Der ältere Kamerad.

Skizze aus dem Offiziersleben.
Von Freiherrn v. Schlicht (Dresden).
in: „Frankfurter Zeitung und Handelsblatt” vom 4.Mai 1902,
in: „Neue Hamburger Zeitung” vom 14.5.1902,
in: „Der Deutsche Correspondent” vom 1.6.1902 und
in: „Der höfliche Meldereiter”


Das ganze Militär ist weiter nichts als eine große Kleinkinderbewahranstalt. Das Wort ist fast ebenso alt wie die Armee selbst und vor allen Dingen: es ist wahr, leider nur zu wahr.

Die Erziehung des gemeinen Soldaten dauert nur zwei oder drei Jahre, je nach der Waffe, bei der er seine Zeit abreißt, die Erziehung des Offiziers aber dauert, fast hätte ich gesagt, ewiglich: sie hört erst auf, wenn der Offizier als Ganz–Invalide mit seiner Pension ausscheidet; tritt er zu den Offizieren der Reserve oder des Landsturms über, so muß er sich auch da noch „erziehen” lassen, nicht nur von den Vorgesetzten, sondern vor allen Dingen, und das ist das viel, viel Unangenehmere, „von den älteren Kameraden”.

Ach Ihr kleinen Mädchen, die Ihr für die Leutnants schwärmt, deren Herz bei dem Anblick eines Offiziers höher schlägt, wie Ihr bewundernd Eurem Helden nachseht, wenn er im Schmuck der Waffen durch die Straßen der Stadt gehr oder en grande toilette im Ballsaal herumflirtet — ach Ihr lieben kleinen Mädchen, Ihr ahnt es ja nicht, wie klein, wie winzig klein Euer Leutnant wird, wenn der ältere Kamerad „dienstlich” mit ihm spricht.

Die älteren Kameraden erfreuen sich, sobald sie dienstlich werden, noch größerer Unbeliebtheit als die Vorgesetzten. Und das will doch wahrhaftig viel sagen.

Der kleine Scholten liegt trotz der späten Stunde noch im Bett. Er feiert einen dienstfreien Vormittag, seine Kompagnie ist auf Wache und seine ganze Thätigkeit für den Tag und für seine zwei Mark fünfzig Gehalt besteht darin, daß er am Nachmittag einen Gewehr–Appell abhalten und die Leute dann noch eine Stunde turnen lassen soll. Bis dahin ist aber noch viel, viel Zeit und darüber freut sich der kleine Scholten, der trotz seiner sechsundzwanzig Jahre noch denselben Beinamen führt wie der Avantageur, nicht schlecht, denn es geht ihm garnicht gut. Die Gewißheit, heute ausschlafen zu können, hat ihn gestern Abend verleitet, in Civil einen Bummel zu machen, der lang und genußreich war — er hat sich herrlich amüsirt, so herrlich, wie sich eben nur ein Leutnant in Civil amüsiren kann.

Trotz seiner Kopfschmerzen lächelt der kleine Scholten in der glücklichen Erinnerung an die gestrigen schönen Stunden und die Kopfschmerzen vermögen seine Freude nicht im Geringsten zu trüben, im Gegentheil, er freut sich ihrer sogar, denn sie sind ihm ein Beweis, daß er sich wirklich amüsirt hat.

Wenn ein Leutnant nicht nach einem Liebesmahl den wahnsinnigsten Oelkopf hat, war es „scheußlich langweilig”, man muß es fühlen, daß man sich amüsirt hat.

Der kleine Scholten streckt und dehnt sich: da sieht er an seinem linken Handgelenk das silberne Armband, das erst seit gestern Abend dort sitzt. Die Betty, die hübsche Kellnerin, hat es ihm geschenkt, nachdem er ihr versprochen hat, ihr dafür einen sehr hübschen Ring wiederzuschenken — aber geschenkt hat sie es ihm doch und nun hat auch er, ebenso wie die meisten anderen Kameraden, sein Armband und er freut sich sehr auf den Augenblick, wo im Kasino die Kameraden den silbernen Reifen entdecken und in ihn dringen werden, die Spenderin zu nennen. Natürlich wird er Bettys Namen verschweigen und neidisch werden die Anderen seinen Arm, der ein Zeichen der Liebe trägt, bewundern.

Ach ja, es war gestern Abend sehr, sehr schön. Er nimmt von seinem Nachttisch das Portemonnaie und zählt die Häupter seiner Lieben, die ihm noch geblieben: er versteht die Kunst zu rechnen, er lebt nie über seine Verhältnisse und so hat ihm auch der gestrige Abend nicht mehr gekostet, als er verantworten kann — die drei blanken Goldstücke, die noch in der Börse schimmern, lassen keine Sorge für die Zukunft und keine Gewissens­bisse aufkommen — er hat sich herrlich amüsirt und hat nichts zu bereuen. Und das kann nicht Jeder nach einer lustigen Nacht von sich sagen.

Der kleine Scholten ist sehr mit sich zufrieden.

Da ertönen in dem nebenan gelegenen Wohnzimmer Schritte und das Rasseln eines Säbels, und gleich darauf wird an die Schlafstubenthür gepocht.

„Nur herein, wenn's kein Vorgesetzter ist,” ruft Scholten lustig und gleich darauf tritt Leutnant v. Emdorf in das Zimmer.

Der kleine Scholten weiß nicht, wie es kommt, aber mit einem Male ist ihm, als liefen ihm sämmtliche Ratten und Mäuse der Welt über den Leib. Er kann den Emdorf nicht ausstehen, er steht mit ihm auf derselben Kompagnie zusammen, aber das Verhältniß ist keineswegs freundschaftlich. Emdorf ist ebenso wie Scholten nur Leutnant, aber da an Oberleutnants im Regiment in Folge vieler Abkommandirungen Mangel herrscht und da Emdorf einen Monat älter ist als Offizier wie der kleine Scholten, so ist er gewissermaßen doch „Ober”.

Und darauf bildet er sich nicht wenig ein, wie er überhaupt von sich selbst und dem Werth seiner Persönlichkeit gewaltig überzeugt ist — dienstlich und außerdienstlich ist er nach seiner Ansicht unfehlbar. Bei den Vorgesetzten, vor denen er fortwährend Kotau macht, ist er sehr gut angeschrieben, die Kameraden wollen nicht viel von ihm wissen.

„Noch in Bett?” fragt Emdorf mit leise tadelnder Stimme.

„Wie Sie sehen,” gibt Scholten zur Antwort, „und ich denke auch vorläufig nicht daran, aufzustehen. Was verschafft mir die Auszeichnung Ihres Besuches?”

Emdorf hört die Ironie, die aus dieser Frage spricht und ärgert sich, trotzdem klingt seine Stimme sehr ruhig, als er nun sagt: „Ich möchte mit Ihnen sprechen.”

Mit einem energischen Fußtritt schleudert der kleine Scholten seine Kleider, die auf einem Stuhl vor dem Bett liegen, zur Erde und macht dann eine einladende Handbewegung. Aber Emdorf schüttelt den Kopf:

„Ich danke, nicht so — ich komme nicht, um mit Ihnen zu plaudern, sondern um als älterer Kamerad mit Ihnen zu sprechen.”

Dem kleinen Scholten läuft es eiskalt über den Rücken, aber was hilft's? Er nimmt im Bett eine gewisse militärische Lage und Haltung an und wartet dann der Dinge, die da kommen sollen.

„Nicht so,” sagt Emdorf schließlich, „wollen Sie nicht bitte aufstehen und sich anziehen — ich werde in Ihrem Wohnzimmer auf Sie warten, länger als eine Viertelstunde brauchen Sie wohl nicht zu Ihrer Toilette!”

Er sieht nach der Uhr und geht dann in das Wohnzimmer und der kleine Scholten sieht ihm mit einem Blick nach, der nicht allzuviel Liebe verräth. „Es ist wahrhaftig ein Skandal,” schilt er in seinem Innern, „man kann nicht einmal so lange im Bett bleiben, wie man will. Muß ich wahrhaftig wegen dieses Menschen aufstehen und auf den langen Schlaf, den ich noch zu thun gedachte, verzichten. ich bin nur neugierig, was er auf dem Herzen hat.”

Fluchend und scheltend streckt er erst das eine Bein aus dem Bett heraus, dann das andere und wenig später steht er dem älteren Kameraden gegenüber.

„Nun, Herr v. Emdorf,” will er fragen, „was haben Sie denn auf dem Herzen?” Aber im letzten Augenblick schluckt er die Frage hinunter, denn er sieht, wie der ältere Kamerad seinen Anzug mustert.

„Sie haben noich einen Knopf des Waffenrockes offen!” sagt Emdorf kühl und gelassen.

Dem kleinen Scholten steigt das Blut zu Kopf, aber an das Gehorchen gewöhnt, beseitigt er den Stein des Anstoßes.

„Auch die Halsbinde sitzt sehr unordentlich,” fährt der ältere Kamerad nach einer kleinen Pause fort, „sie soll bei uns Offizieren ebenso wie bei den Mannschaften strohhalmbreit über dem Kragen hervorstehen, bei Ihnen ist dies aber nicht der Fall — Sie sind es wohl überhaupt nicht mehr gewöhnt, Uniform zu tragen?”

Das also ist's,” denkt der kleine Scholten, „endlich bekennt er Farbe. Er hat mich gestern Abend gesehen oder davon gehört, daß ich aus war, nun ist er hier, um mir seine Ansicht über diesen Punkt mitzutheilen, hören wir also, was er zu sagen hat.”

„Sie wissen doch, daß es verboten ist, in Civil auszugehen?” fragt Leutnant v. Emdorf.

„Das schon,” gibt der kleine Scholten zur Antwort, „aber einige Gesetze sind doch nur dazu da, um überschritten zu werden, dazu gehört auch das Civiltragen, und wenn die anderen Herren des Regiments in Civil ausgehen, sehe ich nicht ein, warum ich das nicht auch thun soll.”

Das ist eine sehr unvorschriftsmäßige Entgegnung und so läßt Herr v. Emdorf diese Gelegenheit denn auch nicht vorübergehen, ohne dem kleinen Scholten einen tadelnden Blick zuzuwerfen.

„Bitte, vergessen Sie nicht,” sagt er, „daß ich dienstlich mit Ihnen spreche — Ihre Ansichten kenne ich zur Genüge, die interessiren mich gar nicht; wenn ich etwas von Ihnen wissen will, werde ich Sie schon fragen, außerdem sind Ihre Ansichten absolut nicht maßgebend.”

„Deine etwa?” denkt der kleine Scholten, „ist das, was Du sagst, das Evangelium, an das ich glauben und nach dem ich leben und sterben muß? Du bist als Offizier einen Monat älter als ich, ausgerechnet einen Monat, das sind dreißig Tage. Hat diese kurze Spanne Zeit genügt, um Dich so klug, geistig so bedeutend zu machen, daß Du von dem Ueberfluß Deiner Erfahrungen an Andere abgeben kannst? Zwar bist Du im Korps groß geworden und hast Dir da die Normalbildung und die Normalkenntnisse des preußischen Leutnants angeeignet, aber trotzdem glaube ich nicht, daß Du unfehlbar bist.”

„Sie sind eben nicht im Korps groß geworden,” unterbricht Herr v. Emdorf den Gedankengang des kleinen Scholten. „Das merkt man Ihnen immer an, dienstlich und außerdienstlich. Das Wort: „Der beste Umgang für den Offizier ist und bleibt der Offizier”, ist Ihnen noch nicht in Fleisch und Blut übergegangen, aber es wird die höchste Zeit, daß dies geschieht. Bei den anderen Herren hat es nichts zu sagen, wenn sie einmal in Civil ausgehen, ein König bleibt ein König, selbst in Unterhosen, und für den Leutnant, der nicht nur Leutnant heißt, sondern es seinem ganzen Denken und Empfinden nach auch ist, bleibt es ganz gleichgiltig, ob er in Uniform oder in Civil geht. Für Sie aber, der Sie nicht in den richtigen Grundsätzen erzogen sind und der Sie sich trotz Ihrer sechsundzwanzig Jahre Ihrer Sonderstellung als „Leutnant” immer noch nicht bewußt sind, sodaß Sie durch Ihre freien Auffassungen oft Aerger und Anstoß in dem Kreis der Kameraden erregen, für Sie ist es Gift, wenn Sie sich in Civilkleidern in jenen Kreisen bewegen, die der Offizier in Uniform nicht aufsucht. Ich habe Sie gestern auf der Straße gesehen, auch äußerlich fielen Sie mir unangenehm auf, Ihr Anzug und Ihre ganze Haltung waren salopp und nachlässig und ich nahm mir schon gestern fest vor, als älterer Kamerad wohlwollend, aber doch ernst mit Ihnen zu sprechen, und ich hoffe, Sie werden es mir Dank wissen.”

„Da müßte ich ja mehr als wahnsinnig sein,” denkt der kleine Scholten, „ist es nicht genug, daß ich Deine Rede anhöre ohne zu verrathen, wie mir das Blut in den Adern kocht? Fühlst Du es mir denn nicht nach, wie demüthigend und empörend es für mich ist, mir so etwas von Dir ruhig sagen lassen zu müssen? Du weißt ganz genau, daß ich Alles ruhig einstecken muß, beschweren kann ich mich nicht über Dich und wenn ich Dir so grob würde, wie Du es verdienst, dann würdest Du mich bei dem Oberst anzeigen und der würde mich bestrafen, denn der Jüngere hat gefälligst den Mund zu halten, wenn der ältere Kamerad ihm gute Lehren gibt.”

„Was tragen Sie denn da für ein silbernes Armband?” frägt Herr v. Emdorf nach einer kleinen Pause. „Das haben Sie sich wohl gestern schenken lassen, ich habe es wenigstens früher nicht an Ihnen bemerkt — Sie wissen, daß Sie so etwas im Dienst nicht tragen dürfen, ich wünsche das Armband nicht mehr bei Ihnen zu sehen, sonst müßte ich die Sache zur Sprache bringen und ich glaube, der Herr Oberst würde mir Recht geben. Daß andere Herren auch Armbänder tragen, ändert an meiner Auffassung über diesen Punkt nichts.”

Der kleine Scholten knirscht mit den Zähnen laut und vernehmlich, aber Herr v. Emdorf thut, als ob er nichts hörte; im Stillen freut er sich, daß er seinen Zweck erreichte, er hat den Jüngeren einmal die Macht des älteren Kameraden fühlen lassen.

Herr v. Emdorf reicht dem kleinen Scholten zum Abschied die Hand, und widerstrebend, Ekel und Abscheu dabei empfindend, legt dieser seine Rechte hinein.

Einen Augenblick später ist der kleine Scholten allein. Todtenbleich vor Erregung bleibt er zurück. Nur Eines tröstet und beruhigt ihn schließlich: Daß der „ältere Kamerad”, der da soeben stolz und siegesbewußt fortging, auch „einen älteren Kameraden” hat, der ihm bei Gelegenheit einmal den Standpunkt klar macht.

Das ist zwar ein schwacher Trost, aber es ist doch immerhin einer.


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© Karlheinz Everts