Der Alteleute-Weg.

Skizze von Teo von Torn.
in: „Neues Wiener Journal” vom 20.04.1900 und
in: „Kieler Zeitung” vom 21.04.1900


Hinter der Schleuse, den schmalen Fußsteg rechts hinab und dann am Kanal entlang — das war der Alteleute-Weg. Weshalb man ihn so nannte, wußte eigentlich Niemand. Solange das Wasser offen und fahrbar war, keuchte jenes menschliche Lastvieh den Weg einher, das die Treidelarbeit der Bootsknechte vom Ufer her unterstützte. Während diese mit den Schultern suf den Stangen lagen und langsam, Schritt für Schritt, die großen Oderkähne zur Schleuse schoben, hingen die Schlepper am Lande in ihren breiten ledernen Sielen, an deren eisernen Ringen das lange Seil schwankte, mit dem sie vor den in halber Masthöhe befindlichen Flaschenzug gespannt waren. Weit vornübergebeugt, so daß die schlaff herabhängenden Arme fast den Boden berührten, stapften sie sie ganz langsam in dem tiefen Morast einher.

Wenn die Frühlingssonne den Schmutz aufgetrocknet hatte und die Schifffahrt in vollem Umfange wieder aufgenommen war, dann wurde es freundlicher und lebhafter auf dem Alteleute-Weg. Kinder tobten und kreischten ihre Spiele, die Frauen spülten ihre Wäsche im Kanalwasser und plauderten mit den Schifferinnen, die das plumpe Steuer der langsam vorüberziehenden Kähne führten. Dann Spaziergänger mit neugierigen Frühjahrs-Gesichtern. An den Häuschen, die den Weg auf der Landseite bis zu den Torfwiesen flankirten, öffneten sich die morschen Läden und Bimmel-Thüren für den sommerlichen Betrieb in Schiffbedarf-Artikeln, dem hier jeder Anwohner oblag. Der alte Quasebarth entfernte aus seinem bläulich-blinden Schaufenster die kunstvoll aufgebaute Pyramide von Cichorienpacketen, die Zimmtstangen, das Johannisbrot und die Teller mit den verstaubten Fadennudeln und der Bruchschokolade. An deren Stelle traten zwei überlebensgroße Flaschen mit vielversprechender bunter Flüssigkeit und zwischen ihnen das von Fliegen arg punktirte Plakat — einen Weißbierphilister darstellend,der mit allen äußeren Merkmalen verhimmelnden Entzückens an dem goldblonden Naß sich labte. Der alte Quasebarth war eben ein Mann, der mit der Zeit mitging, und wenn er in dieser Weise zum Ausdruck gebracht, daß er den Schwerpunkt seines Betriebes aus der Kolonialbranche in die Schankwirthschaft lege, dann wußte ein Jeglicher: nun wars richtig mit dem Frühling!

Dann wurden auch die Hühner aus den Vorgärten gejagt. Nicht daß man auf den kleinen wüsten Krautfleckchen etwas vor ihnen zu schützen gehabt hätte. Was da wachsen wollte, wuchs auch ohne Schutz und Pflege. Aber es war so Herkommen auf dem Alteleute-Wege, daß die Hühner nur bis Mitte April vor den Häusern herumgackern durften; denn justament um dieselbe Zeit fingen die Männlein und Weiblein an, mehr im Freien zu leben. Die langen, theerduftenden Kähne stauten sich auf dem Wege zur Schleuse; dann kamen die Bootsleute an Land, um dies oder jenes einzuhandeln. Und Abends saß alles Volk vor den Thüren.

Bei Karl Quasebarth aber war die Börse. Wenn er bei beginnender Dämmerung die rothe Laterne über der engen Ladenthür anzündete und drinnen die zwischen abenteuerlichen Schiffsmodellen, Bindfaden-Knäueln und Bootshaken an der Decke baumelnde Thranfunzel — dann kamen die Geschäftsleute des Alteleute-Weges mit ihren kurzen Pfeifen und in Holzpantinen barhaupt angeschlurrt und füllten den niedrigen Raum mit beizendem Tabaksqualm und ihrem harten, märkischen Platt.

Viele saßen auch im Vorgarten bei ihrer Weißen — aber eigentlich erst, wenn der alte Listow sich angefunden hatte. Und das war in der guten Jahreszeit Tag für Tag, gleich nach Sonnenuntergang, sobald die glitzernden und schwirrenden Metallfäden, aus denen Peter Listow hinten auf den Torfwiesen die dicken Drahtseile zog, nicht mehr recht auseinandergehalten werden konnten. Dann kam er mit seinem „Schusterklavier”, einer uralten Zieh-Harmonika, die auf zwei Tasten „ff—t” machte, setzte sich auf seinen angestammten Platz, dicht unter dem Fenster von Karl Quasebarth's irrsinniger Schwester und spielte — stundenlang — bis tief in die Nacht hinein — — —

Das war seit Jahrzehnten so. Niemand wußte oder wollte es anders. Es hörte zwar eigentlich Niemand nach dem Alten hin; aber es wäre nicht das Rechte gewesen, kein rechtes Frühjahr und kein richtiger Sommer am Alteleute-Wege, wenn Abends die alten quäkenden Weisen aus Karl Quasebarth's Garten nicht über den Weg und das Wasser geklungen wären. Viele, die heute schon treidelten oder mit der kurzen Pfeife und in Holzpantinen barhaupt zur „Börse” schlurrten, und manche von den Frauen, die auf den Bänken und Treppenfliesen vor den Thüren Angelschnüre flochten oder ihre Kinder säugten, hatten als Kinder nach diesen Weisen sich in johlendem Reigen gedreht . . .

Es kam selten die Rede darauf. Hie und da aber wurde doch davon gesprochen, daß der alte Listow schon Zuchthaus gehabt hatte — zehn Jahre, wegen Mordes, Todtschlags oder dergleichen. Außer Karl Quasebarth, der darüber jedoch nie eine Silbe hatte verlauten lassen, wußte Niemand mehr so recht Genaues. Es war eben schon zu lange her, an vierzig Jahre mindestens. Wenn mal ein fremder Schiffer oder einer von den modischen Handlungsreisenden, welche, um Werg oder Ketten zu verkaufen, einen Abend bei Quasebarth sich einräuchern ließen, nach dem Alten fragte, dann sprach man eben davon — und mit einem gewissen Stolz, daß es auch was Ungewöhnliches, Interesantes gab am Alteleute-Wege.

Der alte Listow kümmerte sich dagegen um nichts und niemand. Er trank auch nicht; — wenn er spielte, nicht einen Tropfen. Im übrigen war er schon betrunken, wenn er kam. Er war überhaupt immer betrunken. Nicht, daß er torkelte oder Unfug anrichtete. Es war die stille selbstverständliche Trunkenheit eines Menschen, der garnicht anders kann, der einfach zu leben aufhören würde, wenn er nicht mehr trinken dürfte.

Nur die Nase deutete darauf hin und die schwimmenden, roth umränderten Augen. Sonst hielt er sich auffallend stramm und gerade für seine fünfundsiebzig Jahre, und der Kopf mit dem feinen silbernen Haar und dem gelbweißen Barte war der eines Patriarchen. So saß er allabendlich unter dem Fenster — dem einzigen auf dem Alteleute-Wege, das stets verhangen war und nie geöffnet wurde —, den Oberkörper und die Kniee in der seltsam zuckenden Bewegung, die das schwerfällige Instrument bedingte, den Kopf leicht geneigt und mit einem Gesichtsausdruck, als lauschte er auf etwas von weit her — ein fernes Klingen, ein altes Lied vielleicht, das sich in die abgehackten quäkenden Weisen seiner Harmonika mischte.

Die Männer tranken und plauderten dabei, und jenseits des wackeligen, von verstaubtem Gaisblatt umräucherten Zaunes drehten sich die Kinder kreischend im Reigen.

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Heuer war es seltsam und befremdlich da hinten am Kanal. Die Cichorien-Pyramide aus Quasebarth's Schaufenster war längst verschwunden und hatte dem gelben Fliegen-Plakat Platz gemacht — aber es war doch nicht richtig mit dem Frühling.

Es hatte noch Schnee gelegen, als man Quasebarth's Schwester, die verrückte Urschel, endlich hinausgetragen hatte. Endlich! Das sagten alle; selbst der Herr Pastor hatte es gesagt. Seit man ihr vor vierzig Jahren an ihrem Hochzeitstage den eben angetrauten Mann erschlagen, den Gottlieb Heese aus Freienwalde, der so wundervoll Harmonika gespielt, daß es fast wie eine Orgel klang, und seit die Urschel über dem Unglück den Verstand verloren, hatte sie doch wohl keine rechte Freude mehr am Leben gehabt, und da war es gut und tröstlich, daß der Herr sie endlich zu sich genommen.

Obwohl es dem alten Listow sowohl vom Kirchen- wie vom Gemeindevorstand unter Androhung von Polizeistrafen verboten war, auf dem Friedhofe zu musizieren, war er dennoch durch niemand zu bewegen, seinen angestammten Platz unter dem nun offenen Fenster wieder einzunehmen. Allabendlich saß er jetzt draußen, am Rande des Chausseegrabens, gegenüber dem Friedhofe — den Kopf leicht geneigt und mit einem Gesichtsausdruck, als lauschte er auf etwas von weit her — ein fernes Klingen, ein altes Lied vielleicht — — —

Auf dem Alteleute-Wege aber wollte es nicht Frühling werden.

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