Silvester-Humoreske von Teo von Torn
in: „Trierische Landeszeitung” vom 31.12.1906
Es gab nur wenige Tage im Jahre, an denen der Herr Senator Kulenkampf sich seiner Familie widmen konnte. Außer den Sonn- und christlichen Feiertagen nur in der sogenanntn Domzeit — jener Zeit zwischen Weihnachtsheiligabend und Neujahr —, die in den Hansestädten den Drehorgeln freigegeben ist, und in welcher der etwas steifleinene Bürgergeist leichte karnevalistische Anwandlungen bekommt.
Nicht etwa, daß auch der Chef der Firma A. Kulenkampf Söhne dieser Regung unterlag. Wer den würdigen alten Herrn mit dem unbewegten Diplomatengesicht und den kühlen Augen kannte, mußte eine solche Annahme weit zurückweisen. Nein, nein — die Domtage waren nur die Ferien des Herrn Senators. In dieser Zeit ruhte er aus von allen seinen Regierungs- und weitverzweigten anderen Geschäften. Es fanden keine Senats- und Bürgerschaftssitzungen statt. Die Häfen der russischen Ostseeprovinzen waren vereist, mithin der Handelsverkehr in Rohfellen, Salpeter und Oelkuchen unterbunden. Während er sonst bis gegen neun, in den „wilden” Monaten sogar bis zehn Uhr abends und noch später unten „im Kontor” war, lebte er in der genannten Zeit ausschließlich seiner Familie, — und zwar der engsten, die aus der wohlgerundeten Frau Senator und einem schlankgewachsenen, neunzehnjährigen Töchterchen bestand.
Es war ein stillschweigendes Uebereinkommen, daß in dieser Zeit auch alle gesellschaftlichen Beziehungen ruhten. Selbst innerhalb der Verwandtschaft. Und das mit gutem Grund. Die Kulenkampfs waren nicht nur eine angesehene, sondern auch eine sehr verzweigte Familie. Wenn man die M. J. Kulenkampfs sel. Witwe etwa zum heutigen Silvesterabend eingeladen hätte, dagegen die Christoph Kulenkampf u. Co. nicht, so konnten die letzteren das mit Recht übelnehmen. Und wenn man Christoph Kulenkampf u. Co. einlud, so mußten notgedrungen auch die Peter Kulenkampfs eingeladen werden, die Krafft Kulenkampfs, Kulenkampf u. Hartmann, Gebrüder Kulenkampf, Stockvis, Meyer u. Kulenkampf — überhaupt alle, und das hätte dann wieder eine Gesellschaft von annähernd hundert Köpfen gegeben.
In einer so ernsten Stunde, wie sie der Jahreswechsel für nachdenkliche Menschen mit sich bringt, blieb man lieber allein. Nicht einmal mit H. Kulenkampf Söhne, die nur ein paar Häuser entfernt wohnten und deren Chef ebenfalls Senator war, war man heute zusammen.
Das alte Jahr zog sich zum Abschied eine weiße Mütze über die Ohren. Bis in die tiefe Dämmerung hinein hatten der Herr Senator und Gemahlin am Fenster gesessen und dem wilden Flockentanz zugesehen. In dem Austausch von Erinnerungen aus der Vergangenheit und Plänen für die Zukunft waren sie durch nichts gestört worden — auch nicht durch den am äußeren Fensterrahmen angebrachten Spion, durch den die Frau Senator sonst gern die Straße ein bischen zu kontrollieren pflegte. Er war vollständig verschneit.
So hatte sie denn die nötige Sammlung gehabt für all die ernsten Dinge. Sie hatte es sogar gewagt, ihren Gemahl mit aller Vorsicht darauf hinzuweisen, daß Henny schon im September des zur Rüste gehenden Jahres neunzehn geworden und es nun wohl an der Zeit sei, eine geeignete Verbindung ins Auge zu fassen.
„Heinrich Kulenkampfs Henny ist um einen vollen Monat jünger als unsere Henny,” hatte sie gesagt. „Dennoch hat Heinrich Kulenkampf gelegentlich schon durchblicken lassen, daß er eine Partie anbahne —”
Da der Senator es sehr übel vermerkte, wenn man ihm „ins Geschäft redete” — d.h. in Dinge, die er der eigenen Entscheidung vorbehielt — so war es für die alte Dame eigentlich ein Glück, daß hier die Erörterung unterbrochen wurde.
Fräulein Henny war vom Eislauf am Hafen heimgekommen. Es wurde Licht angesteckt. Herr Artur Kulenkampf setzte sich mit den „Nachrichten” in seinen Lehnstuhl am Familientisch.
Um der Tochter das verdrossene Schweigen des Vaters nicht so fühlbar zu machen, fragte die Frau Senator mit etwas geschraubter Munterkeit:
„Nun — wie wars auf dem Eise? Hast Du Dich gut unterhalten —?” Aber schon nach dem ersten Blick auf ihr Kind rief sie besorgt: „Ja, um Gotteswillen, was hast Du denn! Fehlt Dir etwas? Du bist ganz verstört —” Auch der Alte schaute beunruhigt von seiner Zeitung auf.
Fräulein Henny saß auf einem Stuhl in der Nähe der Tür. Ohne das dick beschneite Pelzbarett, Muff und Kragen abzulegen, hatte sie sich dort niedergelassen, als wenn die Füße sie nicht mehr tragen wollten. Das von zerzaustem Blondhaar umrahmte Gesicht glühte, und die sonst so kühl blickenden Augen — ein Vatererbe — schauten unruhig und befangen, als sie sich auf den ersten Anruf des Vaters erhob.
„Der Dampfer „Sobotnik” ist im Außenhafen angekommen,” stieß sie mit raschem Atem hervor.
Der Senator nickte bedächtig.
„Das ist sehr gut, mein Kind,” sagte er in dem singenden Tone des Unterhanseaten. „Er hat also das Eis forziert. Nun, und —”
„Einige Passagiere sind mitgekommen —”
„Auch das ist nichts Ueberraschendes. Der „Sobotnik” bringt von Libau immer Passagiere.”
Henny Kulenkampf bohrte die Hände noch tiefer in den Muff. Ein flehender Blick traf die Mutter. Dann senkte sie den Kopf, wobei eine kleine Lawine auf den Muff und dann auf den zarten Damast der Tischdecke fiel. Trotz ihrer Besorgnis konnte die eigene Frau Senator dabei einen leisen Wehlaut nicht unterdrücken. Vorsichtig nahm sie der Tochter die nassen Sachen ab, und klingelte nach dem Dienstmädchen. So gewann Fräulein Henny Zeit, sich etwas zu sammeln.
„Einer der Passagiere — ein Herr — hat mich angesprochen und mich nach dem Wege gefragt — zu uns,” vollendete sie ihre Beichte.
„Zu wem —? A. Kulenkampf Söhne?”
„Ganz recht. Wie ich mich ihm als Tochter des Hauses zu erkennen gab, blieb er stehen und sah mich verdutzt an. Dann aber war er ganz aus dem Häuschen. Meine Hand wollte er gar nicht woeder freigeben. Immer wieder hat er sie gedrückt und — und — geküßt . . . . .”
„Das ist stark,” sagte der Senator, indem er den Oberkörper steif aufrichtete und die Zeitung aus der Hand legte. „Ein fremder Mensch — auf der Straße —?”
Die Frau Senator verschränkte die Arme unter der umfangreichen Taille und hauchte ebenfalls:
„Das ist stark!”
Dem jungen Mädchen schoß das Blut noch dunkler in die Wangen.
„Jawohl —” bestätigte es mit zuckenden Lippen. „Alle Menschen haben nach uns geschaut. Er hat sich aber nicht im geringsten geniert, sondern ganz laut gesprochen in seinem komischen Dialekt, dabei gelacht und sich gefreut. Es wäre „reizend”, dieses Zusammentreffen — er nehme das als eine gute „Vorbedeitung”. — ich hätte mich allerdings sehr verändert — aber ich wäre viel — viel schöner, als das ein Photograph machen könnte — und er wäre „furchtbarlich” glücklich, daß ich, gerade ich Fräulein Henny Kulenkampf wäre . . . . .”
„Ein Verrückter vielleicht —” sch rie die Mama.
„Oh nein,” versicherte Fräulein Henny mit großem Eifer. „er sah ganz vernünftig aus —
Der Rest dieser Erzählung fehlt. Es sind Bemühungen eingeleitet worden, eine vollständige Kopie dieser Erzählung von einer Bibliothek zu bekommen, die im Besitz der Trierischen Landeszeitung vom 31.12.1906 ist.
28.3.2020 D.Hrsgb.
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