Auf falscher Fährte.

Humoreske von Teo von Torn.
in: „Über Land und Meer” vom Febr. 1904


Baroneß Hella Rüterbusch war bei der Morgentoilette. Während das sonst bei jungen Damen eine mit Sorgfalt, oft sogar mit zeitraubender Umständlichkeit bewirkte Einleitung der Tagestätigkeit ist, behandelte das die kleine Baroneß derart oberflächlich, daß Miß Boye wohl oder übel sich hatte entschließen müssen, dem Lever ihres Schützlings beizuwohnen.

Schließlich fällt es doch immer auf die Gouvernante bezw. Gesellschafterin zurück, wenn ein junges Mädchen von reichlich siebzehn Jahren — notwendige Kleidungsstücke verkehrt anzieht, von den zehn Haken einer Taille durchschnittlich nur drei Prozent wirklich schließt, oder alle Augenblicke ein Strumpfband verliert.

Dabei war Hella Rüterbusch nicht eigentlich unordentlich. In ihren beiden Stübchen, in die die Herbstsonne neckisch durch die Vorhänge blinzelte, herrschten musterhafte Ordnung und Sauberkeit. Daß sie sich selbst ein wenig vernachlässigte, geschah auf Grund einer ganz eigenartigen herben Reflexion. Ist jemand schön, so hat er nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht, diese Schönheit zu pflegen und ins rechte Licht zu setzen; ist jemand aber häßlich — so häßlich wie Hella Rüterbusch zu Schloß Bolanken — dann ist es vollkommen Wurscht, was und wie er sich anzieht.

Diese Rechnung stimmt natürlich nicht. Sie ist ebenso falsch wie ihre Voraussetzung. Die kleine Baroneß war allerdings keine blendende Schönheit. Sie hatte etwas jungenhaft Eckiges in der Figur. Das Gesicht war unregelmäßig, der Mund — mit der vorgeschobenen Oberlippe, die die weißen Schneidezähne nur zum Teil bedeckte — nicht allzu klein. Das nervöse, flügenzuckende Näschen, an dessen Wurzel die dunklen starken Brauen sich fast berührten, saß keck und eigensinnig im Gesicht. Dennoch hatte letzteres einen feinen pikanten Reiz, namentlich in seiner massigen Umrahmung von braunem Haar und in den wirklich schönen Augen, deren Blick alle Welt zu ironisieren schien.

Hella Rüterbusch gähnte, wobei sie mit beiden Handrücken zwar nicht den Mund, aber die Augen bedeckte und diese geschäftig rieb. Dann ließ sie die Arme sinken und seufzte auf wie jemand, der es unsinnig schwer hat auf der Welt und nicht weiß, wo er zuerst anfangen soll.

„Wissen Sie, Miß Boye — jener Mann hat recht; jener, der sich neulich aufgehängt hat, weil es ihm zu fad gewesen ist, sich ewig an- und auszuziehen.”

„Tatsächlich. Es ist was Gräßliches. Jeden Morgen und jeden Abend, den der liebe Gott werden läßt! Die Eskimos haben es besser. Vier Monate Nacht oder noch länger. Da lohnt es sich doch. Eventuell möchte ich auch in Zentralafrika leben, wo die Leute mit der Toilette gar keine Umstände haben. Eine Garnitur Palmblätter und ein Schlips. Fertig. Fein — was?”

„Ooooh —”

Das klang entrüstet und ungeduldig zugleich. Aber die Baroneß achtete nicht im geringsten darauf. Sie sprach überhaupt wie zu sich selbst. Während sie sprach und dabei auf der breiten Marmorplatte des Waschtisches hantierte, schaute sie unverwandt in den Spiegel — und es war wie ein Resultat dieser Betrachtung, als sie unvermittelt sagte:

„Wissen Sie, Miß Boye, was ich möchte —? Tot sein möcht' ich! Dann hat man seine Ruh und — überhaupt.”

„Ooooh —”

Bei dieser dritten auf den einen Vokal gestimmten Interjektion muß zur Erklärung eingeschaltet werden, daß Miß Ingeborg Boye — eine überlebensgroße Schwedin, glatt wie ein Exerzierplatz — im Verkehr mit ihrem Schützling meist nur unter verschiedentlicher Anwendung und Betonung des Buchstabens o sich äußerte. Einmal genügte das zum Ausdruck der Entrüstung oder des Befremdens vollommen. Des weiteren war die Miß nur der schwedischen und englischen Sprache mächtig. Von der ersteren kannte Hella Rüterbusch nicht viel mehr als „utan svafel och fosfor” und gegen letztere hatte sie eine entschiedene Abneigung. Sie behauptete zwar, daß das seit dem englisch-südafrikanischen Kriege sei — aber wer die kleine Baroneß kannte, der wußte, daß sie vorher auch schon keine Vokabeln gelernt hatte. Da Miß Boye nur höchst selten dazu gereizt werden konnte, sich mit ihrem Deutsch zu blamieren, so gestaltete sich die Verständigung zwischen den beiden etwas einseitig. — Nach einer Pause, während welcher die Baroneß wiederum nachdenklich und aufmerksam in den Spiegel geschaut, fuhr sie fort:

„Und wenn ich schon nicht tot sein kann, dann möchte ich wenigstens etwas dicker sein. Der Mensch ist doch sozusagen kein Kleiderhaken. Ich möchte bloß wissen, ob die Magerkeit vom vielen Reiten kommt oder davon, daß ich Sie immer um mich sehe — — nein, bitt' schön, Miß Boye, bleiben Sie noch ein bißchen hier. Zur Schnitzeljagd müssen Sie mich anziehen helfen. In den roten Frack komme ich nicht allein. Außerdem weiß ich nicht, was Sie wollen. Meine Annahme hat ihre wissenschaftliche Berechtigung. Ich hab' kürzlich darüber gelesen. Man paßt sich in mancherlei Aeußerlichkeiten seiner Umgebung an. Von Onkel Woldemar habe ich die Nase angenommen, von Tante Passow die sich immer selbst was ins Ohr sagt, den Mund, und —”

„Und von Mister Eduin das Ungeßogenheit!”

Hella schüttelte mißbilligend den Kopf.

„Erstens heißt es die ,Ungeßogenheit', Miß Boye; und dann ist das auch nicht richtig. Vetter Edwin ist zu jung, als daß ich etwas von ihm annehmen könnte.”

„Oooooh —!”

Darin lag so viel Hohn und lauernde Herausforderung, daß die Baroneß das feuchte Gesicht aus dem Waschbecken hob, die überfallenden Haarmassen mit dem Arm aus der Stirn strich und sich umschaute.

„Na was denn ,o'! Ein kleiner Fähnrich, der nur alle Vierteljahre mal auf ein paar Tage zu Besuch kommt —”

„Ye-es! Und die viele love-letters, wo Sie von das kleine Fähnritsch in Ihre Ssreibtisch haben —!?”

Miß Boye hatte sich bei diesem scharfen Ausfalle erhoben, um die Nähe der Tür zu gewinnen. Und es hatte einen Moment auch den Anschein, als wenn diese Vorsicht durchaus angebracht gewesen wäre. Die Baroneß stand zunächst wie verdonnert. Dann überflog eine heiße Röte ihr Gesicht. Impulsiv griff sie nach dem großen Schwamm — um ihn gleich darauf ins Wasser zurückplumpsen zu lassen. Unter einem verächtlichen Achselzucken wandte sie sich ab.

„Ich will nicht fragen, Miß Boye, wie Sie in meinen Schreibtisch kommen. Wer das Schnüffeln aus Beruf und Neigung betreibt, findet seinen Weg auch durch Schlösser und Bretter. Na — schließlich ist's egal. Mach' mir nichts draus. Da Sie aber die Entdeckung wohl nicht bloß zu Ihrem eigenen Spaßvergnügen gemacht haben, sondern auch, um Onkel Woldemar oder Tante Passow damit zu erfreuen, so erkläre ich Ihnen, daß ich die Briefe zwar erhalten, aber nicht einen einzigen davon beantwortet habe —”

„Ooooo —”

„Nicht einen davon beantwortet! Utan svafel och fosfor noch einmal — wenn ich was sage, dann ist's so! Ich erlaube Ihnen nicht, in meine Worte Zweifel zu setzen!”

„Dann wicklet man nicht so rote Bändsen rum,” warf Miß Boye mit süffisantem Lächeln ein.

„Rote Bändsen!” rief die Baroneß, indem sie in hellem Zorn das breite Lispeln nachäffte. „Was ist denn mit roten Bändsen bewiesen, he!? Nichts, gar nichts ist damit bewiesen! — oder doch —” fügte sie mit zuckendem Munde hinzu, indem sie die Miß aus feuchtfunkelnden Augen anblitzte, „etwas vielleicht doch! So dumm und albern das ist, was Vetter Edwin sich da zusammen­geschrieben und zusammen­gedichtet hat — Gott, was für ein Stiefel von Gedichten! — verdienen die Briefe sehr wohl ihr rotes Bändchen. Dieses beweist einzig und allein, daß es mir nicht gleichgültig ist, wenn wenigstens ein Mensch auf Gottes weiter Welt mich lieb hat oder es wenigstenms vorgiebt — Und wenn's so ein Schafskopf ist wie Vetter Edwin! Können Sie sich denn gar nicht denken, daß mir das wohltut? Wer hat mich denn sonst lieb? Sie etwa —? Oder Tante Passow, die immer was an mir herumzumäkeln hat? Oder Onkel Woldemar weil er mich im zärtlichsten Falle Fratz nennt? Oder gar dieser — dieser” — sie schluckte ein paarmal heftig, als wenn es sie im Halse würgte — „dieser Onkel Rolf, für den ich immer noch das Baby bin, das er täglich, stündlich mit seiner baumlangen Ueberlegenheit töten darf!? Der geht nun fort — morgen — und das ist ein Glück! Sonst wäre ich gegangen.” — Die Stimme stockte wie in einem Aufschluchzen; gleich darauf aber sammelte sie sich wieder zu der ihr eigenen temperamentvollen Energie. — „Das sind sie alle, die eigentlich die verfluchte Pflicht und Schuldigkeit haben, mir gut zu sein. Kein Mensch tut's — und ich weiß weshalb! Weil ich häßlich bin und zu eckig, um bei Hofe mit mir Staat zu machen! Wenn der Vetter mich trotzdem anhimmelt, so ist das lieb von ihm, sehr lieb — was mich allerdings nicht abhalten wird, ihm heute, falls er zur Schnitzeljagd kommt, den Marsch zu blasen.”

Miß Boye war von dieser längeren Auseinandersetzung um so peinlicher berührt, als sie knapp die Hälfte davon verstanden hatte. Nur den Schlußpassus hatte sie kapiert, weil er eine jener drastischen Wendungen enthielt, deren Sinn sie sich bei dem häufigen Gebrauch seitens ihres Schützlings nach und nach zurechtgelegt hatte: Aeußerte eine deutsche girl den Wunsch oder die Neigung, auf die Akazien zu klettern, so bedeutete das ungefähr to lose one's patience; wünschte sie sich einen gebratenen Storch, so erschien ihr irgend etwas suprising; sollte dieser Storch auch noch recht knusperige Beine haben, dann very surprising; und den Marsch blasen, hieß soviel wie to scold. Die deutsche Sprache ist eben nicht nur eine schwere, sie ist auch eine umständliche Sprachen.

„Das ist nicht nötik,” bemerkte Miß Boye in Anknüpfung an den letzten Passus, &bdsquo;das Fähnritsch ist angekommen und ist ihm der Marsch sc hon geblasen worden wegen der love-letters —”

„Natürlich! Ich konnte mir wohl denken, daß Sie keine Minute zögern würden, die greuliche Entdeckung an den Mann zu bringen. Das wäre Ihnen auf die edlen Teile geschlagen und Sie hätten möglicherweise daran ersticken können. Jedenfalls mache ich mir gar nichts daraus. Onkel Woldemar ist viel zu vernünftig, um so was aufzumutzen!”

Ganz so gleichgültig, wie sie es hinstellte, schien der Baroneß die Sache doch nicht zu sein. Das ergab sich aus der zornig abgehackten Art, in der sie sprach, und aus ihren heftigen Bewegungen. Sie bürstete und kämmte sich mit einer Energie, als wenn sie nicht das eigne prächtige Haar, sondern die dürftigen Selleriezöpfchen der Miß unter dem Striegel hätte. Plötzlich ließ sie den Kamm sinken und fuhr herum.

„Oh no—” hatte Miß Boye mit Nachdruck sich vernehmen lassen, „Mister Onkel Woldemar — o no! Der sein ßu indulgent for solche impropriety. Das einzige Menß, wo Sie Respekt haben, sein Mister Rolf —”

„Allmächtiger Gott —” hauchte die Kleine entgeistert in sich hinein. Dann wie ein Aufschrei: „Und Sie — haben dem — diesem Menschen —!”

„Erßählt von die love-letters,” nickte Miß Boye triumphierend. „Oooooo — all right — werde ich auch erßählen, daß Sie mir mit der Kamm smeißen — und —”

Den Rest verschlang die Tür, die die Enteilende mit großer Beschleunigung zwischen sich und ihren Zögling gesetzt hatte.

Wenn junge Mädchen nicht wissen, was sie in fassungsloser Zornstimmung anstellen sollen, dann weinen sie. Auch hierin unterschied sich Hella Rüterbusch von der Mehrzahl ihrer Mitschwestern. Sie brach zunächst von einem zierlichen elfenbeinernen Handspiegel den Griff ab. Wöhrend sie darauf die Haltbarkeit einer Stuhllehne auf eine harte Probe stellte, durchzuckte sie der Verdacht, daß man ihr die Briefe — ihr Eigentum, an dem niemand sonst ein Recht hatte! — vielleicht überhaupt genommen. Sie stürzte an den Schreibtisch — die Schublade flog auf —: Gott sei Dank, nein! Da lagen sie — diese albernen Dinger — mit ihrem roten Bändsen! Erst nachdem sie das corpus delicti mit bedeutender Rasanz in einen Winkel geschleudert, machte Hella Rüterbusch es genau so wie andre junge Mädchen, wenn sie nicht wissen, was sie in fassungsloser Zornstimmung anstellen sollen . . .

*           *           *

Ungefähr zur selben Stunde wurde die Angelegenheit der love-letters auch im Familienrate behandelt. Baron Woldemar von Rüterbusch-Hansen und sein jüngerer Bruder Rolf — ein breitschulteriger Hüne mit dem ernsten blonden Jörn Uhl-Typus — waren bereits im roten Dreß. Der Angeklagte, Fahnenjunker Edwin von Passow, trug den Dragonerwaffenrock mit aufgehakten Schößen. Er kaute verlegen an einer Zigarette, und sein sonst so durchtriebenes Jungensgesicht hatte den Ausdruck melancholischen Mißbehagens — nach und nach auch einiger Ungeduld.

„Aber Edwin —” beschwor ihn Frau von Passow nun schon zum dritten Male in dem zärtlichsten Tremolo eines besorgten Mutterherzens, „du mußt dir doch etwas dabei gedacht haben! Ich bitte dich! So rede doch —”

De Junker schaute noch angelegentlicher als bisher nach dem Hofe hinab, wo die aufgezäumten Pferde bereits herumgeführt wurden.

„Was ist denn da noch zu reen!” stieß er endlich hervor. „Onkel Rolf hat ja die Sache bereits erörtert — und in einer Form, wie ich sie mir als angehender Offizier wohl von keinem andern gefallen lassen dürfte!”

„Es ist dein Glück, mein Jungen, daß du deine Mannesseele bezwungen hast!” grollte der Zitierte. „Im übrigen bist du in Formfragen nicht kompetent. Wenn du so weit wärst, dann müßtest du wissen, daß es in hohem Grade ungehörig ist, sich mit seiner Mutter und älteren Angehörigen über die Schulter hinweg zu unterhalten. Also mal dalli Front 'n bißchen! Sonst kehre ich deinen gewesenen Rittmeister heraus und hol' dich herum!”

„Aber Rolf —!” rief Frau von Passow ängstlich und verletzt in ihrem Sohne. Letzterer hatte die gewünschte Frontbewegung, wenn auch zögernd, ausgeführt. Mit seinem früheren Rittmeister war eben nicht zu spaßen. Das wußte er ganz genau.

Frau von Passow hatte sich erhoben und beschwichtigend die Hand ihres Einzigen ergriffen.

„Sage mir nur eins, Edwin: Liebst du denn Hella?”

„Weshalb soll ich se denn nich lieben!”

Rolf Rüterbusch lachte hart auf.

„Na gewiß doch! Für den königlichen Dienst hat er nie eine besondere Leidenschaft gehabt — Pralinés mag er auch keine mehr — also weshalb soll er se nich lieben!”

„Bester Rolf, ich — die Mutter spricht jetzt mit ihrem Sohne,” bemerkte Frau von Passow steif und hoheitsvoll. Und wie zur Bekräftigung dessen wandte sie sich sofort wieder an ihren maßlos gereizten Filius. „Du weißt, daß ich keinen andern Gedanken habe als dein Glück, mein lieber Sohn. Und deshalb frage ich dich: hast du dir das auch überlegt? Sieh mal — seit unser lieber Papa dahingegangen, sind wir auf die opfervolle Güte Onkel Woldemars angewiesen —”

Der Majoratsherr, der bisher hinter seiner Morgenzeitung geschwiegen hatte — geschwiegen mit der behaglichen Ruhe eines Mannes, der sehr viel fremden Streit aushalten kann —, dankte für die ehrenvolle Erwähnung mit einer Verbeugung. Dann kniffte er die Zeitung um und vertiefte sich weiter in deren Inhalt.

„Genau dasselbe ist bei Hella der Fall,” fuhr Frau von Passow eindringlich fort. „Sie besitzt nicht einen Pfennig eigenes Vermögen, und außerdem —”

„Also schön!” rief der in seiner Feuerseele gekränkte Fähnrich, indem er sich von der Mutter loszappelte und die langen Arme wild emporwarf. „Dann lieb ich se meinetwegen nich! Herrgott, wie kann man so'n Sums aufstellen wegen ein paar lumpiger Schreibebriefe! Gedichte hat doch mal jeder gemacht, nicht wahr! Na und wenn man schon welche macht, will man sie doch auch irgendwo unterbringen! Ist denn da was bei!? Wenn ich nicht mal meiner leibhaftigen Cousine ein paar Versche schicken kann — wem soll ich denn welche schicken! Hella hat mir bei meinem letzten Urlaub gesagt, daß es hier zum Auswachsen sei, daß Onkel Rolf immer gröber werde — jawohl, das hat sie gesagt! — und daß sie sich kreuzunglücklich fühle. Da habe ich mir gedacht, es würde sie aufheitern, wenn ich mal 'n bißchen nett schriebe — und so! Jetzt wird da eine Kiste 'von gemacht, als wenn ich Kupferdraht gestohlen oder meinen Oberst erwürgt hätte! Das paßt mir nicht! Ich huste auf eure ganze Schnitzeljagd und reise ab! Mor'n!” — Raus war er.

„Woldemar —!” flehte Frau von Passow, indem sie die kummervoll gerungenen Hände dem Bruder über das Zeitungsblatt streckte. „Hast du kein Wort für ihn —”

„Hab' ich, Tinchen, hab' ich!” nickte der Schloßherr freundlich. „Lauf ihm mal nach und — zwei Worte nenne ihm inhaltsschwer: ,Zweihundert' und ,Em' — aber deutlich, Tinchen, sonst versteht der Bengel wieder Dahler. Auerdem soll er anblasen lassen, sobald die Klingelhofer und die von Baasdorf in Sicht sind.”

Frau von Passow drückte ihr Foulard an Mund, Nase und Augen und schwirrte hinter ihrem Sohne her.

Nachdem die Tür sich geschlossen, faltete Woldemar von Rüterbusch sein Blatt zusammen und angelte sich aus einem Blechkistchen eine Zigarette.

„Mein lieber Rolf —,” sagte er, indem er das duftende Kraut umständlich in Brand setzte und das Streichholz ausschlenkerte, „Kinder und Narren reden die Wahrheit — und der Jung hat uns die nach zwei Richtungen hin gegeigt. Erstens ist von der Chose viel zu viel hergemacht. Auf seiner Seite eine Kinderei, auf ihrer Seite so ungefährlich wie nur möglich. Oder glaubst du wirklich, daß der Fratz in Edwin Passowschen Verschen sein Herz entdeckt? Ich wundere mich bloß, daß sie mir von dem Gemalme noch nichts vorgelesen hat —”

„Ein Grund mehr, meine ich, die Sache doch nicht so leicht zu nehmen,” warf der andre ein, indem er, ohne aufzusehen, seine Zimmerpromenade fortsetzte. „Das eigenartige Wesen des Mädels und deine Verantwortlichkeit erheischen besondere Vorsicht!”

„Und Rücksicht vor allem, mein Lieber, — Rücksicht! Da wir gerade davon sprechen, möchte ich dir meine Ansicht nicht vorenthalten, daß du die kleine Deern doch recht lieblos behandelst. Edwin hat dir das ja ebenfalls mit erfreulicher Courage aufs Butterbrot geschmiert. Und in der Tat — wenn auch das Mädel dem ganzen Wesen nach einen handlichen Jungen abgegeben hätte, so ist es doch immerhin ein Mädel und kein kaschubischer Rekrut, der nur mit Buff und Knurr zu meistern ist. Dabei will ich mich selbst keineswegs rein waschen. Ich bin eine ganz unpädagogische Natur, die speziell von Mädchenerziehung so viel versteht wie der Esel vom Harfe spielen. Es ist überhaupt ein Elend, mein Lieber! Zwei verbissene Junggesellen wie wir — dann die Tine, bei der jeder Gedanke Edwin heißt, — und schließlich diese Spinatwachtel von Miß, die immer ein Gesicht macht, als wenn sie sich selber nicht gut wäre! Da lebt nun so'n armes Wurm mitten mang. Das ist seine Welt! Kannst du's ihr verdenken, wenn sie widerborstig wird in dem Milieu? Ich nicht.”

„Na, ich gehe ja morgen. Vielleicht wird es dann besser.”

Woldemar Rüterbusch hob die Schultern und ließ sie dann mit einem leichten Seufzer sinken.

„Kann sein, kann auch nicht sein. Du bist der einzige, dem sie wenigstens zur Not mal pariert — früher wenigstens; in den letzten Monaten auch nicht mehr. Da ist der Fratz überhaupt vollständig aus der Tüte! Das rührt seit deinem Geburtstag her — ich glaube mich genau zu erinnern. Die dicke Komteß Kernwart hatte dir in der Sektlaune einen Kuß aufgeschmatzt. Ihr Bruder verlangte dafür als Familien­entschädigung einen solchen von Hella. Es war so übermütig fidel; wir redeten ihr alle zu, und du kommandiertest. Aber ich denk', sie mordet den Menschen! Schlägt ihm die Handschuhe in die Augen und verläßt das Lokal.”

„War auch nicht richtig danmals —”

„Unsinn! Im engen Kreise. Sind doch schließlich mehr oder minder verwandt mit all den Leuten. Tine meinte, das wäre wegen des Nemerower Selbitz gewesen, den Hella zum Tischherrn hatte und mit dem sie sich ganz manierlich unterhalten. Ich glaube aber gerade deshalb nicht, daß sie sich besonders für ihn interessiert. Eher für Fritz Hankau, der neulich den famosen Hürdensprung machte und ihr den ,Waldvogel' zugeritten hat. Sie hat ihm rein den Arm aus dem Gelenk geschüttelt. Dann fällt mir eben ein — der Zweitälteste von den Reichenhofens wäre auch ein Mann! Oder der Assessor von Schädler. Von dem sagte sie noch gestern, er wäre zwar ein bißchen ,ehtepethete', aber sonst ein ,netter Knopp'. Das will doch schon was sagen! — Ja, du läufst herum, schüttelst den Kopf und machst ein grimmiges Gesicht! Damit ist es doch nicht getan, mein Gutster! Du schiebst morgen ab und ich kann mit der Spinatwachtel weitererziehen. Das geht nicht. Der Fratz muß heiraten! Und zwar werde ich mir daraufhin schon heute das Feld ein wenig ansehen. Es müßte doch mit dem Teufel zugehen, wenn ich da nicht auf eine Fährte komme.”

*           *           *

Hella Rüterbusch hatte es mit indianerhafter Geschicklichkeit einzurichten gewußt, daß sie ziemlich unbemerkt zu Pferde kam. Sie hatte das aus drei Gründen angestrebt: Einmal ihrer verheulten Augen wegen, die sie gräßlich genierten; dann wegen der Briefe, die ja oben nicht mehr sicher waren und ihr in der Tasche brannten, und vor allem des — jenes Menschen wegen,der imstande war, ihr vor Gott weiß wem die Leviten zu lesen.

Der Master war abgeritten, die Meute entlassen. Den Moment, wo das Feld sich über die Chaussee und die Wiesen entlang ausbreitete, hatte sie abgepaßt. Dann war sie seitlich abgebogen, um an der Meierei vorbei den Waldweg zu gewinnen. Hier fühlte sie sich geborgen.

Sie atmete tief auf und strich die Haare von den Schläfen fester unter das Sammetmützchen. Dann setzte sie sich bequem und dachte nach, was unter den obwaltenden Umständen für sie nun eigentlich zu tun sei.

Die Gedanken gingen ihr kraus genug durch das Köpfchen. Zwischen allerhand Schabernacks, die sie der Miß noch spielen konnte und spielen mußte — wenn es übrhaupt eine Gerechtigkeit auf der Welt gab —, kam sie auf den ihr neuerdings besonders geläufigen Gedanken, tot zu sein, mausetot, mit weißen Blüten im Haar und auf der Brust. Wenn sie dann — natürlich nur ganz wenig und vorsichtig — aus dem rechten Winkel des linken Auges hervorzwinkerte, würde sie sehen, wie die andern sich härmten. Und das wäre ihnen recht! Weshalb waren sie so. Onkel Woldemar würde sie wahrscheinlich ins Ohrläppchen ziepen, wie er das immer tat, und ein paarmal ganz traurig ,Fratz' sagen; Edwin würde sein dämlichstes Gesicht und nachher ein Gedicht machen, wobei ihm Tante Passow egal ganz trostreich über den Krisel streichen würde. Na und der andre — der würde zunächst mal spionieren, ob irgendwo ein Haken nicht geschlossen ist, und dann losbölken. Dann würde sie sich aber ganz gewiß auf die andre Seite umkehren und mit tiefer Grabesstimme sagen: Du kannst mir jetzt den Buckel 'naufsteigen! Ich bin tot — und für dich noch töter!

Hella Rüterbusch lachte laut auf. Aber es war ein eigenes Lachen, das so klang, als wenn Tränen dazu gehörten. Und es waren auch wirklich welche da. Nur zwei allerdings. Dafür aber ganz große funkelnde Tropfen. Der eine perlte auf den roten Frack, den andern ließ sie nicht soweit kommen — sie holte ihn ärgerlich mit dem Handschuh von der Wimper.

Plötzlich schrak sie derart zusammen, daß der ,Waldvogel' sich auf die Hinterhand stellte. Sie hatte es ganz deutlich gehört:

„Hella —!!”

Ein Blick nach rückwärts — in derselben Sekunde erhielt der Gaul die Peitsche, daß er zunächst wie unsinnig hinten und vorn auskeilte, um dann mit gespannten Nüstern wie ein Pfeil davonzuschießen.

Er —! Was wollte er! Sie zur Rede stellen — was sonst! Natürlich — er konnte die Zeit nicht erwarten, bis er sie wieder gescholten und gedemütigt! Und die Briefe! Allmächtiger Gott — wenn er wußte, daß sie sie bei sich trug — er würde sie verlangen! Ja, er war imstande, sie ihr mit Gewalt zu nehmen! — Das nicht! Nur das nicht!

Mit Sporn und Druck brachte sie das Pferd in eine Pace, die fürs erste nicht zu überholen war. Dann nahm sie die Peitsche zwischen die Zähne, die Zügel in die Linke, und mit der Rechten suchte sie das Paket aus der Tasche zu holen. Das war schwer — aber es gelang. Endlich!

Fortwerfen? Nein. Er würde es aufnehmen. Sicher! Also Stück für Stück. Sie klemmte das Bündel unter den Arm und riß kleine Fetzen davon ab, soviel sie fassen und in dieser schwierigen Haltung mit einem Male loskriegen konnte. Das schaffte zunächst wenig. Allmählich aber bekam sie Uebung. Die Schnitzel stoben wie Flocken hinter ihr her und rieselten auf den Weg.

Der ,Waldvogel' hielt sich fabelhaft. Aber sie selbst ließ allmählich nach — das fühlte sie mit heißaufquellender Erbitterung. Die Hilfen waren matt und wurden immer schwächer. Sie ritt gegen den Wind, und dieser schnitt ihr in die Augen. Dazu ein atembeklemmendes Stechen in der Brust. In ihren Ohren klang und summte es wie die anschwellenden Akkorde einer Aeolsharfe. Lange konnte sie es nicht mehr machen — namentlich bei dieser fieberhaften Vernichtungsarbeit, die sie gleichzeitig zu besorgen hatte.

Glücklicherweise war sie damit zu Ende — eben! Mit einem hellen Schrei warf sie die letzten Fetzen in die Luft, just als sie einer mannshohen Koppeleinzäunung sich näherte. Der Arm war frei und vor allem die rechte Hand. So sehr die Finger auch schmerzten von dem Zerren und Zupfen, gab ihr die freiere Bewegung doch wieder ein gewisses Kraftgefühl. Außerdem stachelte sie ein Ruf hinter ihr auf — ein unartikulierter wilder, angstvoller Ruf, der die Mitte hielt zwischen Keuchen und Brüllen.

Sie nahm die Gerte aus dem Munde — und ein pfeifender Hieb peitschte den ausgepumpten Gaul zum Sprunge. Der ,Waldvogel' nahm die unsinnige Zumutung an — aber zu kurz. Ein dumpfes Brechen — ein Poltern und Kollern . . . Die Baroneß hatte das Empfinden eines tiefen Falles in lichter, flammender Umgebung. Dann sprangen rote Flecke aus der dröhnenden Erde — immer mehr und mehr —, und einer von ihnen legte sich über ihren schmerzenden Kopf. Da war ihr gut. Sie sah sich tot, mausetot, mit weißen Blüten im Haar und auf der Brust . . .

Hinter Rolf war auch ein großer Teil des roten Feldes herangeprescht. Von der Chaussee her hatte man nicht den Master, sondern jene falsche Spur verfolgt, die Hellas Schnitzel gegeben. So geschah es, daß Woldemar Rüterbusch, der kleine Passow und noch vier, fünf andre der Jagdteilnehmer gerade recht kamen, um den wahnwitzigen Sprung mitanzusehen — und dann die befremdliche Art, in der der jüngere Oheim sich um seine Nichte bemühte. Befremdlich insofern, da Küsse nicht zu den Vorschriften gehören, die man als ,erste Hilfe bei Unglücksfällen' zu beachten hat.

Sie schienen aber sehr gut zu tun in diesem Falle. Die bleichen Wangen der Kleinen röteten sich — und nun erst ließ sich Rolf auf die ihn bestürmenden Fragen vernehmen.

„Gott dem Herrn sei Dank! Sie atmet, sie lebt! Nur eine leichte Kontusion am Kopf —”

Das war wie ein Schluchzen und Jauchzen zugleich — was sich wiederum befremdlich machte bei einem sonst so rauhen und empfindungslosen Menschen.

Auf dem jovialen Gesichte des älteren Bruders aber malte sich eine Welt von Begreifen. Er pfiff leise durch die Zähne und nickte ebenso zufrieden wie verständnisvoll vor sich hin: ,Ich hab's doch gesagt, daß ich heute noch auf eine Fährte kommen würde — und nun sogar durch eine falsche auf die richtige!'

Hella Rüterbusch zwinkerte ein wenig und ganz vorsichtig aus dem rechten Winkel des linken Auges hervor. Onkel Woldemar ziepte sie richtig am Ohrläppchen und sagte ein paarmal ,Fratz' — aber so lieb, wie sie das noch nie von ihm gehört hatte. Edwin hatte einige der umherliegenden größeren Fetzen aufgenommen — und machte dabei tatsächlich sein dämlichstes Gesicht. Na und der andre —?

Da er sie an sich gedrückt hielt, konnte sie sich beim besten Willen nicht umkehren. Und daß er ihr den Buckel 'naufsteigen solle, konnte sie auch nicht sagen, weil er ihr eben wieder den Mund verschloß. Deshalb ließ sie es dabei bewenden und kuschelte sich fester an seine Brust.

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