Von Freiherr von Schlicht,
in: „Im Barackenlager und anderes”
Die Herren der Reserve sind bei ihren verschiedenen Truppenteilen eingetroffen und bei dem Infanterieregiment Herzog Paul Alexander hat der Herr Oberst alle Offiziere um sich versammelt und hält ihnen eine sehr schöne Rede, in der er die neuangekommenen Herren mit warmen Worten begrüßt und der Hoffnung Ausdruck gibt, daß das Zusammenleben in dienstlicher und in kameradschaftlicher Hinsicht für beide Teile ein erfreuliches und ersprießliches sein möge.
Als der Kommandeur Schluß macht, herrscht ringsherum eine feierliche Stille und in diese hinein ertönt ein Klagelaut, so tief, so schmerzlich, so um erbarmen und Gnade flehend, wie ihn nur ein Mensch von sich zu geben vermag, der unendliches Leid zu tragen hat.
Und der so stöhnt, ist der Herr Hauptmann der Königlichen ersten Kompagnie, die den stolzen Beinamen führt: Die Leibkompagnie. Deren Leistungen müssen womöglich noch besser sein als die der anderen, wie er die besten Mannschaften hat, so müssen auch seine Leutnants die allerbesten sein und deshalb hat er auch in diesem Jahr jeden Abend, bevor er sich schlafen legte, in seinem stillen Kämmerlein gebetet: „Vater, ist es möglich, so laß wenigstens dieses Mal die Herren der Reserve an mir vorübergehen und laß, ich flehe dich an, nicht deinen, sondern meinen Willen geschehen.”
Aber in der richtigen Erkenntnis, daß unter Umständen die Menschen mehr vermögen als die Götter, hat er sich den Regimentsadjutanten eingeladen und hat ihn bei verschiedenen Flaschen Sekt ganz gewaltig bearbeitet: „Tun Sie es mir nicht an, ich verspreche Ihnen auch, Ihnen auf meiner Jagd den größten und besten Bock zu reservieren, den dürfen Sie abschießen, meinetwegen auch nur anschießen, selbst das will ich Ihnen erlauben, und wenn es soweit ist, können Sie später auch die ganzen Rebhühner schießen und sogar auch alle aufessen, das Sauerkraut und die nötigen Getränke liefere ich Ihnen extra. Nicht liegt mir natürlich ferner, als Sie irgendwie bestechen zu wollen, aber eine Hand wäscht die andere, bei welchem Wort ich immer darüber nachdenken muß, wie ein Mensch, der nur eine Hand hat, sich die Hände waschen kann. Um aber auf besagtes Unheil zurückzukommen, nicht wahr, Sie tun, was Sie können. Ich will ja gerne zugeben, daß diese Aversion, die ich in dienstlicher Hinsicht gegen die Herren der Reserve hege, lediglich eine fixe Idee ist, ich will sogar eingestehen, daß ich in früheren Jahren, als ich noch nicht Hauptmann war, unter den Kameraden des beurlaubten Standes sehr tüchtige Offiziere kennen gelernt habe, aber trotz alledem, nicht wahr, Sie erbarmen sich meiner.”
Aber trotz aller schönen Versprechungen, die ihm gemacht werden, erbarmt sich der Adjutant nicht: „Es geht wirklich nicht, Herr Hauptmann, es kommen in diesem Jahr so viele Herren zu uns, daß wir keine einzige Kompagnie auslassen können und wenn gerade die Leibkompagnie unbesetzt bliebe, dann würden die Herren darin mit vollstem Recht eine schwere Kränkung und Zurücksetzung sehen, die sie in keiner Weise verdienen und die nur dazu angetan wäre, ihnen die Lust und Liebe zu weiteren freiwilligen Übungen zu nehmen.”
„Gewiß, da haben Sie ganz recht und ich stimme Ihnen auch vollständig bei, aber ich meine, bei mir können Sie trotzdem eine Ausnahme machen.”
Der Hauptmann sagte immer dasselbe und der Adjutant erwiderte immer dasselbe, so ist auch, als man sich um Mitternacht trennt, nur um einen einzigen Punkt eine Einigung erzielt, beide sind nicht mehr ganz nüchtern. Aber wenn der eine behauptet, das käme davon, daß er zu viel von der Ananas gegessen habe, erklärt der Andere, es käme vom Sekt, aber das Resultat blieb das gleiche.
Trotz der ablehnenden Haltung des Adjutanten hat der Hauptmann aber immer noch gehofft. Vor einer halben Stunde hat er nun die dienstliche Mitteilung erhalten, daß seine Hoffnung zu schanden geworden ist. Er hat nicht nur einen, sondern sogar drei Herren der Reserve auf seine Kompagnie bekommen und so kam sein Seufzer wirklich aus tiefstem Herzen hervor.
Ihm selbst ist alles andere, nur nicht lächerlich zu Mute, aber die aktiven Kameraden wissen ja, warum er so stöhnt, so brechen sie alle in ein schallendes Gelächter aus und die Herren der Reserve lachen mit, wenn sie auch selbst nicht wissen, warum.
„Na, na, Herr Hauptmann,” meint der Herr Oberst jetzt belustigt, „so schlimm wird es wohl nicht sein und im übrigen trösten Sie sich damit, daß jedes Leiden vorüber geht. In ein paar Wochen ist alles wieder gut.”
Die Herren der Reserve, die seiner Kompagnie zugewiesen sind, sehen sich etwas erschrocken an: ihr Hauptmann ist krank, den quält irgend ein Leiden , das ist für sie keine angenehme Aussicht, denn kranke Vorgesetzte werden nur zu leicht erregt und nervös. Und wenn der Himmel über ihren Köpfen heut auch noch so blau ist, so denken sie doch schon jetzt an manches Donnerwetter, das sich über ihren Köpfen nicht nur zusammenziehen, sondern auch entladen wird, denn im Gegensatz zu den Wolken am Himmel ziehen militärische Gewitterwolken nie vorüber.
Nach seiner offiziellen Rede richtet der Herr Oberst nun auch noch einige private Worte an die neuangekommenen Herren. Er erkundigt sich, ob schon alle eine Wohnung gefunden haben und zum Schluß sagt er: „Und dann noch eins, meine Herren. Betrachten Sie Ihre Sommerübung auch als eine Erholung, als eine Abwechslung in Ihrem sonstigen Beruf und vor allen Dingen vergessen Sie allen etwaigen Ärger und Verdruß, den der eine oder andere von Ihnen vielleicht in der letzten Zeit gehabt hat. Zerstreuen Sie sich im Kreis der Kameraden und seien Sie fröhlich mit den Fröhlichen.”
Alle wissen, auf wen diese letzten Worte gemünzt sind, auf den Kameraden der Reserve Ehrhardt. Der ist trotz seiner jungen Jahre, er zählt kaum dreißig, der technische Betriebsdirektor auf einem sehr großen Bahnhof. Dort hat sich kürzlich ein schwerer Eisenbahnunfall zugetragen, der manches Menschenleben zerstorte. Ihn selbst trifft nicht der Schatten eines Vorwurfes, das hat die Untersuchung zur Evidenz erwiesen, aber trotzdem, daß das Unglück gerade auf seinem Bahnhof passieren mußte, hat ihn, der früher immer lustig und übermütig war, ernst und still gemacht. Auch der ist zur Leibkompagnie gekommen und über den ist der Herr Hauptmann am meisten entsetzt, denn mit Rücksicht auf die damals noch schwelende Untersuchung hat er an der Ausbildung im Barackenlager nicht teilgenommen und dem Herrn Hauptmann steht nun das Vergnügen bevor, ihm die fehlenden Kenntnisse beizubringen.
Aber er hat wenigstens keinen Bauch, der die Front verunziert, wie der etwas zur Fülle neigende Herr Leutnant Martens und der ebenfalls nicht schlanke Herr Leutnant Berka, der Herr Rechtsanwalt.
Unmittelbar, nachdem der Herr Oberst die Herren entlassen hat, eilen alle in das Kasino, um dort die Begrüßungsarie zu singen. Ein Willkommenstrunk wird herumgereicht, aber kein allzu großer, denn wie die Herren vor zwei Tagen im Barackenlager „abgegessen” wurden, so sollen sie am Nachmittag „angegessen” werden. Um sechs Uhr ist großes Liebesmahl, da heißt es jetzt mäßig sein, und bis dahin ist auch noch viel zu erledigen, besonders für die Herren, die aus ir gendwelchen Gründen die Wohnung, die sie in früheren Jahren innehatten, nicht wieder bekommen konnten, die vorläufig im Hotel abgestiegen sind.
Unter diesen befindet sich auch der Herr Rechtsanwalt. Nach den Entbehrungen, die er im Barackenlager entbehren mußte,will er nun mit allem nur möglichen Komfort wohnen und seine Emmy hat ihn in diesem Vorsatz bestärkt: „Nimm dir nur ein paar recht hübsche Zimmer und wenn es irgend geht, auch ein Fremdenzimmer für mich, denn lange halte ich es vor Sehnsucht nun nicht mehr aus und wenn du aus dienstlichen Gründen nicht zu mir kommen kannst, dann komme ich nächstens zu dir.”
Die Aussicht stimmt ihn froh und glücklich und läßt ihm das Wohnungssuchen fast wie ein Vergnügen erscheinen. Unermüdlich steigt er treppauf, treppab, aber alles, was er sich ansieht, ist ihm nicht gut genug, bis er dann doch endlich findet, was er sucht. Zwei wirklich hochelegante Zimmer, und als er sich in diesen umsieht, blickt er durch eine offenstehende Tür in ein daneben gelegenes, sehr hübsch eigerichtetes drittes. Sein erster Gedanke ist Emmy und so sagt er denn: „Wenn ich auch das noch bekommen könnte, nehme ich es ebenfalls, über den Preis werden wir uns schon einigen. Ein Fremdenzimmer wäre mir sehr lieb, denn ich erwarte, wahrscheinlich schon in den allernächsten Tagen, den Besuch meiner Schwester.”
Das Wort „Schwester” kommt ihm ganz glatt über die Lippen und er macht dabei dasselbe ehrliche und unschuldige Gesicht, das er vor Gericht aufsteckt, wenn er einen Verbrecher, von dessen Schuld er felsenfest überzeugt ist, den Richtern als den besten, ehrlichsten und unschuldigsten Menschen von der Welt schildert. Schon zu wiederholten Malen ist es ihm durch seinen Gesichtsausdruck gelungen, die Richter zu täuschen, aber die große, schlanke Frau da vor ihm in dem einfachen schwarzen Kleid mit dem vor Sorgen und Kummer frühzeitig gealterten Gesicht, scheint ihm doch nicht so recht zu trauen, denn ihn scharf ansehend, fragt sie plötzlich: „Die Dame, die Sie erwarten, ist doch aber auch wirklich ihre Schwester?”
Sein Gesicht nimmt den Ausdruck ehrlichster Entrüstung an und man merkt es an seiner Stimme, er ist in seinen heiligsten Empfindungen verletzt, als er nun fragt: „Aber wer soll die Dame denn sonst wohl sein?”
Die Frau bleibt die direkte Antwort auf diese Frage schuldig, sondern meint nur ausweichend: „Es gibt ja so viel Schlechtigkeit in der Welt, Sitte und Moral verfällt immer mehr und Sie sind doch noch jung und wie ich sehe auch noch unverheiratet. Aber ich habe meine Tochter bei mir, die ist noch keine achtzehn Jahre, da werden Sie es mir nachfühlen, daß ich nur an solche Herren vermieten kann, deren Lebenswandel absolut einwandfrei ist, denn mein keusches Kind darf nichts sehen und hören, was ihre Keuschheit zu trüben vermag. Rein und unbefleckt wie ihr Körper es ist, soll auch ihre Seele bleiben.”
„Die Frau ist früher sicher mit einem Pastor verheiratet gewesen,” denkt er im stillen, dann sagt er: „Fürchten Sie nichts, gnädige Frau, ich werde der Keuschheit Ihres Kindes nicht zu nahe treten und deren Reinheit wird auch sonst durch meinen Aufenthalt bei Ihnen in keiner Weise gefährdet werden. Aber wenn Sie trotzdem noch Bedenken gegen meine Person haben, nehme ich mir selbstverständlich eine andere Wohnung.”
Er beront das Wort „trotzdem” so eindrucksvoll, wie er es nur vermag und da er weiß, daß die Augen der Spiegel der Seele sind, blickt er unschuldig wie ein Kind darein, aber trotzdem traut ihm die Witwe immer noch nicht so ganz, bis dann der Wunsch, die Zimmer zu vermieten und das Geld zu bekommen, schließlich doch ihre Bedenken überwindet.
Über den Preis wird man schnell einig und der Einfachheit bezahlt er gleich die ganze Miete im voraus.
„Das ist besser,” denkt er sich, „dann bin ich sicher, in der Zwischenzeit nicht gekündigt zu werden, denn ehe die Frau das Geld wieder zurückgibt, drückt sie ein Auge zu.”
„Das ist verdächtig,” denkt die Witwe. „Warum er im voraus bezahlt, kann ich mir denken, na, ich werde schon beide Augen und Ohren offen halten.”
Gerade als er gehen will, um seine Sachen aus dem Hotel zu holen, tritt ein junges Mädchen in das Zimmer und die Wirtin stellt sie vor: „Meine Tochter Anna — Herr Leutnant der Reserve Berka, unser neuer Mieter.”
Anna macht einen Knix und sieht ihn kaum an. Sie trägt ein ganz einfaches Sommerkleid, ihre dichten braunen Haare sind schlicht gescheitelt und sie macht ganz den Eindruck eines unschuldigen Pastorentöchterleins. Sie steht da, den Blick fortwährend zu Boden gesenkt, als schäme sie sich, ein verderbtes Geschöpf, wie es ein Mann anscheinend für sie ist, überhaupt nur anzuschauen.
Aber als ihre Mutter sich dann an den Tisch setzt, um lediglich der Ordnung wegen über das soeben erhaltene Mietsgeld eine Quittung auszustellen, sieht sie ihn plötzlich mit ihren großen rehbraunen Augen, deren Schönheit ihn völlig überrascht, voller Neugierde und voller Interesse prüfend an, um gleich darauf wieder fromm und tugendhaft die Augen niederzuschlagen.
„So 'n Racker,” denkt er. „Die Keuschheit mag ja echt sein, aber wenn das Mädel es nicht faustdick hinter den Ohren hat, dann will ich nie wieder behaupten, ein Menschenkenner zu sein.”
Und schon zwei Stunden später, als er in seine neue Wohnung übergesiedelt ist, konstatiert er voller Genugtuung, daß seine Menschenkenntnis ihn nicht getäuscht hat. Fräulein Anna bietet ihm ihre Dienste an: „Wenn ich Ihnen vielleicht bei dem Auspacken und dem Einräumen behilflich sein kann — Mutter hat ein paar notwendige Besorgungen zu machen, vor anderthalb Stunden ist sie auf keinen Fall zurück und ich unterhalte mich so gerne einmal mit jemand anders als immer nur mit der Mutter. Sie meint es gewiß gut mit mir, aber sie hat so gräßlich veraltete Anschauungen und kann es garnicht begreifen, daß die Zeit und die Menschen heute anders sind als zu ihrer Jugend.”
„So etwas können Eltern nie einsehen,” beruhigte er sie. Dann fragte er, sich eine neue Zigarette anzündend: „Wie ist es, Fäulein Anna, rauchen Sie aucheine?”
„Furchtbar gerne,” dann setzte sie hinzu, „aber Sie dürfen der Mutter nichts davon sagen.”
Ganz entrüstet wirft er sich in die Brust: „Sehe ich wie eine Klatschschwester aus?”
Er findet seine Frage absolut nicht komisch, aber sie lacht trotzdem hell auf und er findet, daß ihr das Lachen sehr gut steht, denn sie hat zwei entzückende Grübchen. Fräulein Anna ist überhaupt gar nicht so uneben, das sieht er jetzt erst, als sie ihm in leichter, lässiger Haltung, die Beine übereinandergeschlagen, gegenüber sitzt. Er betrachtet sie halb prüfend und halb verwundert. Welch ein Unterschied zwischen dem jungen Mädchen, das vorhin die Augen nicht aufzuschlagen wagte, und dem, das ihm jetzt mit der Zigarette zwischen den Lippen Gesellschaft leistet.
Es herrscht eine Weile Schweigen, dann sagt sie ganz plötzlich und unvermittelt: „Wann kommt denn Ihr Fräulein Schwester, Herr Leutnant? Mutter hat mir von dem bevorstehenden Besuch erzählt und da muß ich Ihnen gleich eins sagen, es ist Ihnen trotz aller Bemühungen doch nicht gelungen, sie ganz zu überzeugen. Sie ist immer noch mißtrauisch, seien Sie also vorsichtig. Na, was ich für Sie tun kann, das tue ich, aber sonderbarerweise glaubt meine Mutter grade mir noch weniger als anderen.”
„Da hat Ihre Mutter vielleicht nicht so ganz unrecht,” denkt er im stillen, dann aber sagt er, eingedenk seiner Worte, daß die Keuschheit der Tochter durch seine Anwesenheit hier im Hause in keiner Weise gefährdet werden soll: „Das Mißtrauen Ihrer Mutter ist völlig ungerechtfertigt und ich begreife garnicht wie sie mir zumuten kann —”
„Daß ich eine Geliebte habe,” will er den Satz beenden, aber er bricht plötzlich ab, denn er will das junge Mädchen nicht verlegen machen. Das wird sie denn auch nicht, wohl aber wird sie böse und mit ganz beleidigter Stimme sagt sie: „Na, Herr Leutnant, daß Sie mich für so dumm halten — Sie müssen nun nicht gerade von sich selbst auf andere schließen.”
„Na, erlauben Sie mal,” verteidigt er sich, halb ernsthaft, halb belustigt.
Aber sie wehrt ab: „Da gibt es garnichts zu erlauben und ich meine, wenn Sie vorhin schon flunkerten, dann hätten Sie es gescheiter anfangen müssen. Da durften Sie nicht von Ihrer Schwester sprechen, sondern hätten von Ihrer verheirateten Schwester erzählen müssen, die mit ihren Kindern zum Besuch kommen wollte. Das hätte gar keinen Argwohn aufkommen lassen und wenn Ihre verheiratete Schwester dann nachher ohne die Kinder gekommen wäre — du großer Gott, Herr Leutnant, Kinder sind doch so zart, denen kann unterwegs nur zu leicht etwas zustoßen, namentlich im zarten Alter, da hätte meine Mutter, schon weil sie selbst Mutter ist, es nur zu begreiflich gefunden, daß die andere Mutter die lieben Kleinen doch lieber zu Hause ließ. Sehen Sie, Herr Leutnant, so hätte ich das an Ihrer Stelle gemacht.”
Einen Augenblick starrte er das junge Mädchen ganz verwundert an, die hatte es ja noch dicker hinter den Ohren als er selbst; dann aber tritt er schnell auf sie zu und hält ihr die Hand hin: „Schlagen Sie ein, Fräulein Anna, wir beide müssen gute Freunde werden, denn wir zwei passen zusammen.”
Sie schlägt fröhlich lachend in seine Rechte ein: „Auf gute Freundschaft und ich freue mich wirklich, daß Sie es endlich einsehen, daß wir zu einander — „passen”.
„Endlich ist gut,” meint er und die Uhr herausziehend, sagte er: „Wir kennen uns jetzt gerade siebenunddreißig Minuten.”
Erschrocken springt sie auf: „Schon so lange? Da müssen wir jetzt aber mit dem Einräumen beginnen, denn bald kommt die Mutter zurück und dann muß ich wieder fleißig im Haushalt helfen. Jetzt macht die Guste alles allein, die gönnt mir auch mal eine kleine Abwechslung und hat zu mir gesagt. „Fräulein Anna, gehen Sie man ruhig mal rein zu dem Herrn Leutnant. Eine Abwechslung muß der Mensch haben, denn nur leben und sonst garnichts, denn lieber garnicht leben.”
„Da hat die Guste recht,” meinte er lachend und sie dann übermütig ansehend, fragte er: „Na, wie wäre es denn zur Besiegelung unserer Freundschaft mit einem Kuß?”
Sie lacht fröhlich auf: „Jetzt schon, Herr Leutnant, aber wir kennen uns doch erst —”
„Bitte,” unterbricht er sie schnell, „nicht erst, sondern schon siebenunddreißig Minuten und so lange bin ich noch nie mit einem hübschen jungen Mädchen zusammen gewesen, wie Sie, ohne es zu küssen. Ich warte sonst höchstens eine halbe Stunde, das ist mein Grundsatz.”
Mit schelmischen Augen sieht sie zu ihm auf: „Man soll seinen Grundsätzen stets treu bleiben und erst recht darf man keinenn anderen dazu verleiten, sich selbst untreu zu werden.”
Da nimmt er sie in seine Arme und küßt sie auf den Mund und sie küßt ihn wieder. Dann aber meint sie: „So, jetzt wollen wir aber wirklich auspacken.” Aber das einzige, was sie aus dem Koffer hervorholt, ist das Bild seiner Emmy. Fräulein Anna findet sie bildhübsch, vor allen Dingen aber totschick und sie seufzt vor sich hin: „Ja, wenn man sich so anziehen kann, das möchte ich auch, dieses Kleid, und dieser Hut, ach, ist das schön!”
Sie kann sich an dem Bild nicht satt sehen, da nimmt er es ihr leise aus der Hand und seine Stimme hat einen ehrlichen und warmen Klang, als er nun sagt: „Wünschen Sie sich so etwas nicht, Fräulein Anna, und seien Sie zufrieden, daß Sie so gekleidet gehen können, wie jetzt. Ich bin gewiß kein Moralprediger, aber der Wunsch nach hübschen Kleidern hat schon manche auf den falschen Weg gebracht und für jede kommt doch einmal die Stunde der Reue, dann aber ist es zu spät.”
Fräulein Anna hat aufmerksam zugehört, nun sagt sie mit leiser Stimme: „Ja, ja, ich weiß, aber es ist manchmal so furchtbar schwer, brav zu bleiben, das können Sie als Mann garnicht beurteilen.”
„Armes Mädel,” denkt er im stillen und noch bevor er ein Wort des Trostes für sie gefunden hat, klopft es an die Tür. Er ist froh, daß das Alleinsein mit Fräulein Anna jetzt vorüber ist, so ruft er denn Herein und gleich darauf tritt Guste in das Zimmer. Mit einem verständnisvollen Blick mustert sie die Beiden, dann sagt sie: „Ich bitte auch wegen der Störung vielmals um Entschuldigung, aber wenn mir meine Augen nicht trügen, dann steht das, was meine gnädige Madam ist, unten auf der Straße mit der Frau Kanzleirat und man kann ja nie wissen, wie lange so 'ne Unterhaltung dauert. Wenn sie sich das Krabbeln kriegen, kann es mal schnell damit zu Ende sein, und deshalb, Fräulein Anna, wollte ich man nur melden, wie das Barometer steht, damit die Frau Mutter nichts merken tut.”
Fräulein Anna eilt mit einem schnellen „Auf Wiedersehen” hinaus, Guste, die Köchin, bleibt aber noch einen Augenblick zurück und Fräulein Anna nachsehend, sagt sie: „Ist das nun nicht ein Jammer, Herr Leutnant? So 'n hübsches junges Mädchen und noch dazu mit das Feuer im Temperament. Und die muß nun immer die fromme Helene spielen und dasitzen und warten, bis ein Mann kommt und wenn keiner kommt, da hat sie ihr Leben lang umsonst gewartet. Na, ich danke dem Himmel jeden Tag dreimal, daß ich zwar auch ein Fräulein, aber kein gnädiges bin. Ich lasse meinen Gefühlen freien Lauf und wenn ich ein Kind kriege, dann heiratet er mich, das hat er mir in die Hand zugeschworen und das hält er auch, denn mein Emil ist nicht nur ein sehr hübscher, sondern auch ein sehr anständiger Mensch. Na, der Herr Leutnant werden ihn ja auch noch kennen lernen, er ist bei der Regimentsmusik und schlägt die große Trommel und da es ja man eine eine gibt, werden der Herr Leutnant ihn schnell herausfinden.”
„Gewiß, und ich will ihn mir bei der nächsten Gelegenheit auch mal ansehen,” meint der Herr Leutnant, dann aber, um dem Geschwätz ein Ende zu machen, setzt er hinzu: „Nun muß ich Sie aber bitten, mich allein zu lassen, ich will mich umkleiden und wenn nachher mein Bursche kommt, schicken Sie ihn bitte gleich herein.”
„Das kann sofort geschehen,” meint Guste, „der sitzt schon seit 'ner Ewigkeit bei mir in der Küche, ich habe ihn man nur absichtlich nicht früher hereingelassen und er hat mir inzwischen geholfen, das Geschirr abzuwaschen. Einen besseren Burschen hätten der Herr Leutnant garnicht bekommen können, denn das ist auch ein sehr netter Mensch und wenn mein Emil nicht schon sozusagen gewissermaßen in mein Leben hineingetrommelt wäre, wer weiß?”
Und mit einem koketten Augenaufschlag geht sie von dannen.
Gleich darauf tritt der auch sehr nette Mensch in das Zimmer: „Musketier Petersen meldet sich als Bursche zu dem Herrn Leutnant kommandiert,” und er scheint wirklich ein netter Mensch zu sein. Aus seinen blauen Augen spricht eine große Treuherzigkeit, seine Stimme hat einen angenehmen weichen Klang und ein bildhübscher und blitzsauberer Kerl ist er auch noch.
Ohne erst zu fragen, macht er sich gleich an die Arbeit des Einräumens. Schon nach zehn Minuten ist alles an seinem Platz und dann zieht er seinen Leutnant aus und an. Ohne daß der sich hingesetzt hat, sitzt er plötzlich auf einem Stuhl und der Bursche zieht ihm die Uniform aus, zieht ihm das Hemd über den Kopf und ohne zu wissen, wie er dahin gekommen ist, steht er plötzlich vor der großen Waschschüssel. Und während er sich selbst Gesicht und Brust wäscht, empfindet er plötzlich auf seinem Rücken ein sehr angenehmes und erfrischendes Gefühl. Ohne daß es ihm gesagt wurde, hat Petersen einen großen Schwamm ergriffen und drückt den nun seinem Leutnant an das Genick, sodaß das kalte Wasser den Rücken herunterläuft.
Und als Petersen glaubt, daß es nun mit dem Waschen genug ist, legt er den Schwamm fort, nimmt seinem Herrn den Waschlappen aus der Hand, ergreift das Handtuch, frottiert Brust und Rücken und nach einer Viertelstunde steht der Herr Leutnant fix und fertig angezogen da.
„Ich glaube, wenn ich es nicht von selber täte, würde Petersen mir auch stillschweigend die Zähne putzen,” denkt der Herr Leutnant, dann macht er sich auf den Weg zum Kasino.
Das Liebesmahl beginnt mit militärischer Pünktlichkeit und nimmt den programmmäßigen Verlauf. Zuerst werden die Herren der Reserve angetrunken, dann werden sie mehr oder weniger betrunken, meistens aber mehr betrunken, dafür sorgen schon die aktiven Kameraden. Aber in der Hauptsache redet man sich betrunken. Die Regimentsmusik macht einen großen Lärm, da muß man laut sprechen, um sich zu verständigen und damit die Musik auch trotzdem deutlich gehört wird, fängt sie nun an, noch lauter zu spielen und die Stimmen werden nun erst recht laut. Es ist bald ein schrecklicher Skandal, aber das tut der Stimmung keinen Abbruch, im Gegenteil, je lauter, desto besser und um den Hernn Eisenbahnminister, wie der Kamerad der Reserve, der in seinem Zivilberuf Betriebsdirektor ist, im Laufe des Abends fortwährend genannt wird, aufzuheitern und um ihn zu veranlassen, fröhlich mit den Fröhlichen zu sein, singen jetzt plötzlich alle nach der Melodie des Viljaliedes aus der Lustigen Witwe:
„Mäxchen, o Mäxchen, mach froh Dein Gesicht, |
Es hat einem Kameraden Mühe und Arbeit genug gemacht, diese Verse zu dichten, dafür sind sie nun aber auch nach ihrer Meinung sehr schön geworden. Namentlich der Schluß findet allgemeinen Anklang, nur kommt dieses „O-O” nach dem Urteil der musikalischen Sachverständigen bei dem Gesang nicht rund und nicht abgerundet genug heraus. Es muß immer noch runder, noch voller, kurz noch o-o er klingen. Das ist aber nur durch stete Übung zu erreichen, es muß immer von neuem probiert werden und so spielt denn die Musik auf allgemeines Verlangen das Viljalied bis zur Erschlaffung. Sind sie mit dem letzten Ton fertig, dann fangen sie ohne Pause gleich wieder mit dem ersten an und halblaut sagt ein Musiker zu dem anderen: „Wenn ich nachher meine Trompete in das Futeral stecke, dann lasse ich die hier über Nacht liegen, denn sonst bläst die zu Hause ganz von alleine das Viljalied und dann ist es mit dem Schlafen essigsaure Tonerde mit Backpflaumen. Aber eins möchte ich doch wissen, ob wir das Ende von diesem Lied noch mal erleben und erblasen werden.”
Vorläufig hat es damit aber noch gute Weile, denn im Saal ruft ein Kamerad mit schallender Stimme: „Meine Herren, das ist nichts, das ist absolut nichts, das „O-O” muß weich und mollig, dabei aber doch in sich abgerundet erklingen. Wir müssen mit dem Gesang den Finessen der Dichtkunst entgegenkommen, ja, noch mehr, wir müssen sie zur vollsten Geltung bringen. Also bitte noch mal von vorne, meine Herrschaften, und bitte das „O-O” recht o-oich.”
Die älteren Herren haben sich schon verabschiedet, nur die Jugend amüsiert sich noch und um dem Gesang endlich mit Gewalt ein Ende zu machen, schickt der Regimentsadjutant jetzt auch die Musik nach Haus. Leider aber denkt er nicht daran, auch gleichzeitig das Klavier abzuschließen und den Schlüssel verstecken zu lassen, denn auf dem geht es gleich wieder von neuem los:
„Mäxchen, o Mäxchen, mach froh Dein Gesicht, |
Bis dann endlich doch Schluß gemacht wird, weil Mäxchen sich drückte und fortging.
Und schließlich gehen auch die letzten fort, nach einer weiteren Stunde sogar die Allerletzten, denn morgen ist auch wieder ein Tag und von dem ist sogar schon ein guter Teil verstrichen, denn die Uhr ist bereits kurz nach halb. Für die Herren der Reserve ist es sogar ein wichtiger Tag, denn sie tun zum ersten Mal Dienst vor der Front.