Die Abschiedsrede.

Militärische Humoreske von Freiherr von Schlicht.
in: „Seine Hoheit”


Der Herr Oberst hat erst vor wenigen Tagen den Befehl über das ihm Allerhöchst anvertraute Infanterie-Regiment übernommen, er selbst ist kaum „angegessen” worden und schon heute muß er einen Herrn „abessen” lassen. Der Offizier, um den es sich handelt, der heute zum letzten Male mit den Kameraden zusammen im Kasino speisen wird, ist ein Hauptmann von Aberg, und es ist ganz selbstverständlich, daß der Herr Oberst ihm die Abschiedsrede halten muß. Der Kommandeur ist sonst ein Mann, der vor keiner Aufgabe zurückschreckt und der sich jedem Auftrag gewachsen zeigt. Aber jetzt wird es ihm doch etwas angst; er kennt den Herrn Hauptmann ja gar nicht, weder dienstlich noch außerdienstlich, er hat ihn kaum zweimal flüchtig gesprochen, was soll er dem Scheidenden denn für einen Nachruf widmen? Für einen Augenblick denkt er daran, ob es nicht vielleicht besser wäre, den Herrn Oberstleutnant die Rede halten zu lassen, denn der kennt doch den Herrn Hauptmann, der hat mehrere Jahre mit ihm zusammen im Regiment gestanden. Schon will er diesem Gedanken nachgehen, da aber lehnen sich der Stolz und der Ehrgeiz des Kommandeurs dagegen auf. Soll er etwa schweigen, wenn der Oberstleutnant spricht? Undenkbar! Soll er sich ein geistiges Armutszeugnis ausstellen und seinen Offizieren beweisen: ich kann nicht einmal eine lumpige Abschiedsrede halten? Das ist erst recht undenkbar.

Ich werde reden, beschließt er endlich, aber damit er doch wenigstens einen kleinen Anhaltspunkt für seine Rede hat, sucht er auf dem Kasernenhof den Oberstleutnant auf. Der ist in seiner Eigenschaft als Präses der Bekleidungs­kommission gerade damit beschäftigt, neue Hosen abzunehmen, und die Kerls, die sich auf dem Kasernenhof herumtreiben, staunen die neuen Hosen wie ein Weltwunder an. Gibt es denn überhaupt neue Hosen? Sie werfen einen Blick auf die geflickten Lumpen, in denen sie herumlaufen müssen, und geheimnisvoll flüstert ein Mann dem anderen zu: Du, Fritze, weißt du schon, es gibt auch neue Hosen! Aber der andere schüttelt nur den Kopf: „Ehe ich so'n Ding nicht in Händen halte, glaube ich es nicht.” Und da die neuen Hosen gleich auf Kammer wandern und da liegen bleiben, bis sie alt sind, ist der andere nicht zu überzeugen.

Der Herr Oberst winkt den Oberstleutnant zu sich heran, gleichzeitig aber sagt er: „Bitte, lassen Sie sich durch mich gar nicht stören.” Auf Grund des vorgesetzten Winkes muß er zum Herrn Obest eilen, auf Grund der Ermahnung, sich gar nicht stören zu lassen, muß er die Hosen weiter nachsehen. Die Wahl, was er schließlich zu tun hat, ist nicht schwer: er schlägt in der Luft eine Volte und befindet sich gleich darauf an der rechten Seite des Vorgesetzten, nein, um Gottes willen, nicht auf der rechten, auf der linken Seite, selbstverständlich auf der linken, denn die Vorgesetzten gehen immer rechts, nur wenn ein höherer Vorgesetzter kommt, dann gehen sie auch links, selbstverständlich links, bis der höhere Vorgesetzte wieder weg ist, dann gehen sie wieder rechts, selbstverständlich rechts.

Der Herr Oberst spricht mit dem Oberstleutnant ein paar einleitende Worte über das heutige Liebesmahl, dann kommt er auf die Abschiedsrede: „Wengleich ich mir, trotzdem ich den Herrn Hauptmann von Aberg ja kaum kenne, von dessen dienstlichen und persönlichen Eigenschaften bereits ein vollständig klares Bild gemacht habe, das mich bei meiner großen Menschenkenntnis sicher nicht trügt, so wäre ich Ihnen dennoch sehr dankbar, wenn Sie mir noch einige kurze Anhaltspunkte für meine Rede geben möchten, damit das, was ich sage, auch vollständig den Tatsachen entspricht. Sie wissen ja selbst, was in solchen Fällen zu wissen möglich ist.”

„Gewiß, gewiß,” pflichtet der Oberstleutnant ihm bei.

„Also sehr schön. Sie haben dann wohl die Güte, mir das, was ich zu wissen brauche, in ganz kurzen, knappen Stichworten, auf einen ganz kleinen Zettel zu schreiben, aber natürlich so deutlich, daß man es auch lesen kann.”

„Aber selbstverständlich, Herr Oberst.”

„Sie werden mir den Zettel heute bei Tisch übergeben. Ich werde Ihre Notizen gewissermaßen als Disposition betrachten und auf Grund derselben frei reden, natürlich ganz frei.”

Schon wendet sich der Oberst zum Gehen, da fällt ihm ein, daß er dem Oberstleutnant doch noch einen Beweis seines Wohlwollens geben muß, so fragt er denn: „Wie viel Hosen haben Sie im ganzen abzunehmen?”

„Fünfhundert, Herr Oberst.”

„Und wie viel fehlen Ihnen noch?”

„Vierhundertneunzig, Herr Oberst.”

„Na, dann sind Sie ja gleich fertig,” meint der Kommandeur leutselig, „also auf Wiedersehen heut' nachmittag.”

Und am Nachmittag versammelt sich das ganze Offizierkorps im Kasino, als letzter erscheint natürlich die Hauptperson, in diesem Falle nicht der Herr Oberst, sondern der Hauptmann von Aberg. Der hat seinen Abschied eingereicht, weil er sich dienstlich und außerdienstlich im Regiment nicht wohl fühlt und weil seine Vermögensverhältnisse es ihm erlauben, „fern von Madrid” ein sorgenloses Dasein zu führen.

„Ich bin nur begierig, was der Alte für 'ne Abschiedsrede halten wird,” wendet sich ein Kamerad an den anderen, als man an der festlich geschmückten Tafel Platz genommen hat.

„Wenn er Schneid hat, wird er sagen: reise mit Gott und werde glücklich.”

„Verdient hätte der Hauptmann es,” meinte der andere. „Ich habe ja das Glück gehabt, ein Jahr lang in seiner Kompagnie zu stehen. Mir tun noch die Beine weh, wenn ich bloß daran denke. Wissen Sie, ich bin keine vergnügungssüchtige Natur, aber ich lasse mir lieber meinen letzten hohlen Zahn ausziehen, als daß ich so'n Freudenjahr noch einmal durchmache. Na, kommen Sie, Kamerad, trinken wir 'mal, was kann das schlechte Leben nützen.”

Der andere stöhnt auf: „Ach ja, leicht hat man's nicht. wenn man wenigstens noch ohne das verdammte Geld leben könnte, dann ginge es ja schli8eßlich noch, aber so? Einfach scheußlich. Na, trinken wir 'mal.”

Und langsam leerten beide die vollen Sektkelche.

„Wenigstens noch ein Glück, daß es Champagner gibt,” meint der eine, während er sein Glas wieder hinstellt.

Der andere sieht ihn ganz erstaunt an: „Na, erlauben Sie 'mal! Wenn es den auch nicht mehr geben sollte, was sollte es dann überhaupt noch geben?”

Dann schweigen sie beide und warten auf den großen Augenblick, in dem die Abschiedsrede steigen wird.

Und endlich erhebt sich der Oberst und mit feierlicher Stimme beginnt er: „Meine Herren!”

„Herr Oberst, meine Notizen,” flüstert ihm da der Oberstleutnant zu und schiebt ihm dann einen kleinen Zettel in duie Hand.

Der Oberst sagt nichts, aber er wirft seinem Etatsmäßigen einen Blick zu, der da deutlich verkündet: daran hättest du auch eher denken können. Daß er selbst das auch hätte tun können, ist eine zweite Sache.

Dann beginnt er noch einmal: „Meine Herre! Wir sind heute hier in einer sehr traurigen Veranlassung versammelt, gilt es doch, Abschied zu nehmen von einem lieben Kameraden. Schweren Herzens sehen wir Sie, Herr Hauptmann von Aberg, aus unserem Kreise scheiden, denn Sie haben es, wie nur wenige, verstanden, sich die Achtung und die Liebe der Kameraden, vor allem aber auch das Vertrauen und die Zuneigung Ihrer Leute zu erwerben: Sie waren ihnen zwar ein strenger, aber ein gerechter und wohlwollender Vorgesetzter, das glänzendste Beispiel treuester Pflichterfüllung.”

Der Herr Oberst schweigt, um seine Worte wirken zu lassen, und er benutzt diese Pause, um den kleinen Zettel geschickt in seine linke Hand zu manövrieren und einen Blick hineinzuwerfen. Bevor er weiter spricht, muß er sich erst orientieren und so liest er denn: Das Regiment kann sich freuen, den Hauptmann los zu werden, in gleicher Weise unbeliebt bei den Kameraden, wie bei den Untergebenen.

„Hmhm,” macht der Herr Oberst. Für einen Augenblick ist er sprachlos, er weiß nicht weiter. Soll er das Lob, das er bisher so reichlich spendete, zurücknehmen? Unmöglich. Ganz verzweifelt blickt er wieder in seine Notizen, vielleicht ist der Oberstleutnant zu streng gewesen, irgend welche gute Eigenschaften muß Hauptmann von Aberg doch haben. Und er liest weiter: Gottseidank nur drei Jahre im Regiment gewesen, ohne Interesse für den Dienst, daher schlechte Besichtigung, schlechte Schießresultate.

Der Oberst taumelt beinahe hinten über, aber es hilft nun alles nichts, in der Tonart, auf die er seine Abschiedsrede nun einmal stimmte, muß sie zu Ende geführt werden, und so fährt er denn fort: „Leider haben Sie dem Regiment nur drei kurze Jahre angehört, aber Sie haben diese Zeit redlich ausgenutzt, um der Armee in Ihrer verantwortlichen Stellung als Hauptmann zu nützen. Das warme Interesse, das Sie dem königlichen Dienst stets entgegenbrachten, der Fleiß, mit dem Sie sich der Ausbildung Ihrer Leute hingaben, hatte zur natürlichen Folge, daß Sie bei allen Besichtigungen tadellos abschnitten, daß das Lob und die Anerkennung Ihrer Vorgesetzten nicht ausblieben, und daß Sie namentlich wegen Ihrer vortrefflichen Schießresultate für viele als Muster hingestellt wurden.”

So geht's in einem fort weiter, und alle atmen erleichtert auf, als der Kommandeur seine Offiziere auffordert, dem scheidenden lieben Kameraden ein donnerndes Hoch zu bringen.

„Na, donnern Sie 'mal,” sagt ein Leutnant zum andern. „Ich donnere nicht mit. Nee, wissen Sie — so was von Lobhudelei, das geht mir gegen mein glattrasiertes Kinn, und da bin ich sehr empfindlich.”

„Ist auch scheußlich,” meinte der andere. „Weihrauch ist ja an und für sich 'ne ganz nette Chose, aber wenn zu viel damit jeschlenkert wird, kann einem leicht übel werden. Wollen wir 'mal heimlich 'nen Kognak trinken?”

Aber ehe die Ordonnanz noch herbeigewinkt ist, hat sich Hauptmann von Aberg erhoben, um auf die Rede des Kommandeurs zu antworten. Er ist ganz blaß, aber eine feste Entschlossenheit spricht aus seinem Wesen: „Verzeihen der Herr Oberst — wenn ich für die Worte, die Sie soeben an mich richteten, einen Dank nicht aussprechen kann. Der Herr Oberst selbst kennen mich ja zu wenig, da müssen der Herr Oberst absichtlich falsch über mich unterrichtet worden sein. Ich habe als Offizier keine Lorbeeren geerntet, als Vorgesetzter habe ich es nicht verstanden, mir das Vertrauen meiner Leute zu erwerben, als Kamerad konnte ich keinen Freund finden. Das liegt an meinem Charakter und daran, daß ich wider Willen Offizier werden mußte und mich im bunten Rock niemals wohlgefühlt habe. Ich weiß, mir wird keine Träne nachgeweint, man sieht mich gerne scheiden, und ich gestehe es offen ein, daß auch ich gerne gehe. Aber trotzdem werde ich dem Regimente stets ein dankbares Andenken bewahren, denn ich habe mich hier so wohl gefühlt, wie ich für meine Person mich in einem Regiment nur immer wohlfühlen konnte. Und in diesem Sinne bitte ich Sie mit mir einzustimmen in den Ruf: „Das Regiment — hurra!”

Das Hurra erklingt, die Musik spielt den Parademarsch in der Regiments­kolonne, bei dem der Hauptmann so oft etwas auf den Hut bekommen hat, wenn seine Kompagnie schlecht vorübergekommen ist. Dann herrscht am Tisch eine mehr als verlegene Stille. Aber am stillsten von allen ist der Herr Oberst, der weiß gar nicht, was er sagen soll, aber so darf die Sache nicht enden. So wendet er sich denn an seinen Nacbar: „Herr Oberstleutnant — nu sagen Sie 'mal was.”

Und gleich darauf schlägt dieser an sein Glas: „Meine Herren! Der Wahrheit die Ehre! Dafür sind wir Offiziere. Wir alle wissen, daß das Lob, das der Herr Oberst dem scheidenden Kameraden spendete, nicht verdient war. Wir wissen viel mehr, daß der Herr Hauptmann mit seinen Worten das Richtige traf. Und daß er den Mut hatte, das offen einzugestehen, das ist ein glänzender Beweis für die Ehrlichkeit, die Wahrheitsliebe und die Lauterkeit seines Charakters. Und durch seine Worte hat er sich im letzten Augenblick das bei uns errungen, was er früher vergeblich suchte: Freundschaft und warme Anerkennung seiner menschlichen Eigenschaften! Und in diesem Sinne noch einmal: Herr Hauptmann von Aberg — hurra!”

Und dieses Mal kommt das Hurra allen von Herzen. Alle sind froh und glücklich, daß der peinliche Zwischenfall so erledigt worden ist. Nur der Herr Oberst nicht. Der sieht es voraus, morgen werden seine Offiziere alle erfahren haben, daß er gegen besseres Wissen nur Lob spendete, die Worte, die er gesprochen, haben sein Ansehen und seine Stellung seinem Offizierkorps gegenüber erschüttert. darüber täuscht er sich nicht. Und im Geist hört er schon die Abschiedsrede, die man in kurzer Zeit ihm selbst halten wird, und die er sich gewissermaßen soeben selbst gehalten hat.


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