Der schiele Venzke.

Humoreske von Teo von Torn.
(Vergleiche dazu auch die im Text sehr ähnliche Erzählung „Kranenpoot”.)
in: „Indiana Tribüne” vom 19.12.1906,
in: „Der deutsche Correspondent” vom 27.01.1907
(Die unterstrichenen Textteile sind nicht in der Indiana Tribüne enthalten.)


Für meinen alten Freund, den Forstmeister Kuhnert, gab es nur dreierlei, worüber er sich gelegentlich wunderte. Erstens, wenn seine hohe vorgesetzte Behörde wieder mal was Geschriebenes von ihm haben wollte; zweitens, wenn dem Tabakhändler in der Stadt — obwohl dieser für den alten Herrn schon die halbe Ernte von Schwedt und Umgegend aufzukaufen pflegte — die bestimmte Sorte Knaster abermals ausgegangen war; und drittens über den schielen Venzke.

Namentlich über den!

Wenn im Dorfe, wo der Forstmeister auch die Befugnisse eines Amtsvorstehers auszuüben hatte, etwas abhanden gekommen war — der schiele Venzke. Wenn die Waldhüter auf ein Stück verludertes Wild stießen — der schiele Venzke. Wenn überhaupt irgend etwas passirte, das gegen Gesetz und öffentliche Ordnung ging — der schiele Venzke.

Sobald Gotthilf Kuhnert nur den Namen hörte, machte er das grimmigste Gesicht, dessen er überhaupt fähig war, und in das Pfeifenrohr hinein knurrte er das lästerlichste Wort, das man je von ihm gehört: „Den Kerl soll der Hahn pieken!”

Eines Morgens war der schiele Venzke in unzweideutiger Nähe einer Schlinge betroffen worden, in der eine Häsin sich gefangen und gewürgt [Indiana Tribüne: erwürgt] hatte. Die Schlinge, die Häsin, der schiele Venzke, der Revierförster und ich, der ich auf meiner morgendlichen Radtour just dazu gekommen war, [nicht in Indiana Tribüne] wanderten nach dem Amtshause. Während wir anderen — in Erwartung des hochnothpeinlichen Halsgerichts, das den Missethäter [Indiana Tribüne: Dorflumpen] nun endlich in aller Schwere treffen mußte — schweigsam einhergingen, hielt der schiele Venzke es für angebracht, uns zu unterhalten, indem er nämlich uns uzte — uzte mit der Sicherheit eines Menschen, der sich seiner überlegenen Position voll bewußt ist.

Das prägte sich auch in seiner Haltung aus, die zu den grotesken Lumpen, mit denen er behangen war, seltsam kontrastirte. Obwohl ein hoher Fünfziger, schritt er militärisch straff aufgerichtet, ohne den Kopf mit dem überraschend sorgfältig gekämmten Haupt- und Barthaar nach rechts oder links zu drehen. Nur wenn er glaubte sich eine besonders feine Anzüglichkeit geleistet zu haben, streifte uns ein tückisch-durchtriebener Seitenblick aus dem rechten schräg gestellten, krankhaft-weißlichen Auge. [nicht in Indiana Tribüne] Vor dem Forstmeister änderte sich diese Haltung nicht im Geringsten. Anstatt sich zu vertheidigen, gab er lediglich seinem Bedauern Ausdruck, daß die Einsichtslosigkeit und der Uebereifer gewisser Menschen den Herrn Forstmeister abermals mit einer solchen Lappalie behelligten.

Der alte Kuhnert hatte sich abgewandt und sog an seiner Pfeife, daß es dampfte und roch wie aus dem Schlot einer Kienäpfeldarre. Endlich trat er [nicht in Indiana Tribüne] dicht an den Strolch heran.

„Sagen Sie mal, Venzke — ist es denn gar nicht die Möglichkeit [Indiana Tribüne: Menschenmöglichkeit], daß Sie ein ordentlicher Mensch werden und eine ehrliche Erwerbsthätigkeit ergreifen?”

„Nein, Herr Forstmeister.”

Er sagte das nicht etwa frech oder herausfordernd, sondern ruhig, wie eine gefestigte, durch nichts zu erschütternde Ueberzeugung.

„Sehen Sie, Herr Forstmeister, wie kennen uns nun schon an die dreißig Jahre. Was soll sich da noch ändern? Bei dem Pech, das ich habe. Eine Erwerbsthätigkeit — du lieber Himmel! Vor sechsundzwanzig Jahren hatte ich einen Handel mit Uhrschlüsseln angefangen. Da kamen die Ankeruhren auf, und ich mußte mit meinem blühenden Geschäft in Konkurs gehen. Ich bin überzeugt, Herr Forstmeister, wenn ich auf meine alten Tage noch Sargtischler werden sollte, es würde kein Mensch mehr sterben. Seit ich das Unglück beim Militär gehabt habe, ist es eben mit mir vorbei. Meine Zukunft, die schönsten Hoffnungen meines Lebens sind damals zerstört worden. Andere habe ich nicht mehr — außer der einen noch, daß Sie mir auf die Aussage dieser jungen Leute hin keine Unannehmlichkeiten bereiten werden. Aber selbst [nicht in Indiana Tribüne] wenn Sie meine Schuld für erwiesen annehmen wollten, Herr Forstmeister;” — hier zog er die Brauen hoch und verfiel in einen bedeutungsvollen Ton — „so wissen Sie selbst, daß kein Mensch frei ist von Fehlern [Indiana Tribüne: Fehl] und daß —”

„Dich soll der Hahn pieken!” schalt der alte Herr, indem er den Strolch geflissentlich unterbrach. Dann strich er mit dem Pfeifenmundstück den Schnauzbart von den Lippen und wandte sich an uns [nicht in Indiana Tribüne].

„Haben Sie denn gesehen, meine Herren, daß der Mann die Schlinge gelegt oder an dem verluderten Wild sich zu schaffen gemacht hat?”

„Das grade nicht,” entgegnete der Förster, „er stand etwa fünf Schritte abseits, aber —”

„Hm — fünf Schritt [nicht in Indiana Tribüne]. Darauf [Indiana Tribüne: Dann] kann man den Mann eigentlich nicht recht fassen.”

„Das meine ich doch auch!” nickte der schiele Venzke zustimmend. „Meine Meinung ist die, Herr Forstmeister: Die Häsin hat Liebeskummer gehabt und [nicht in Indiana Tribüne, dafür: wird] sich aus Verzweiflung aufgehangen [nur in Imdiana Tribüne: haben].”

„Halten Sie den Schnabel! Der Hahn soll Sie pieken! — [nicht in Indiana Tribüne] Sagen Sie meine Herren, bewegte sich denn der Mann in der Richtung von oder nach der betreffenden Stelle?”

„Das grade nicht. Er stand still. Aber —”

„Hm, hm — na, ich will Ihnen mal was sagen, Venzke: dieses eine Mal soll es Ihnen noch durchgehen. Erwische ich Sie jedoch wieder in einer solchen Situation, dann — dann fresse ich Sie roh! Verstehen Sie mich, Venzke!?”

Diese Redewendung, die noch Niemand von uns bei dem alten Herrn gehört, ebenso wenig wie den ernsten, gewitter-grollenden Ton, machte auf den Strolch einen besonderen Eindruck. Die lächelnde Zuversicht verließ ihn. Er sah verblüfft und befangen drein. Dann riß er die Knochen zusammen und legte die Hände an die Stelle, wo er mal früher eine Hosennaht gehabt hatte. [nicht in Indiana Tribüne]

„Zu Befehl, Herr Leutnant!” stieß er hervor.

Auf einen kurzen Wink des Forstmeisters machte der schiele Venzke eine tadellose Kehrtwendung und verließ das Lokal. Noch auf der Diele draußen hörte man, wie seine bloßen Füße in strammem Schritt auf die Fliesen klatschten. [nicht in Indiana Tribüne]

Alsdann [in Indiana Tribüne: Nun] entließ der alte Herr auch den Förster.

Es ist gut Warncke. [nicht in Indiana Tribüne] Mag der Haderlump diesmal noch laufen. Wenn die Jagd anfängt, ist er uns ohnehin sicher. Er wird dann wieder gleich für den ganzen Winter eingespunnt [In Indiana Tribüne: eingespinnt]. Damit ist ihm und uns gedient. Für's Erste wird er sich jetzt wohl etwas zusammennehmen. [nicht in Indiana Tribüne]”

Als der Förster gegangen war, wandte sich Gotthilf Kuhnert an mich.

Na, Doktor, Sie machen ja auch so'n Gesicht wie ein Fuchs, dem eine Ente aus dem Fang gegangen ist. Wundern [In Indiana Tribüne: Sie wundern] sich wohl, was?”

„Allerdings — ich bin einigermaßen [nicht in Indiana Tribüne] verblüfft.”

„Ja, lieber Freund,” sagte der Alte mit einem drollig ernsten Gesicht, „wer im Glashause sitzt, darf nicht mit Steinen schmeißen. Damit meine ich natürlich nicht Sie — obwohl Sie ja auch schon mal zur Schonzeit eine Ricke für einen Bock angesprochen haben, sondern mich selbst. Ich will Ihnen das auseinandersetzen und dann werden Sie begreifen, weshalb ich den unverbesserlichen Strolch immer noch ein bischen mit Schokolade begieße.” [nicht in Indiana Tribüne]

Der Forstmeister sog seine Pfeife in Brand und erzählte, indem er auf seinen kolossalen Filzparisern behaglich auf und abschlurrte [nicht in Indiana Tribüne].

„Der Kerl hat recht — es sind dreißig Jahre her — vielleicht noch ein paar Jährchen drüber. Ich hatte als Feldjäger den Dienst quittirt und [nicht in Indiana Tribüne] war als Oberleutnant bei den Ulanen eingetreten. Gleich im ersten Jahre kriegte ich einen Prachtkerl von Burschen — klug, anstellig, dabei Soldat mit Leib und Seele. Der Mensch hatte nur einen Fehler — es gab keinen Unfug, zu dem er nicht alleweil aufgelegt war. Passirte irgend etwas, worüber der Rittmeister tobte, die ganze übrige Schwadron aber sich scheckig lachte — Venzke! Infolgedessen flog er, obwohl er sonst wirklich ein guter Soldat war, alle Augenblicke in den Kasten. Dadurch ging er schließlich auch des Burschenbenefizes verlustig und mußte in die Front zurück. Ich weiß es noch, als wenn es gestern gewesen wäre, wie er sich von mir verabschiedete: „Es thut mir leid, Herr Leutnant, aber schließlich kann ich Ihnen ja nicht ewig am Frack baumeln. Ein Bursche ist auch nur ein halber Soldat, und ich will ein ganzer sein. Ich will kapituliren, Herr Leutnant!” Dabei leuchteten dem Kerl die Augen so stolz und zuversichtlich, daß ich anstatt des verdienten Anpfiffs ob seiner Ungebühr ihn mit guten Wünschen entließ. [nicht in Indiana Tribüne]Vierzehn Tage später gingen wir in die großen Manöver. Bei einer Attacke denk ich, ich sehe nicht richtig. Während die ganze Schwadron mit eingelegter Lanze galoppirt, ragt einer der bewimpelten Kitzelstöcke [in Indiana Tribüne: Ladestöcke] hoch in die Luft. Was war? Venzke mußte eine Extrawurst haben. [nicht in Indiana Tribüne] Venzke machte sich — fast unter den Augen des Kommandirenden — das Vergnügen, seine Lanze im Reiten auf der Nasenwurzel zu balanziren! — „Kerl, sind Sie wahnsinnig geworden!?” brüllte ich ihn an. Er ruckt [in Indiana Tribüne: zuckt] zusammen — ehe er aber noch den Lanzenstiel fassen konnte, rutschte er ab und ihm in's Auge.”

Der Forstmeister strich die gelb und braun gerauchten Lambrequins seines weißen Schnauzbartes auseinander und es klang wie ein Seufzer, als er dann fortfuhr: [nicht in Indiana Tribüne]

„Das Auge war futsch und damit auch Venzkes militärische Laufbahn. Und das hat er nicht verwunden. Von Stund an ist er ein Lump geworden. Und was für einer! Dennoch bekundete er der Schwadron und speziell mir eine gewisse Anhänglichkeit — eine allerdings, die, seinem verärgerten Wesen entsprechend, manchmal in Niedertracht sich äußerte. [nicht in Indiana Tribüne] Wenn ihn nicht gerade der Arm des Gesetzes gefaßt hielt, folgte er als Schlachtenbummler einer jeden unserer Uebungen. Bei einer solchen geschah es, daß mir auf Vorposten ein Häslein über den Weg lief. Das Jägerblut kribbelte mir in den Händen. Unsere Platzpatronen hatten damals noch den Holzpfropfen. [nicht in Indiana Tribüne] Ich riß dem nächsten Soldaten den Karabiner aus der Hand und bautz — der Hase lag im Feuer. Gleich darauf kam mir zum Bewußtsein, daß das sehr böse für mich auslaufen konnte. Dergleichen Scherze waren aufs Strengste verboten. Meiner Leute war ich sicher, aber wenn man das Thier fand — mit dem Holzproppen im Bauch! [nicht in Indiana Tribüne] Ich war noch zu keinem Entschluß gekommen, da näherte sich von hinten ein Stromer, griff den Hasen auf und rief mir zu: „Das ist schlimmer wie'n Balanzirkunststück, Herr Leutnant! Den Lampe bring' ich aufs Amt!” — Na, er hat ihn zwar nicht aufs Amt gebracht, sondern sich ihn gut schmecken lassen oder ihn verkloppt — aber er reist heute noch darauf. Der schiele Venzke ist meine Nemesis.”

— — —