Der Manöveradler.

Humoreske von Graf Günther Rosenhagen
in: „Hannoverscher Courier” vom 13.Aug. 1894 und
in: „Militaria”.


In keiner gedruckten Tiergeschichte findet mnan den Manöveradler beschrieben, selbst Brehm übergeht ihn stillschweigend, aber dennoch lebt er, und eine genaue Charakterisirung würde etwa folgendermaßen lauten:

„Der Manöveradler (aquila manoevrensis), vulgo Huhn genannt, tritt besonders zur Zeit der Herbstübungen in großen Schaaren auf und wird von den Soldaten, hauptsächlich den Offizieren, gefürchtet. Mäßig genossen, erweckt er Behagen, zu häufig genossen, Abscheu und Ekel.”

Es war im letzten Kaisermanöver in der Provinz Schleswig-Holstein(1). Bis nach Flensburg hinauf waren die Truppen gezogen, und dort in der Nähe des Meeres und bei den Düppeler Schanzen sollten sich für uns die herrlichen Tage abspielen, die allen Betheiligten wohl für immer in der Erinnerung bleiben. Ist doch das Manöver an und für sich ein Vergnügen, eine Erholung und eine Abwechslung in dem sich sonst stets gleichbleibenden und gleichmäßig fortschreitenden Garnisondienst. Während der Herbstübung ist das Schulexerciren Nebensache, da gilt es zu zeigen, was man im Gefecht, im Verhalten gegen den Feind gelernt hat. Und nun erst ein Kaisermanöver: wenn das scharfe Auge des obersten Kriegsherrn Alles mustert und prüft, wenn Se. Majestät selber nach Beendigung des Gefechts die Kritik abhalten, hier tadelnd, dort lobend! Welche größere Freude und welche größere Anspornung kann es für die Soldaten geben, als wenn ihr Kaiser mitten unter ihnen weilt und mit einem gelegentlichen „Gut, gut” ihre Anstrengungen belohnt? Und groß sind die Strapazen, die man dann ertragen muß und gern erträgt; denn je größere Truppen­ansammlungen stattfinden, desto schlechter sind die Quartiere, desto schlechter ist die Verpflegung, und desto zahlreicher treten die Manöveradler auf.

Es war am Tage nach dem Gefecht von Bau(2). Wir hatten mit unserer Infanterie und Artillerie den Höhenrand besetzt, und vor uns in majestätischer Schönheit lag das Meer. Unsere stolze Flotte dampfte heran, ein herrlicher Anblick, der uns Alle mit Begeisterung erfüllte. Immer näher schwammen die ungeheuren Kolosse, da rasselten plötzlich die Anker in die Tiefe, die Boote(3) wurden klar gemacht und bemannt und mit wuchtigen Ruderschlägen dem Ufer entgegengetrieben. Ein lebhaftes Feuer empfing sie, wir thaten unser Möglichstes, die Landung zu vereiteln, aber immer neue Boote, immer neue Mannschaften wurden ausgeschifft. Jetzt hatten sie sich, gedeckt durch einen Thaleinschnitt, gesammelt und rückten zum Angriff vor. Die Offiziere mit gezogenem Säbel voran, hinter ihnen die gewandten und im Klettern geübten Matrosen, so ging es im „Marsch, Marsch!” die Anhöhe hinauf. Nun aber machten sie Halt, ein Feuer, dem sie in Wirklichkeit wohl kaum Stand gehalten haben würden, und das sie erwidern mußten, empfing sie. Von beiden Seiten wurde auf das Lebhafteste geschossen, wir mit dem rauchlosen Pulver, die Marine, noch mit dem alten Gewehr bewaffnet, in dichten Pulverdampf gehüllt — es war ein Bild, so voll Leben und Natürlichkeit, daß wir bedauerten, daß es nur ein Spiel, kein Ernst sei(4). Wir lagen in der Schützenlinie und befeuerten einen Zug Seecadetten, der unter der Führung eines Offiziers den steilen Abhang emporstieg, und nahmen gemüthlich jeden einzelnen aufs Korn; da störte mich in der Abgabe eines Commandos die Stimme meines Hauptmanns:

„Günther, Mensch, wie wäre das Leben schön, wenn —”

„Wenn es keinen Dienst gäbe,” antwortete ich mit der stereotypen Redensart.

„Unsinn, reden Sie keinen Kohl,” entgegnete er, „das heißt,” fügte er, sich besinnend, hinzu, „für gewöhnlich mögen Sie mit Ihrem Worte Recht haben, aber für heute habe ich doch einen anderen Wunsch!”

„Und der wäre, Herr Hauptmann?” erlaubte ich mir bescheiden zu fragen.

„Ich möchte, — ja, ich möchte es wirklich und würde meinem Schöpfer dafür ewig dankbar sein, ja, noch mehr, ich will versprechen, mich zu bessern und ein anderer Mensch zu werden, ich will meinen faulen Kerls ihre vielfachen Sünden und Vergehen verzeihen, ich will ihnen am Sonntag Urlaub geben, so lange sie wollen, meinetwegen noch länger, soll mir gar nicht darauf ankommen, ja,. ich will Sie sogar hiermit feierlichst auf eine Flasche Sect einladen —”

„Danke gehorsamst, Herr Hauptmann.”

„Stören Sie mich nicht in meinen Träumereien und Phantasien. Alles, Alles will ich gern thun, wenn nur der heutige, für einen rechten Soldaten so selten schöne Tag mir nicht verdorben würde!”

„Aber, Herr Hauptmann,” fragte ich, „wie kann man sich nur mit solchen Gedanken plagen und seine gute Laune am frühen Morgen sich dadurch verderben, daß man darüber nachdenkt, ob der schon begonnene Tag auch schön enden wird? Und schließlich, was kann dem Herrn Hauptmann denn heute überhaupt noch Böses begegnen?”

„Der Manöveradler.”

Ich lachte hell auf. — „Aber Herr Hauptmann?” —

„Lachen Sie nicht, das verbitte ich mir, dazu sind Sie noch viel zu jung. Ja, der Manöveradler,” fuhr er sich in Zorn redend fort, „ich sehe ihn schon vor mir liegen, schön in seie einzelnen Bestandtheile zerlegt, die Schüssel mit einem Reisrande verziert. Wenn ich den langen schmalen Hals mit dem dummen ausdruckslosen Kopf erblicke, überkommt mich immer eine unsagbare Wuth, ich möchte das Thier immer tödten und erwürgen und kann doch nicht, weil es schon todt ist, und statt dessen muß ich es essen, immer essen, immer von Neuem, mit ewig heiterer Miene und lachendem Gesicht, bis ich selbst todt bin.”

„Aber, Herr Hauptmann!”

„Na, lassen wir es gut sein; es wäre ja möglich und denkbar, daß wir heute Mittag keinen Manöveradler zu essen brauchten. Günther, sagen Sie mir, könnten Sie sich dieses Glück ausmalen, wie würden Sie sich in diesem Falle benehmen? Ich glaube, ich würde wahnsinnig!”

Er sah mich an mit seinen großen Augen, in die bei dem Gedanken an das Glück, das vielleicht eintreffen konnte, eine edle Thräne gestiegen war.

Das von allen Hornisten aufgenommene und über die ganze Linie sich fortpflanzende Signal: „Geht langsam vor, geht langsam vor, geht langsam, langsam vor,” machte unserem Gespräch ein Ende. Wir Offiziere sprangen auf und eilten vor. „Sprung, Auf, Marsch, Marsch” und mit „Hurrah!” warfen wir den Feind zurück, zurück in seine Schiffe, zurück in das Meer, aus dem er gekommen war. Dann das Signal: „Das Ganze sammeln.” Die Gewehre wurden umgehängt, und eine Compagnie nach der andern rückte in ihre Quartiere ab. Nach einem kurzen Marsch von etwa einer halben Stunde hatten wir das große Gut, auf dem wir bis zum nächsten Morgen bleiben sollten, erreicht. Als wir von dem Landweg nach dem Hof einbogen, empfing uns ein lautes Gegacker der Hühner.

„Ich athme auf, sie leben noch, sollte es wirklich möglich sein?” fragte mich mein Hauptmann.

Wäre ich die berühmte Marlitt, hätte ich geantwortet: „Hoffen wir das Beste, lieber Leser!” so aber schwieg ich, denn zuweilen ist Schweigen der Rede bester Theil.

Nach einer freundlichen Aufnahme seitens unserer Wirthe gingen wir, als wir uns umgekleidet hatten, zu Tisch. Eine Suppe, Lachs, Gemüsegang, dann wurde unter feierlicher Stille auf einer großen mit Reis verzierten Schüssel der Manöveradler hereingetragen.

Ich sah meinen Capitän von der Seite an. Der dicke Schweiß stand auf seiner Stirn, die Augen waren hervorgetreten, die Adern geschwollen, und sie Spitzen seines langen, dichten Schnurrbartes zitterten in nervöser Erregung. Ich wurde besorgt um ihn.

„Herr Hauptmann, ich darf Ihnen wohl gleich auflegen?” hörte ich die Dame des Hauses fragen.

„Gewiß, meine Gnädigste, ich wäre Ihnen sehr dankbar,” und mit zitternden Händen nahm er den bis oben gefüllten Teller entgegen.

Die Messer und Gabeln setzten sich in Bewegung, überall Klappern und Klirren, nur Einer saß da, die Hände im Schooß, und starrte wie geistesabwesend auf seinen Teller. Plötzlich erhob er sich und schlug an sein Glas, er bebte am ganzen Körper, und eine fahle Blässe bedeckte sein Gesicht.

„Sei mir gegrüßt, du Huhn mit dem lang entwickelten Halse! Reis, sei auch du mir gegrüßt, der dich so lieblich umrahmt.”

„So etwa, glaube ich, würde Schiller dich besungen haben, wenn er an meiner Stelle sich befunden hätte. Denn besingen und feiern muß ich dich, feiert man doch heutzutage Alles, wie sollte ich da diese Stunde vorübergehen lassen, in der ich dich seit fünfundzwanzig Tagen zum fünfundzwanzigsten Male essen soll! Viel Schreckliches und viel und großes Leid des Odysseus, das er während seiner langen Irrfahrt erlitten, ist der Nachwelt überliefert; wer aber schildert mein Leid, wenn nicht ich selbst? Was sind die Qualen der Hölle und der ewigen Verdammniß im Vergleich mit den Qualen, die ich seit fünfundzwanzig Tagen ausgestanden habe? Nachts in schlummerlosen Nächten, Morgens bei dem Aufstehen, während des Marsches und während des Gefechts, immer schwebte dein Bild vor meiner Seele. Was ich erlitten, kein Dichter kann es besingen, kein Maler kann es schildern, und selbst Wagner hätte es in seinen Leitmotiven nicht ausdrücken können. Und darum sei verdammt auf ewig.”

Eine peinliche Stille und ein verlegenes Schweigen hatte sich der Tischgesellschaft bemächtigt.

„Aber warum haben Sie Ihr Leid denn nie der Hausfrau geklagt?” fragte die Dame des Hauses, welche die Sache von der scherzhaften Seite nahm. „Glauben Sie mir, ich hätte gern etwas Anderes auf den Tisch gebracht, und wie ich auch alle anderen Damen, deren Gast Sie bisher waren.”

„Irren Sie sich nicht, gnädige Frau,” erwiderte mein Hauptmann. „Solch' Manöveradler ist für die Hausfrau so bequem und — wie mir einst meine Tante sagte, als ich ihr im Sommer durch einen großen Rosenstrauß eine Freude zu bereiten gedachte — so schön billig!”

„Sie halten uns für schlechter, als wir sind,” — entgegnete die liebenswürdige Wirthin — „wie dem aber auch sei, nie wieder soll ein Manöveradler während der Einquartierung bei mir auf den Tisch kommen.”

„Gnädige Frau, ich danke Ihnen, — ich danke Ihnen herzlichst im Namen Aller, die nach mir kommen werden. Wenn alle deutschen Hausfrauen dasselbe Gelübde thäten, so könnte ich von jetzt an der Biographie des Manöveradlers noch hinzufügen: Ist Gott sei Dank im Aussterben(5) begriffen.”


Fußnoten:

(1) Die Kaisermanöver des Jahres 1890 in Schleswig-Holstein fanden Anfang September statt. (zurück)

(2) Das Gefecht von Bau fand am 5.Sept.1890 statt.

Diese Informationen stammen aus der „Amtspresse Preußens”, IX.Jahrgang, No.71, 9.9.1890:
„Die Kaisermanöver in Schleswig-Holstein verlaufen programmmäßig. Am Freitag [5.Sep.1890] fand bei Bau ein Feldmanöver gegen einen markirten Feind statt, abends gab der Kaiser den Vertretern der Provinz Schleswig-Holstein ein Festmahl. Am Montag [8.Sep.1890] haben die großen Land- und Seemanöver begonnen.” (zurück)

(3) In der Buchfassung immer: Böte (zurück)

(4) In der Buchfassung: „es war ein Bild voll Leben und Natürlichkeit.” (zurück)

(5) Der Wunsch, daß der Manöveradler aussterben möge, findet sich auch in der Erzählung „Aus dem Manöver-Tagebuch eines Lieutenants”
und auch in den Erzählungen „Manöverplauderei” und „Das Manöverpferd” wird der „Manöveradler” sehr negativ erwähnt. (zurück)


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