Das erlösende Wort

Humoreske von Teo von Torn.
in: „Leipziger Tageblatt” vom 03.12.1902,
in: „Rostocker Anzeiger” vom 07.12.1902,
in: „Plöner Wochenblatt” vom 12.03.1903,
in: „Neues Wiener Journal” vom 24.06.1906,
in: „Nachrichten-Herold” vom 23.05.1907,
in: „Tägliches Cincinnattier Volksblatt” vom 19.07.1917,
in: „New Ulm(Minn.) Post, Sonntagsbeilage” vom 24.08.1917


Wenn Jemand Frau Milli Plehwe gesehen hätte, wie sie da saß — die schlanken Arme aus dem wirren Spitzenwerk des Negligees weit auf den Tisch gestreckt, die blauen feuchtschimmernden Augen starr auf die gefalteten Händchen gerichtet — der hätte geschworen, daß Frau Milli Plehwe betete.

Aber das war nicht der Fall. Der kleine Mund mit der ein wenig eigensinnig aufgesetzten Oberlippe murmelte allerdings Etwas — unaufhörlich, ohne Ermüden und nur mit jenen Unterbrechungen von Secunden, die das rothe spitzige Zünglein brauchte, um die trockenen Lippen wieder geschmeidig zu machen. Sonst murmelte sie immer weiter und nur das Eine:

„Schock — Bomben — Millionen — Donnerwetter . . .”

Wen das etwas befremden sollte, der weiß eben nicht, was vor einer Stunde in dem mollig warmen, funkelnagelneuen Nestchen des Assessor Plehwe'schen Ehepaares unter der von grüngoldenen Fransen umschatteten Hängelampe und im Angesichte eines noch nicht berührten Abendessens sich abgespielt hatte.

Er war fürchterlich gewesen dieser erste Krach. Mit einem ganz leichten Geplänkel hatte er angefangen. Ein drolliges Schneeballen mit Worten. Ohne daß man es wollte und zunächst auch nur merkte, waren die Würfe heftiger geworden. Schließlich wurden es Vorwürfe, die nach und nach zu Wortlawinen anwuchsen und mit immer größerer Wucht einer Katastrophe entgegenrollten.

Nach einem besonders empfindlichen Angriffe seiner kleinen Frau versagte plötzlich die bei aller Erregung bisher noch festgehaltene juristische Logik und Ueberlegenheit: der Assessor Gerd Plehwe sprang so heftig auf, daß der schwere Eichenstuhl hintenüber schlug; dann holte er tief Athem — und wie ein Kasernen­hof­orkan dröhnte es durch das Stübchen:

„Schock — Bomben — Millionen — Donnerwetter!”

Der Rest ging unter dem Schmettern der zugeschlagenen Thür verloren — und mit dem letzten leise verklingenden Nachklirren der Gläser im Büffetschrank, mit dem Nachzucken der Nerven in Frau Milli Plehwes zornrothem Gesichtchen war die Sonnenseligkeit der Flitterwochen zu Ende.

Es war überhaupt Alles zu Ende . . . .

Das war ihr erster lähmender Gedanke gewesen, als sie sich allein gesehen. Zum ersten Male in diesen vier Monaten und an diesem Tische allein. Eine furchtbare Leere gähnte um sie herum. Alle die vertrauten Gegenstände, die die trübbrennende Lampe beschien, nahmen sich mit einem Male kalt und gespenstisch fremd aus. Der silberne Affenkopf auf der Zuckerdose, den sie so drollig gefunden und über den sie Beide so oft gelacht hatten — Gott, wie weit lag das Alles hinter ihr! — schnitt die unausstehlichsten Grimassen. Das behagliche Summen und Singen der Theemaschine zerrte an ihren Nerven; aber als sie mit einer müden Bewegung das blaue Flämmchen erstickt hatte, erschrak sie; denn es war nun noch stiller geworden und es überschlich sie das herzkrampfende Wehgefühl, die Trennung nun auch ihrerseits besiegelt zu haben.

Und weshalb das Alles? Weshalb? Wie war das Schreckliche gekommen —?

Angefangen hatte es damit, daß er schon zur Ressource gekleidet à quatre épingles sich zu Tisch gesetzt hatte. Sie noch nicht. Er hatte etwas von gewohnheitsmäßiger Verspätung gesagt. Sie hatte erwidert, daß sie auch schon fertig sein würde, wenn sie nur einen Frack und eine weiße Halsbinde anzulegen hätte. Darauf er, sie wolle sich wohl heute ganz besonders schön machen, weil sie in dem albernen Einacter des noch alberneren Dichterlings mitmime, der ihr in so unverfrorener Weise den Hof mache. Darauf sie: Der Baron von Rauten sei durchaus nicht albern; er stoße zwar ein Bischen mit der Zunge an, dafür aber habe sein Gedichtband „Im Spiel der Mücken” einen kolossalen Eindruck gemacht — und zwar einen unvergleichlich tieferen als beispielsweise die jüngste Verteidigungsrede des Herrn Assessors Gerd Plehwe.

Was dann hinüber und herüber geschwirrt war, das wußte die kleine Frau nicht mehr wörtlich — aber es war fürchterlich aufregend gewesen. Und der Schluß! Der entsetzliche Schluß!

Sie wurde diese massiven, bleischweren, häßlichen Worte nicht mehr los. Der kleine Mund mit der ein wenig eigensinnig aufgesetzten Oberlippe murmelte sie unaufhörlich, ohne Ermüden und nur mit jenen Unterbrechungen von Secunden, die das rothe spitzige Zünglein brauchte, um die trockenen Lippen wieder geschmeidig zu machen — —

Und als die Zofe mit der Meldung eintrat, daß es für die gnädige Frau die allerhöchste Zeit sei, sich zur Ressource anzukleiden, prallte das Mädchen erschrocken gegen die Thür, denn die sonst so zarte und ätherische Frau Assessor hatte laut und vernehmlich gesagt:

„Schock — Bomben — Millionen — Donnerwetter!”

*           *           *

Eine der beliebtesten Unterhaltungenin einer kleinen Stadt und speciell auf einer Honoratioren-Ressource ist das Wundern. Man wundert sich über Alle und Alles. Die Frau Steuerrath wundert sich, daß Oberamtsrichters Lotte noch in demselben meergrünen Fähnchen auf Gesellschaft geht, das sie in der vorigen Saison schon zweimal angehabt; durch zwei Volants wird ein häßliches Kleid nicht neuer und nicht schöner. Noch verwunderlicher aber sei es, daß Postdirectors den tiefen Halsausschnitt ihrer Liese und deren unerhörtes Herumtändeln mit dem Supernumerar Rothe duldeten. Frau Oberlehrer Klein wunderte sich über die neue Brillantbroche der Frau Fabrikbesitzerin — wo man doch wußte, wie es mit der berühmten Fabrik stand! Sie tuschelte das der Frau Professor Oberding zu — und nun wunderten sich Beide gemeinsam.

Ganz allgemein aber wunderte man sich, daß der jungverheirathete Gerichtsassessor Gerd Plehwe genau zwei Stunden früher auf der Ressource war als seine Frau. Und die Verwunderung stieg noch, als er auf die vielen tact- und teilnahmsvollen Fragen theils ausweichend, theils direct grob antwortete — so zum Beispiel dem allgemein beliebten Baron von Rauten. Das Wundern erreichte aber seinen Culmunationspunkt, als die Frau Assessor endlich kam und von ihrem Gatten so gut wie gar keine Notiz, vielmehr sofort den Arm des Barons nahm, um sich von ihm hinter die Bühne führen zu lassen, wo die anderen Mitwirkenden bereits ungeduldig ihrer respectiven Triumphe harrten.

Des Wunderns wäre überhaupt kein Ende gewesen, wenn die nun beginnende Vorstellung das Interesse nicht doch etwas abgelenkt hätte.

Assessor Plehwe folgte den Vorgängen auf der Bühne zunächst nur mit einer ganz äußerlichen Aufmerksamkeit. Er befand sich in einer Stimmung, in der der Mensch das zwingende Bedürfniß hat, sich in die Hacken zu beißen. Blutete ihm schon längst das Herz ob der unsinnigen Zankerei, so war er ganz besonders trostlos über die Ungeschicklichkeit, mit der er seine erste Ehedifferenz vor den Schnüffelnasen und süffisanten Frageaugen dieser Krähwinkler enthüllt.

War das nöthig gewesen? Mit Nichten. Er hätte nicht hergehen dürfen ohne seine Frau. Er hätte überhaupt das mollige Stübchen mit der von grüngoldenen Fransen umschatteten Hängelampe nicht verlassen dürfen, ohne das Kribbel­köpfchen mit beiden Händen zu fassen und herzhaft abzuküssen. Ihr Zorn hätte sich dann schon gegeben — und der seine auch.

Nun sprach sie da oben ihre süßen Liebesworte zu einem Andern, zu diesem pflaumenweichen Dichterjüngling mit der Lispelzunge und der Feuerseele. Was sie sprach, verstand er gar nicht einmal. Er hörte nur den weichen, einschmeichelnden Ton, das leidenschaftliche Vibriren in der Stimme — und das für einen Andern!

Wenn es auch nur eine Comödie war, so war es doch zum Rasendwerden!

In den bitteren Aerger mischte sich ein schmerzhaft melancholisches Gefühl der Verlassenheit, das sich mehr und mehr vertiefte und ihm schließlich sogar das heiße Wasser in die Augen trieb. Dazu ein Gefühl der Ohnmacht. Ihm war, als wenn er allein auf einer wüsten Insel stände — durch all diese Menschen wie durch eine brodelnde abgründige Tiefe von seinem Weibe getrennt. Sie war unerreichbar weit von ihm — ganz weit drüben auf einem hellen sonnigen Ufer, wo sie mit keinem Gedanken mehr an ihn dachte, nicht an das lauschige Stübchen daheim, an die Hängelampe mit den grüngoldenen Fransen, an das stehengebliebene Abendbrod, an die betrübte Seele und den nachgerade mächtig knurrenden Magen des ihr vor Gott und den Menschen angetrauten Gatten.

Aber im Grunde konnte es ja auch gar nicht anders sein. Er verdiente es nicht besser. Eine rauhe Natur wie er, ein nüchterner Mensch der Praxis — wie hatte er ein so zartes, poetisches und sensibles Wesen an sein Leben ketten können! Sie mußte sich ja kreuzunglücklich bei ihm fühlen — und nach jenem brutalen Abgang war ein innerer Bruch so gut wie gewiß. Er begriff überhaupt nicht, wie er sich soweit hatte vergessen können.

Jedoch selbst in diesem grauen Stadium der Selbstanklage beobachtete er die Vorgänge auf der Bühne mit zunehmender Gereiztheit. Das Stück ging zu Ende und Gerd Plehwes Geduld auch. Am Schluß, „als sie sich kriegten”, lehnte Frau Milli ihr Köpfchen hingebungsvoll an die Schulter des Barons, dieser legte seinen Arm um ihre Taille und —

Des Assessors Zähneknirschen ging in dem stürmischen Beifall, der das Fallen des Vorhanges begleitete, unter. Gerd Plehwe drängte sich wie ein Wilder durch die Menschenmassen, um den „Buben” und die Ungetreue, die sich wahr und wahrhaftig hatte küssen lassen, zur Rechenschaft zu ziehen. Er konnte nur langsam durchdringen. Ueberall stellte man sich ihm entgegen und beglückwünschte ihn mit mehr oder minder Niederträchtigkeit zu dem wundervollen und überaus natürlichen Spiel seiner Gattin. Er hätte einen Massenmord anrichten mögen unter dieser tückischen Bande. Aber zuerst die Beiden. Die Beiden!

Als der Assessor den an die Bühne grenzenden Nebenraum betrat, hatten sich die andern Mitwirkenden schon im Saale zerstreut — nur die Beiden nicht.

Trotzdem drang Gred Plehwe nicht mit gezücktem Dolche in die Coulisse. Die Stimme der Gattin fesselte seinen Fuß an die Schwelle. Diese Stimme flötete und säuselte nicht mehr — sie war deutlich und unpoetisch wie ein handlicher Spazierstock und schloß eben mit der Wendung:

„Also lassen Sie sich das gesagt sein, Sie alberner Mensch! Und wenn Sie es wagen, auch nur ein einziges Wort an mich zu richten, so soll Sie ein Schock — Bomben — Millionen — Donnerwetter — — —”

„— frikassiren!” ergänzte der Assessor vergnügt, indem er auf die Bühne trat.

Er sah nur noch die fliehenden Rockschöße des Barons und zwei zärtliche blaue Augen dicht vor seinem Gesicht. Frau Milli legte die Arme fest um den Hals ihres Gatten und sagte;

„Ach Du — was ist das schön, wenn man so ein erlösendes Wort bei der Hand hat!”

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In den Textfassungen aus Cincinnatti und New Ulm heißen die beiden Hauptpersonen „Milli und Gerd Prowe”.

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