Humoreske von Teo von Torn.
in: „Neues Wiener Journal” vom 27.10.1904,
in: „Czernowitzer Tagblatt” vom 29.10.1904,
in: „Bonner Zeitung” vom 30.10.1904,
in: „Agramer Zeitung” vom 31.10.1904,
in: „Badener Zeitung” vom 14.12.1904,
in: „Greifswalder Tageblatt, Sonntags-Beilage” vom 30.07.1905,
in: „Indiana Tribüne” vom 04.04.1906
Von Eisenbahnunfällen liest man alle Tage. Namentlich aus den interessanteren Gegenden Amerikas, wo die Fixigkeit im umgekehrten Verhältniß zur Sicherheit steht, kommt öfter die Nachricht, daß zwei Blitzzüge ineinander gerannt und hohe Eisenbahnbrücken just in dem Moment eingestürzt sind, in welchem ein Ausstellungsflieger sie passirte. Unsere abgebrühten Nerven reagiren kaum noch darauf, wenn die Blätter nicht mindestens von zwei Dutzend Todten und Schwerverwundeten zu berichten wissen.
Etwas intimer berührt wird man schon, wenn ein solcher Unfall sich in unserer deutschen Heimat ereignet. Im Lande der „stillen Pauline”, der „Blindschleiche” und ähnlicher vorsichtiger Verkehrsmittel geschieht das ja glücklicherweise nicht oft. Aber es kommt doch vor. Und vollends aufgerüttelt wird man, wenn das Unglück einen Zug betroffen hat, den man selbst oft benützt oder der von Verwandten und Bekannten häufiger benützt wird.
Der Steuerrath Michalewski hatte die üble Angewohnheit, das Abendblatt gleich am Stammtisch zu lesen. Sowie die Zeitungsfrau das Blatt brachte, mußte der Kellner es ihm reichen — trotz aller unserer Proteste.
Eines Abends hatte er kaum einen Blick in die Zeitung geworfen, als er diese sinken ließ und uns über den auf der äußersten Nasenspitze balanzirenden Kneifer hinweg entsetzt anstarrte.
„Hotzdunnerlichting,” hauchte er. Dann fragte er zögernd, wie Einer, dem vor der Bestätigung bangt: „Mit welchem Zuge ist denn Schmielow heute Morgen gefahren —?”
„Mit dem ersten, hat er gestern gesagt.” — „Gleich nach fünf.” — „Wieso?” — „Was ist denn los?”
„Hotzdunnerlichting,” wiederholte der Steuerrath kopfschüttelnd, Er legte die Zeitung, was er sonst nie zu thun pflegte, breit auf den Tisch, stemmte die Arme darauf und las — las, als wenn ihm Jemand sein eigenes Todesurtheil vorgelegt hätte.
„Aber Mann, so reden Sie doch!” — „Was ist mit Schmielow?”
„Der Frühzug ist bei Schachthagen mit einem Güterzug zusammengestoßen — alle Wagen dritter Classe sind demolirt — ebenso beide Locomotiven — — ”
„Herrgott — der arme Schmielow!” — „So'n lieber Kerl!” — „Frau und fünf Kinder!” — „Lesen Sie!” — „Was steht da noch?” — „Nee, ist es zu glauben!” — „Gestern noch so mobil am Stammtisch — und heute!” — „Aber so lesen Sie doch, Steuerrath!”
„Nur der Wagen erster und zweiter Classe ist wie durch ein Wunder intact genblieben. Nicht einmal entgleist.”
„Vielleicht ist er Zweiter gefahren!”
„Das ist sogar sehr wahrscheinlich,” bemerkte der Steuerrath sichtlich erleichtert. „Der Zug war schwach besetzt. Die elf Passagiere dritter Classe sind alle mehr oder minder verletzt und hier namentlich aufgeführt. Unser Schmielow ist nicht darunter — ”
„Na — Gott sei Dank —!”
Das kam Allen von Herzen. Bernhard Schmielow war eins der beliebtesten Mitglieder unserer Tafelrunde. Unentwegt höflich, liebenswürdig und wohlgelaunt — und ein Erzähler, wie es keinen zweiten gab. Er hatte Forstfach studirt. Seit er vor acht Jahren die steinreiche Witwe eines Ziegeleibesitzers geheiratet, war er Rentier. Wider seinen Willen. Seine Frau hatte es entschieden abgelehnt, ihm „in die Wildniß”, auf eine Oberförsterei, zu folgen.
Ueberhaupt diese Frau! Sonst eine ganz nette, muntere, rundliche Dame, machte sie ihrem Gatten das Leben sehr schwer durch eine hart an Geiz grenzende Sparsamkeit. Nicht, daß sie ihm zu fühlen gab, daß sie das große Portemonnaie in die Ehe gebracht. Dazu war sie zu gescheit und hatte ihren Bernhard auch viel zu lieb. Aber der Zuschnitt, den sie dem Hausstande wie überhaupt der ganzen Lebenshaltung gab, war ein so enger, kleinlicher und in den Verhältnissen so wenig begründet, daß der einstige flotte Forstassessor und Feldjägerlieutenant sehr darunter litt. Nie hatte er sich im Ernst darüber beklagt. Nur aus gelegentlichen kleinen Scherzen und selbstironischen Bemerkungen fühlte man das heraus. Auch war er als Gesellschafter erst dann in vollster Form, wenn seine Gattin nicht dabei war.
Daß er auf drei Tage allein verreisen durfte — ohne die Pfennigcontrole seiner Frau — hatte ihn fast übermüthig gestimmt. Das war er sonst nicht. Man kannt nur eine ruhige, ausgeglichene Heiterkeit an ihm, die beinahe etwas Förmliches und Ueberlegenes gehabt hätte, wenn sie nicht so herzlich gewesen wäre. Unser Bezirkshauptmann Mederer traf ganz das Rechte, als er, nach dem ersten Erörterungssturm, in sein Glas hineinlachte und sagte:
„Herrschaften, ich kann mir ganz genau vorstellen, wie Schmielow sich verhalten hätte, wenn der Unfall auch ihn betroffen. „Sie sind in einer unbequemen Lage, meine Gnädige — ich bedaure lebhaft, Ihnen nicht behilflich sein zu können; mir sind beide Beine eingeklemmt.” Oder „Verzeihen Sie, mein Herr, wenn ich Sie etwas bedrücke, aber die Sache ist mir so überraschend gekommen, daß ich keine Zeit hatte, einen geeigneteren Platz zu suchen. Ihre Cigarren sind wohl ohnehin zerbrochen; ich werde mir erlauben, Ihnen nachher welche von meinen anzubieten — wenn wir dann noch leben sollten.” So würde Bernhard Schmielow sich benehmen. Stimmt's?”
„Es stimmt!” riefen wir, fröhlich in der sicheren Hoffnung, daß der liebe Mensch uns erhalten geblieben.und thatsächlich bekamen wir noch an demselben Abend durch ein Telegramm von ihm die Bestätigung.
Für den Tag der Heimkehr des glücklich Geretteten hatten wir glänzende Ovationen vorbereitet. Sein Stuhl war bekränzt. Den caputen Deckel seines Stammseidels hatten wir durch einen neuen, mit entsprechender Widmung ersetzen lassen. Wir Alle saßen schon vor der Zeit auf unseren Plätzen — ein Jeder im schwarzen Anzug, mit weißer Halsbinde und Cylinder auf dem Kopfe. Selbst der alte Steuerrath, der schwor, nie solch ein Möbel besessen zu haben, hatte einen, wider den Strich gebürsteten Bibi aus der Biedermeierzeit aufgetrieben.
Dementsprechend feierlich war der Empfang. Bernhard Schmielow wurde zuerst mit einem Hoch begrüßt. Darauf Ansprache des Tischältesten, die Bernhard Schmielow ebenso höflich als herzlich erwiderte. Dann begann die Fidelitas — und das im verwegensten Sinne des Wortes.
Zwischendurch mußte der Gerettete die ganze Geschichte erzählen — einmal, zweimal, zehnmal. Er that das auch, so oft man es verlangte, mit seiner unermüdlichen, herzlichen Höflichkeit.
„Aber da ist es doch ein wahres Glück, Schmielow!” rief der Stadtgutspächter Asmus, „daß Sie zweiter Classe gefahren sind!”
„Das ist es allerdings. Andernfalls hätte ich heute wohl einen Arm oder ein Bein weniger.”
„Hotzdunnerlichting!” fluchte der Steuerrath gerührt, indem er dem Gefeierten zutrank.
„Und was sagte denn Ihre Frau?” fragte ein Anderer. „Jawohl — was sagte Ihre Frau?” riefen noch Einige nach.
Schmielow's Gesicht verzog sich zu einem leisen, feinen Lächeln.
„Meine Frau — — je nun, meine Frau war natürlich sehr glücklich. Sie hat mich gar nicht aus den Armen gelassen und immer umschichtig geweint und gelacht . . . . Nur nachher —”
„Was denn nachher?”
„Ja, nachher trocknete sie ihre Thränen aus den Augen und sagte recht vorwurfsvoll: „Du bist aber doch wieder zweiter Classe gefahren, Bernhard!”
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