Humoreske von Freiherr v. Schlicht.
in: „Aachener Anzeiger” vom 18.6.1921,
in: „Weimarisches Sonntagsblatt”, Unterhaltungs-Beilage zur „Allgem.Thür.Landeszeitung Deutschland” vom 19.Juni 1921,
in: „Lippische Tageszeitung” vom 1.7.1921,
in: „Deutsche Zeitung Bohemia” vom 10.7.1921,
in: „Neußer Zeitung” vom 14.1.1922,
in: „Aber so was!”
Das Wohnungsamt hatte entschieden, daß ich nicht, wie ich selbst bisher immer glaubte, in meiner ganz kleinen Villa zwei Zimmer zu wenig, sondern, daß ich drei zuviel habe. Badezimmer? Luxus! Was braucht der Mensch sich zu baden, wenn er nur rein ist. Eßzimmer? Irrsinn! Noch dazu in der jetzigen Zeit, wo man bei den Preisen froh sein kann, wenn man überhaupt etwas zu essen hat. Arbeitszimmer? Verrückt! Was braucht der Mensch zu arbeiten, die Hauptsache bleibt, daß er seine Steuern pünktlich bezahlt. Ein Schriftsteller kann auch in seinem Wohnzimmer arbeiten, und wenn er keines hat, arbeitet er, wie der verstorbene amerikanische Humorist Mark Twain, in seinem Bett.
Auf meine bescheidene Anfrage, wo ich aber arbeiten solle, wenn man mir eines Tages vielleicht auch noch mein Schlafzimmer beschlagnahme, erhielt ich die tröstende Antwort: vorläufig sei es noch nicht soweit.
Wenn ich schon das Wort „vorläufig” höre!
Anstatt wie bisher täglich, wenn auch nur in Gedanken, ein oder zwei Zimmer an mein Haus anzubauen, wurden mir drei, aber leider nicht in Gedanken, fortgenommen. Und der Sturm der Wohnungssuchenden auf die beschlagnahmten Räume begann. Es stürmten so viele, daß es mir sehr bald ganz einerlei war, ob am Tage zehn oder hundert stürmten. Ich hatte mir einen Arbeitslosen engagiert, der jeden Abend den Schmutz aus dem Hause schaufelte, den die Stürmer an ihren Stiefeln, die sie aus Prinzip nicht rein machten, mit hereinschleppten, und meinem Mädchen mußte ich sowieso jeden Tag zehn Mark Zulage geben, nur damit sie in dem verrücktgewordenen Affenstall, wie sie mein früher so stilles Haus jetzt mit Recht nannte, noch weiter bei mir bliebe, denn zum Arbeiten und zum Kochen kam sie überhaupt nicht mehr. Sie mußte fortwährend die beschlagnahmten Zimmer zeigen, denn als wir einmal den Leuten erklärt hatten, seht euch die allein an, größer und heller und sonniger werden sie dadurch, daß wir dabeistehen, auch nicht, da fehlten mir am Abend zwei Strohhüte, eine Teppichkehrmaschine, aus dem stillen Ort, den die Leute sich natürlich auch angesehen hatten, acht Rollen Seidenpapier, und von der nach oben führenden Treppe waren zwar nicht die Stufen, wohl aber war eine als Halt dienende dicke rote Schnur, die mit messingenen Trägern in die Wand eingegipst war, verschwunden.
Jeder Sturm nimmt ein Ende, der Sturm der Wohnungssuchenden aber nahm keins, und unter den vielen, die da stürmten, war besonders eine, eine wirklich reizende alte Dame, die ich sehr gern bei mir aufgenommen hätte, aber wir konnten uns nicht darüber einig werden, ob ihr großer Bechsteinflügel die ziemlich schmale und etwas unglücklich gebaute Treppe hinaufginge. Die Dame, die mir ihren Namen längst genannt, den ich aber bei meinem nicht vorhandenen Namensgedächtnis auf der Stelle wieder vergessen hatte, wußte es nicht, und ich wußte es natürlich erst recht nicht. Ausgemessen aber konnte der Flügel nicht werden, denn der stand nicht hier im Städtchen, sondern irgendwo in Deutschland auf irgendeinem Bahngeleise in irgendeinem Güterwagen und wartete mit den andern Möbeln darauf, in diesem Jahrhundert noch einmal an seinem Bestimmungsort anzukommen.
Aber die Möbel kamen nicht, und der Flügel kam auch nicht, und infolgedessen kam die alte liebenswürdige Flügeldame schließlich auch nicht mehr. Statt ihrer aber kam eines Nachmittags eine noch ältere Dame, die mich dringend persönlich zu sprechen wünschte. Wenn ich schon „persönlich” höre! Trotzdem ließ ich die alte, nein die noch ältere Dame bitten, und kaum saß sie mir gegenüber, da begann sie: „Ich habe eine sehr liebe Freundin, eine Frau Paulig, die seit Monaten händeringend eine kleine Wohnung sucht. Nicht wahr, Sie haben den Namen richtig verstanden, Paulig. Und da doch hier bei Ihnen drei Stuben frei geworden sind, möchte ich Sie bitten, sich die Dame, die sicher in den nächsten Tagen zu Ihnen kommen wird, vorzumerken. Nicht wahr, Sie haben den Namen doch richtig verstanden? Paulig, und nicht wahr, Sie merken sich die bitte vor? Es ist eine alte liebe Freundin von mir. Aber ich glaube, ich habe Ihnen deren Namen noch gar nicht genannt. Sie heißt Paulig und, nicht wahr, Sie sind so freundlich und merken sich die vor?”
So ging das noch eine halbe Stunde weiter, aber bei dem Abschied ging es erst recht so weiter, da wurde mir Frau Paulig noch dreißigmal warm an das Herz gelegt, und ebenso oft wurde ich gebeten, sie mir vorzumerken, bis ich dann endlich allein war, um gleich darauf einen Kognakanfall zu bekommen, der darin bestand, daß ich erst mal sechs Kognaks trinken mußte, um die Blutleere in meinem Gehirn zu beseitigen und um wenigstens erst mal wieder zur Vernunft und zur Besinnung zu kommen.
Und dann erfuhr ich von meinem Mädchen, die dem Abschied der noch älteren Dame teilweise beigewohnt hatte, daß die Dame, die ich mir vormerken solle, schon oft selbst bei uns gewesen sei, denn Frau Paulig war niemand anderes als die Flügeldame, wie wir sie bei mir im Hause nannten.
Da wurde mir so dammlig, daß ich noch drei Kognaks trinken mußte. Das Stück zu vier Mark! Und dabei soll man für die Steuer reich werden.
Doch ich wurde das vorläufig nicht, dafür sorgte schon die noch ältere Dame, die mich am nächsten Nachmittag wieder dringend persönlich zu sprechen wünschte, und die ich auch wieder annahm, da ich es weder in der Kinderstube noch in der Tanz- und Anstandsstunde gelernt habe, gegen alte Damen unhöflich zu sein.
Ein paar Minuten später saß sie mir gegenüber, und kaum saß sie, da begann sie: „Ich habe eine alte liebe Freundin, die seit einigen Monaten händeringend eine Wohnung sucht. Sie heißt Frau Paulig, nicht wahr, Sie haben den Namen richtig verstanden, Paulig. Und nicht wahr, Sie sind so liebenswürdig und merken sich die Dame vor, denn bei Ihnen ist doch eine kleine Wohnung frei geworden, und meine liebe Freundin, die seit einigen Monaten händeringend eine kleine Wohnung sucht, wird sicher in den nächsten Tagen einmal persönlich zu Ihnen kommen.”
„Aber die Dame ist schon dagewesen, und zwar nicht nur einmal, sondern mindestens zweiundvierzigmal,” erwiderte ich, als ich endlich zu Worte kam.
„So, die war schon einmal da?” fragte die noch ältere Dame ganz verwundert, „das wußte ich nicht, allerdings habe ich sie in den letzten Tagen nicht gesehen. Aber trotzdem, nicht wahr, Sie sind für den Fall, daß sie einmal wiederkommen sollte, so liebenswürdig, sich ihren Namen vorzumerken? Sie heißt Frau Paulig, und sie ist eine so liebe Freundin, der ich gern beheilflich sein möchte, denn sie sucht schon seit ein paar Monaten händeringend eine kleine Wohnung und, nicht wahr, Sie sind so freundlich und merken den Namen, Frau Paulig, vor.”
Diesmal dauerte es noch länger als am Tage vorher, bis die noch ältere Dame sich verabschiedete, und es dauerte noch viel, viel länger als am Tage vorher, bis sie auch wirklich gegangen war.
Aber sie war nur gegangen, um am nächsten Tage erneut wiederzukommen und um mir, der ich es erneut nicht über das Herz brachte, sie abweisen zu lassen, wiederum ihr Herz auszuschütten. Aber diesmal kam ich ihr zuvor und sagte meinerseits: „Ich weiß, was Sie zu mir führt, gnädige Frau. Sie haben eine liebe Freundin, die seit einigen Monaten händeringend eine kleine Wohnung sucht, sie heißt Frau Paulig, nicht wahr, Sie haben den Namen doch richtig verstanden, Paulig. Und Sie wollen mich bitten, diese, Ihre Freundin, für die Wohnung vorzumerken, damit ich unterrichtet bin, wenn die Dame eines Tages zum neunundvierzigsten Male kommen sollte, um sich die Räume anzusehen. Nicht wahr, so ist es doch, gnädige Frau, und Ihre Freundin, deren Namen ich mir vormerken soll, heißt Paulig, den soll ich mir vormerken, und ich habe mir den bereits heute so gemerkt, daß ich ihn auch in den nächsten fünfund zwanzig Jahren trotz meines miserablen Gedächtnisses nicht wieder vergessen werde.”
Damit machte ich hinter meinen Worten den Schlußpunkt und dachte: jetzt, sehr verehrte liebe, noch ältere Dame, bin ich begierig, was du jetzt sagst.
Aber die noch ältere Dame sagte vorläufig gar nichts. Mit großen entsetzten Augen starrte sie mich an, und ihre Hände und alles, was sonst bei ihr locker saß, fingen an zu zittern, bis sie sich endlich schreckensbleich von ihrem Stuhl erhob, und, ihre Hände zur Abwehr gegen mich ausstreckend, rückwärts zur Tür schritt, die ich ihr als wohlerzogener junger Mann im Alter von mehr als fünfzig Jahren auch im voraus höflich öffnete.
Doch während sie sich rückwärts für immer zur Tür hinausbewegte, rief die in Wirklichkeit wohl noch viel ältere Dame, die totensicher an Geistesschwund litt, mir mit entgeisterter Stimme zu: „Das ist mehr als unheimlich, da werde ich monatelang die Nächte wach liegen und mir das Unbegreifliche zu erklären versuchen. Wir sehen uns doch heute in unserem Leben zum erstenmal — wie konnten Sie da gleich wissen und erraten, was mich zu Ihnen führte?”
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© Karlheinz Everts