Leutnant Aberg.

Militärhumoreske von Freiherr von Schlicht.
in: „Neue Hamburger Zeitung” vom 26.1.1901 und
in: „Zurück — marsch, marsch!”


Leutnant Aberg war mit Leib und Seele Offizier, aber er hätte seinen Dienst noch viel lieber, viel freudiger gethan, wenn der Himmel es bei seiner Geburt etwas besser mit ihm gemeint und ihm eine andere Figur gegeben hätte. Er wünschte sich, ein Riese zu sein, und er war ein Zwerg, er war so klein, daß man ihn gar nicht bemerkte, wenn man über ihn hinwegsah, und das geschah bei seiner kleinen Figur sehr häufig.

Mit zehn Jahren war er in das Kadettenkorps gekommen, da ist noch keine bestimmte Größe und kein Normalbrustumfang vorgeschrieben und wegen eines zu geringen Körpermaßes ist noch keinem angehenden Kadetten die Aufnahme in das Korps verweigert worden.

Mit fünfzehn Jahren war Kurt von Aberg noch genau so groß, wie mit zehn.

Sein Hauptmann, die Kompagnie-Offiziere und der Stubenälteste ermahnten ihn im Korps fortwährend: „Essen Sie nur ordentlich, damit Sie wachsen — so klein können Sie doch nicht immer bleiben wollen, das geht nicht, das müssen Sie doch selbst einsehen!”

Der Untergebene sieht, wenigstens offiziell, alles ein, was die Vorgesetzten von ihm verlangen, so sagte der Kadett von Aberg denn sein strammes: „Zu Befehl!” und blieb genau so groß, wie er war.

Mit neunzehn Jahren trat er in die Armee, in ein Linien-Infanterie-Regiment, d. h. nach glücklich bestandenem Examen wurde er durch allerhöchste Kabinettsordre seinem Truppenteil überwiesen.

Als der Oberst seinen neuen Fähnrich sah, bekam er einen Schrecken und bestimmte ihn dann für die zwölfte Kompagnie, denn bekanntlich stehen in der ersten Kompagnie die größten, in der zweiten Kompagnie die zweitgrößten und in der zwölften Kompagnie die kleinsten Leute des Regiments.

Als der Hauptmann seinen neuen Fähnrich zum erstenmale sah, wollte er vor Entsetzen seinen Abschied nehmen, aber leider erholte er sich bald von seinem Schrecken und blieb. Er gewann es sogar über sich, für seinen neuen Untergebenen so etwas wie väterliches Wohlwollen zu empfinden und so sagte er denn zu dem jungen Aberg:

„Fähnrich, vorläufig verlange ich weiter nichts von Ihnen, als daß Sie wenigstens um einen Kopf größer werden.”

„Warum nicht gleich um drei?” dachte der Fähnrich, der gar nicht so dumm war, wie er nicht aussah, dann nahm er die Hacken ganz fest zusammen, den Kopf in die Höhe, dann Kinn an die Binde, die Hände vorschriftsmäßig an die extra zu diesem Zweck aufgenähte Hosennaht und sagte: „Zu Befehl, Herr Hauptmann!”

Daß der Untergebene seinen eigenen Willen dem des Vorgesetzten unterordnen will, hört jeder Höhere gerne, und so klopfte der Herr Hauptmann dem Fähnrich denn auch beinahe zärtlich auf die Schulter: „Na, das freut mich, daß Sie das selbst einsehen — bis Sie gewachsen sind, werde ich Sie bei dem Dienst nach Möglichkeit schonen.”

Aber er wuchs trotz aller Schonung nicht, und das nahm der Vorgesetzte „persönlich übel”. Die Milde und Nachsicht ließen nach, die Strenge begann zu regieren und der Fähnrich wurde hochgenommen und nach allen Regeln der Kunst geschliffen, bis ihm die Augen übergingen.

Aber damit hörte die Schleiferei auch noch nicht ganz auf.

Sich selbst und seinem Hauptmann zur Freude kam er eines Tages auf Kriegsschule, und als er nach weiteren zehn Monaten eines Morgens mit einem furchtbaren Kater erwachte, war er Leutnant, wirklicher lebendiger Leutnant mit fünfundsiebzig Mark Gehalt pro Monat und der totsicheren Aussicht, verabschiedet zu werden, bevor er es bis zum kommandierenden General gebracht hatte.

Aber er dachte nicht an die Zukunft, sondern freute sich der Gegenwart, und das war vernünftig von ihm, denn schon der nächste Tag brachte ihm bei dem Exerzieren einen ganz unheimlichen Anpfiff.

„Zum Donnerwetter, Herr Leutnant,” rief der Hauptmann, „machen Sie sich größer, richten Sie sich mehr auf — wie soll ich denn die Kompagnie ausrichten, wenn plötzlich mitten in der Knopfreihe Ihre Nasenspitze auftaucht — recken Sie sich gefälligst in die Höhe.”

Und Aberg reckte sich, die Glieder knackten und die Stege der Beinkleider unter den Stiefeln rissen entzwei, obgleich sie ebenso gut wie die Beinkleider noch gänzlich unbezahlt waren, und als das alles noch nichts nützte, stellte er sich so hoch auf die Fußspitzen, bis er nicht nur das europäische, sondern auch das ostasiatische Gleichgewicht verlor und aus der Front heraus nach vorne über taumelte.

Und bei der Kritik, die dieser Leistung folgte, bedauerte der arme Leutnant zum ersten, aber nicht zum letztenmale in seinem Leben, geboren zu sein.

Die Anpfiffe blieben ihm fortan treu und sie geleiteten ihn von einem Tag zum andern. Die Zeiten gingen dahin, aber die Anpfiffe und die Ermahnungen, entweder größer zu werden oder doch lieber freiwillig den Abschied zu nehmen, blieben bestehen.

Und das ärgerte den kleinen Leutnant ganz gewaltig, denn nach seiner allerdings ja absolut nicht maßgebenden Meinung kam es bei einem Menschen nicht nur auf die körperliche, sondern teilweise auch etwas auf die geistige Beschaffenheit an. Dumm war er nicht, das sagte er sich selbst zu wiederholtenmalen, und wenn seine Vorgesetzten ihm das bisher nicht auch gesagt hatten, so lag das lediglich daran, daß es ihnen bisher an Gelegenheit gefehlt hatte, ihn in dieser Hinsicht kennen zu lernen.

Während die anderen Kameraden in der Kneipe oder im Kasino saßen und kneipten, saß er zu Hause hinter der Felddienst­ordnung, der Schießvorschrift und dem Exerzier­reglement, er studierte Kriegsgeschichte und löste taktische Aufgaben, er lernte fremde Sprachen, um später auch das Dolmetscher-Examen machen zu können, kurz, er that alles, was der Durchschnitts­leutnant nicht zu thun pflegt, und deshalb lautete das Urteil der Kameraden über Aberg auch kurz und schmerzlos: „Er ist verrückt.”

In der Front würden ihm selbst im Laufe einer Ewigkeit keine Rosen blühen, das sah der kleine Aberg auch ein und deshalb bewarb er sich, als er drei Jahre Offizier gewesen war — denn eher geht es nach den bestehenden Vorschriften nicht, um jedes Kommando, das frei wurde.

Er wollte zur Turnanstalt, als Erzieher in das Kadettenkorps, als Inspektions-Offizier zur Kriegsschule, er wollte Adjutant werden, ja, was wollte er nicht alles — aber es gelang ihm alles vorbei, man erkannte zwar seinen Ehrgeiz an, aber, aber —.

Bei dem „aber” blieb es.

Je mehr abschlägige Antworten er erhielt, desto mehr regte sich sein wirklich großer Ehrgeiz — er konnte etwas, sicher ebenso viel, wie die anderen und wie der berühmte Hirsch nach dem berühmten Wasser, so schrie er förmlich nach einer Gelegenheit, um den anderen beweisen zu können, daß er trotz seiner geringen Größe geistig ein ganzer Mann sei.

Da geschah es, daß der kommandierende General in die mit Recht bei den Untergebenen so unbeliebten Winterarbeiten eine Abwechselung zu bringen suchte. Früher hatte jeder Leutnant die Aufgabe bearbeitet, die ihm von seinem Major oder von dem Herrn Oberst gegeben worden war — jetzt stellte Se. Exzellenz der Höchstkommandierende für sämtliche Leutnants seines Armeekorps dieselbe Aufgabe. Jeder sollte dasselbe Thema bearbeiten und alle Ausarbeitungen sollten dem Generalkommando eingereicht und von einer besonders eingesetzten Kommission geprüft werden. Für die drei besten Aufgaben wurde als Lohn eine öffentliche Anerkennung durch einen Korpsbefehl ausgesetzt, und damit bei der Beurteilung der Arbeiten jede Parteilichkeit ausgeschlossen war, sollten die Schriftstücke, wie bei jedem einzelnen Preisausschreiben, nicht mit dem Namen des Einsenders, sondern mit einem Motto versehen sein — ein mit demselben Motto versehenes Couvert sollte den Namen und die Charge des Verfassers enthalten.

Als Leutnant von Aberg diesen Entschluß Sr. Exzellenz, den alle anderen für „blödsinnig” erklärten, erfuhr, schrie er vor Freude laut Hurra! und machte sich, sobald das Thema bekannt gegeben war, an die Arbeit. Er nahm es gewaltig ernst mit der Sache, und um ihn herum türmten sich auf den Stühlen und auf dem Fußboden die Quellen, aus denen er seine Weisheit schöpfte, aus denen er Auszüge machte, die er dann zu einem Ganzen vereinigte und denen er dann seine eigene Ansicht hinzufügte.

Noch mehr als sonst mied er den Kameradenkreis, kaum daß er noch zu Tisch kam; meistens ließ er sich das Essen in seine Wohnung holen, und bis spät in die Nacht saß er am Schreibtisch

Endlich war das letzte Wort geschrieben und freudestrahlend erschien er eines Mittag im Kasino, um sich nicht nur bei einer, sondern bei mehreren Flaschen Sekt zu stärken und sich zu erholen von den Anstrengungen der letzten Wochen.

„Nun?” fragten die Kameraden, die mit der Arbeit noch gar nicht angefangen hatten, „sind Sie fertig, Aberg?”

„Ganz fertig,” gab dieser freudestrahlend zur Antwort, „nur das Motto fehlt mir noch — ich kann nichts Passendes finden, obgleich ich mein Citatenlexikon schon dreimal durchgelesen habe — eine Flasche Matthäus Müller für ein gutes Motto — es muß aber zu der Eigenart meiner Arbeit passen.”

Einen Augenblick herrschte feierliche Stille, alle dachten nach.

Da ertönte plötzlich die Stimme eines Stabsoffiziers, der zu der vom Generalkommando ernannten Prüfungs­kommission gehörte, und langsam und feierlich erklangen seine Worte: „Mein Gott, Aberg, gerade für Sie ist es doch sehr leicht, ein Motto zu finden — ich weiß eins, das gerade für Sie gemacht ist.”

„Darf ich fragen, wie es lautet?” fragte Aberg neugierig. Und unter feierlicher Stille des ganzen Auditoriums sagte der „Stabshengst”:

„Schreiben Sie als Motto das alte aber wahre Wort: Klein Vieh macht auch Mist.”

Leutnant Aberg hat den Preis leider nicht erhalten.


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© Karlheinz Everts