meister, Werdau, 1927


Es gibt zweierlei arme Schlucker, solche, denen es nur unter den größten Entbehrungen möglich ist, ihr Leben zu fristen, die sich da gerne einmal wirklich satt essen möchten und es doch nicht können, die da glauben, niemand hätte es auf der Welt so schlecht wie sie, und die da denken, alle anderen, die mehr Geld haben als sie, müßten schon deshalb auch tausendmal glücklicher sein. Wer da arm ist, denkt nicht an die, die da noch ärmer sind, als er, sondern nur an die Reichen, die im Automobil an ihm vorbeisausen, deren Luxus und Aufwand seinen Neid und seine Mißgunst erregen.

Und doch gibt es auch unter den Reichen arme Schlucker, denn noch viel schlimmer als die Armut ist die Abhängigkeit. Der Bettler, der am Grabenrand liegt und träumt, der doch bis zu einem gewissen Grade sein freier Herr ist und tun und lassen kann, was er will, ist ein König im Vergleich zu manchem Anderen, der in goldenen Ketten seufzt.

Und die Ketten sind nicht einmal immer golden, nicht einmal das. Aber sie drücken deshalb nicht minder schmerzhaft als die Fesseln, die der Verbrecher im Gefängnis trägt. Auch sie hemmen den freien Willen, auch sie machen es unmöglich, das zu tun, was man möchte, auch sie stumpfen jedes Ehrgefühl, jeden Stolz, jedes Selbstbewußtsein ab und ersticken jede Individualität.

Und die militärischen Ketten — — so glänzend sie auch nach außen hin aussehen — — sind wahrlich nicht die leichtesten!

Der Herr Oberst hat eine große Felddienstübung im Regiment angesetzt. Er selbst hat dazu nicht die leiseste Neigung und dienstlich ist der Tag auch schlecht gewählt, denn für die nächste Woche hat Se. Exzellenz sich angesagt, die zwar nicht besichtigen, sondern sich nur „besuchsweise” einmal von dem gesundheitlichen und kriegsbereiten Zustand der Truppe überzeugen will. Der Herr Oberst sieht es voraus, daß der Besuch Sr. Exzellenz mit einem Parademarsch anfangen und aufhören wird, und so täte er viel besser, seine Leute Parademarsch üben zu lassen, als eine große Gefechtsübung abzuhalten. Aber er weiß, daß es auf den hohen Vorgesetzten einen guten Eindruck machen wird, wenn er trotz der bevorstehenden Ankunft Sr. Exzellenz mit seinem Regiment ins Gelände zieht. Damit beweist er diesem, daß seine Truppe mit dem Parademarsch „auf der Höhe der Beine” ist, daß er den nicht mehr zu üben braucht, daß seine Kerls ihn können.

In Wirklichkeit können sie ihn natürlich noch nicht, wenigstens nicht annähernd so gut, wie sie ihn können müßten, denn die Truppe, die da kann, was sie soll, gibt es nicht, und wenn es sie trotzdem gibt, so gibt es sie trotzdem nicht, denn da brauchten die Leute ja nichts mehr zu lernen. Und daß ein Mann ausgelernt hat, bevor er nach dem Kalender seine zwei Jahre abriß, ist doch einfach undenkbar. Das könnte sonst unter Umständen dahin führen, daß man im Reichstag eine nochmalige Verkürzung der allgemeinen Dienstzeit fordern würde. Und das darf nie und nimmer geschehen. Denn wenn ein begabter Soldat auch schließlich keine zwei Jahre braucht, um sich die militärischen Kenntnisse anzueignen, so braucht er diese Zeit sicher, um es ganz zu verlernen, in Gegenwart der Vorgesetzten eigene Gedanken zu haben und um das, was er selbst denkt, im Gegensatz zu dem, was die Höheren denken, als Unsinn anzuerkennen. Und diese Erziehung zur Gedankenlosigkeit, zum blinden Gehorsam, ist und bleibt doch die Hauptsache — — wenigstens beim Militär.

Der Herr Oberst will dadurch, daß er Felddienst abhält, Se. Exzellenz täuschen. Er sagt sich: wenn ich Exzellenz zeige, daß ich keinen Parademarsch mehr zu üben brauche, dann wird er mir das glauben. Der Oberst will seine Angst vor dem bevorstehenden Besuch Sr. Exzellnez dem hohen Vorgesetzten gegenüber dadurch verbergen, daß er sich anscheinend garnicht um Se. Exzellenz kümmert, und das ärgert den hohen Herrn, als er aus den Dienstrapporten des Regiments ersieht, daß der Oberst — — trotzdem seine Ankunft bevorsteht, Felddienst abhält.

Hätte der Oberst einen anderen Dienst angesetzt, so hätte sich Exzellenz gesagt: wie schlecht das Regiment ausgebildet ist, beweist mir am besten der Umstand, daß der Oberst jetzt nur, weil ich komme, keine Zeit findet, eine Felddienstübung abzuhalten. Nun, da er es tut, sagt sich Exzellenz: für den Felddienst wäre es immer noch Zeit. Jetzt, wo ich in der Garnison erwartet werde, müßte der Kommandeur Wert darauf legen, mir sein Regiment in einem tadellosen Parademarsch vorzuführen. Daß er diesen Dienstzweig jetzt vernachlässigt, beweist mir, daß er seiner Sache entweder sehr sicher ist, oder aber, daß er mich täuschen will. Ich aber lasse mich nicht täuschen, der Oberst, der das Kunststück fertig bringen will, muß viel früher aufstehen als ich.

Und Exzellenz, der an Schlaflosigkeit leidet, steht selbst im Winter schon des Morgens um fünf auf — — —

Armer Oberst!

Exzellenz hat sich vorgenommen, dem Parademarsch seine vollste Aufmerksamkeit zu schenken. Kann er loben, so will er dies natürlich sehr gern tun, nicht nur, weil das seine Pflicht ist, sondern auch, weil es ihm ein Herzensbedürfnis wäre, — es ist nur die große Frage, ob es so kommen wird, wie er wohl möchte.

Als Exzellenz am Morgen seiner Dienstreise aufwacht, hat er aus ihm selbst unerklärlichen Gründen über diesen Punkt seine schweren Bedenken. Und als er in der Garnison ankommt, sind diese immer noch nicht von ihm gewichen. Das muß mit einer Magen-Indisposition zusamenhängen und er nimmt sich vor, sobald der Parademarsch vorüber ist, einen Löffel doppelkohlensauren Natrons zu schlucken. Das tut ihm immer gute Dienste.

Auf den Gedanken, das Natron vor dem Parademarsch einzunehmen, kommt er garnicht. Das wäre unmilitärisch: erst kommt der Dienst, dann erst darf er an seine Gesundheit denken — —

Treue Pflichterfüllung vor allem!

Der Herr Oberst erwartete Se. Exzellenz auf dem Kasernenhof. Das Regiment steht in Paradeaufstellung und Exzellenz mustert vom rechten Flügel aus die Richtung. Nichts auf der Welt ist so vollkommen, daß es nicht noch vollkommener sein könnte. An diese Weisheit denkt Exzellenz und sagt: „Die Richtung könnte besser sein — sogar viel besser.”

Der Oberst will widersprechen. Aber Recht bekäme er ja doch nicht. So schweigt er und — schluckt den unverdienten Tadel hinunter —

Gleich darauf beginnt der Vorbeimarsch. Bei dem Parademarsch in Zügen befinden sich die Leutnants nicht, wie sie es sollen, ganz genau zwei Schritte vor der Mitte ihrer Leute. Bei dem Parademarsch in Kompagniefront ist die Richtung bei einer Kompagnie nicht ganz so gut, wie sie sein könnte. Und bei dem Parademarsch in der Regimentskolonne sind die Abstände nicht ganz gleich.

Das sind die Kleinigkeiten, die bei jeder Parade vorkommen, die fast unvermeidlich sind, und Exzellenz würde auch darüber kein Wort verlieren, wenn er nicht — mit so großen Erwartungen hergekommen wäre, wenn er sich nicht schon heute Morgen auf den Parademarsch gefreut hätte. — —

Er ruft sämtliche Offiziere zur Kritik: „Ich muß offen gestehen, mein sehr verehrter Herr Oberst, ich hatte mir mehr versprochen. Ich war geradezu glücklich, als ich neulich las, daß Sie eine Felddienstübung abhielten. Gott sei Dank, sagte ich mir, endlich einmal ein Untergebener, der es bei der Nachricht, daß du kommst, nicht gleich mit der Angst kriegt, der sich dadurch nicht in der kriegsgemäßen Ausbildung seiner Truppe stören läßt! — Wirklich, das hat mich aufrichtig gefreut. Ich sagte mir: der Oberst ist seiner Sache ganz sicher. Aber nun sehe ich mit Bedauern, daß ich mich doch geirrt habe. Ich will ja nicht gerade behaupten, daß der Parademarsch schlecht war, aber er konnte viel besser sein, ja, er mußte sogar besser sein. Ich möchte sagen: was das Regiment heute geleistet hat, genügt für den Hausbedarf, aber keinesfalls für den Besuch eines hohen Gastes, wie es eine Exzellenz für die Truppe nicht nur sein soll, sondern sein muß. — Daß die Herren Leutnants heute nicht vor der Mitte ihrer Züge waren, ist mir geradezu unbegreiflich. Wenigstens heute hätten Sie sich doch Mühe geben können, meine Herren, denn wenn Sie bummeln, bummeln die Kerle natürlich erst recht. — Die Hauptschuld aber an allem, Herr Oberst, tragen Sie. So geht das nicht weiter. Sie müssen dem Parademarsch in Zukunft mehr Interesse entgegenbringen, Sie müssen es eben verstehen, jedem Dienstzweig gerecht zu werden. Nur dadurch erfüllen Sie erst ganz das Vertrauen, das unser Allergnädigster Kaiser, König und Herr in Sie setzte, als er Sie zum Kommandeur dieses stolzen Regiments ernannte!”

Dem Oberst steigt das Blut in die Wangen. Selbst der jüngste Leutnant hört es mit an, wie er hier abgekanzelt wird. Er will widersprechen, er will wenigstens Exzellenz bitten, ihm das, was er auf dem Herzen hat, unter vier Augen zu sagen.

Exzellenz merkt, was in dem anderen vorgeht, und nimmt das mit Recht übel. Der Oberst hätte alle Ursache, ihm dankbar zu sein, daß er ihn auf die Fehler des Regiments sowie auf seine eigenen aufmerksam macht. Anstatt dessen markiert er nun auch noch den Beleidigten und tut, als wenn er den Tadel garnicht verdient. Das geht unter keinen Umständen. Denn ein Oberst muß in jeder Hinsicht für seine Untergebenen ein leuchtendes Vorbild sein.

Was dann, wenn auch die Leutnants merken sollten, wie sich in ihrem Kommandeur der Widerspruchsgeist regt! Von ihnen kann man bei ihrer Jugend vielleicht nicht so ohne weiteres verlangen, daß sie an die Unfehlbarkeit der Vorgesetzten glauben, — — das kommt erst mit den Jahren. Der Oberst aber muß sich zu dieser Überzeugung durchgerungen haben, sonst ist er geistig noch nicht reif für die hohe Stellung eines Regiments­kommandeurs.

So wird Exzellenz denn gröber und gröber, vom Pianissimo geht es bis zum Fortissimo, — es wird die reine Symphonie mit dem Paukenschlag. Und während Exzellenz spricht, sieht er den Oberst mit so kalten, strengen, herrischen Augen an, daß dieser sich Blick und Worten fügt, daß er sich nicht zu rühren wagt, — aus Angst vor der Verabschiedung, daß er alles herunterschluckt, was er da an Ungerechtigkeiten zu hören bekommt. Und das ist weiß Gott nicht wenig. Sein Stolz lehnt sich dagegen auf, aber er denkt an die geringe Pension, von der er leben muß, wenn er es wagt, Sr. Exzellenz nun auch einmal seine Meinung zu sagen —

So steht er denn da und würgt — und würgt — um nicht vor Wut und Ingrimm zu ersticken. Es bleibt ihm ja auch nichts anderes übrig, ob er will oder nicht: er muß es herunterschlucken.

Und er schluckt — und schluckt — —

Allen Offizieren tut der Oberst leid und jeder sagt sich: Ich verstehe ihn nicht — er ist doch sonst ein ganzer Kerl? Na, so viel weiß ich, wenn Exzellenz mir als Oberst solche Grobheiten sagte, dann würde ich ihn vor den Bauch treten, daß ihm für alle Zeiten alle Luft entweicht.

Die da so denken, sind noch jung. Sie haben es eben noch nicht gelernt, den Mund zu halten und ihre eigenen Gedanken — seien sie auch noch so klug, — denen der Vorgesetzten — wären die auch noch so dumm — unterzuordnen.

Und der Oberst schluckt — und schluckt — er wird abwechselnd blaß und rot, im Geiste ballt er die Fäuste, mit einem Wutschrei springt er in Gedanken dem anderen an die Gurgel: bist du denn nur Vorgesetzter? Hast du denn gar kein Herz? Hast du denn ganz vergessen, daß auch du einst Oberst warst? Hast du denn gar kein Erbarmen? — —

Aber auch das schluckt der Oberst alles herunter, das und noch so vieles andere, bis Exzellenz sich plötzlich daran erinnert, daß es für ihn höchste Zeit wird, Natron einzunehmen — —.

So beendet er denn seine Kritik und fährt wenig später in seine Garnison zurück.

Am Abend muß der Oberst an einem Festmahl in der Stadt teilnehmen. Er erscheint als der offizielle Vertreter der militärischen Macht und wird dementsprechend von allen Zivilisten mit der größten Auszeichnung behandelt. Die besten Speisen und Getränke werden herumgereicht — bei dem Servieren eines jeden Ganges fängt man bei dem Herrn Oberst an, er sitzt an der Spitze der üppigen Tafel, er schwelgt in allen nur denkbaren lukullischen Genüssen, aber seine Gedanken sind bei der Kritik des Vormittags.

Mögen die anderen, die mit ihm an derselben Tafel sitzen, ihn wegen seiner Ausnahmestellung, wegen seiner glänzenden Uniform, wegen des Hochs, das jetzt auf ihn ausgebracht wird, wegen aller Ehren, die man ihm erweist, auch noch so sehr beneiden, — er ist doch nur ein armer Schlucker —

Es gibt eben zweierlei arme Schlucker — und die da hungrig und durstig ihres Weges ziehen und oft nicht wissen, wovon sie am nächsten Tage leben sollen, sind wahrlich nicht immer — die ärmsten — — —.


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© Karlheinz Everts