Theatergift.

Humoreske von Teo von Torn
in: „Berliner Volkszeitung” vom 11.11.1904,
in: „Trierische Landeszeitung” - Familienfreund vom 17.11.1904


Das hervorstechendste Merkmal eines darstellenden Künstlers ist die Unzufriedenheit. Er ist unzufrieden mit dem Direktor, mit dem Regisseur, mit den Kollegen, mit dem Publikum, mit der Presse — und unzufrieden eigentlich nur mit sich selbst.

Der Wirt des Theaterrestaurants schürte dies Eigentümlichkeit mit vielem Eifer. Einmal weil er wegen der Vernachlässigung seines dumpfen und ungemütlichen Kellerlokals selbst zu den unzufriedenen zählte, und dann — weil geärgerte Menschen erfahrungsgemäß seßhafter sind und mehr trinken als friedliche.

Das erwies sich auch heute wieder.

Das sonst um die vierte Nachmittagsstunde vollständig verödete Restaurant war von Tabakrauch und lebhaft gestilulierenden Mimen gefüllt. Man sah kaum die Hand vor Augen. Dafür aber hörte man umsomehr. Ein Gewirr von Stimmen wie in einem beunruhigten Bienenkorb. Von Zeit zu Zeit drang ein besonders kräftiges Organ durch. So eben jetzt der sonore Baß des Heldenvaters.

„Wenn so ein Kritikaster überhaupt schon Stücke schreibt, was meines Erachtens gar nicht seines Amtes ist, dann hat er sich jeder Einflußnahme auf die Besetzung zu enthalten!”

„Sehr richtig!” schrie Gregor Bartholdy, der Charakterdarsteller, indem er mit ausgestrecktem Zeigefinger auf die Nase des Heldenvaters zielte. „Das ist des Pudels Kern! Einem Autor steht überhaupt kein Recht zu, die Rollen zu besetzen. Erstens, weil er davon nichts versteht, und zweitens, weil das der VetterwirtschaftTor und Tür öffnet. Das darf nicht sein. Außerdem war mir der „Sokrates” bereits zugeteilt. Ich habe den Bockmist schon vierzehn Tage lang studiert. Zwei Proben sind schon gewesen und mit einem Male — —”

„Das ist eine Gemeinheit, Bartholdy! Hast recht! Das würde ich mir auch nicht gefallen lassen. Und wer bekommt die Rolle? Herr v. Röckmers!”

„Natürlich —!”

„Herr v. Röckmers!”

„Aeh — äh — —”

„Dieser Kaff mit dem Gardeschnupfen!”

„Auf dessen Sokrates bin ich gespannt —”

„Aber wenn man mit der Kritik alle Abend im Ratskeller zusammensitzt —”

„Dem Herrn Autor Honig auf beide Backen schmiert —”

„Und die Schwester des Direktors poussiert!”

„Natürlich — dann kriegt man auch Rollen — welche man nur haben will!”

„Da muß was geschehen!”

„Es muß!”

„Aber was — — —”

„Ja was?” Das hatte einige Schwierigkeiten und Bedenken. Von seinen Kollegen konnte den Baron v. Röckmers niemand recht leiden. Dafür aber war er sehr beliebt beim Publikum und bei der Presse. Und für den Direktor war er unschätzbar — nicht nur als wahrscheinlicher Gatte seiner angejahrten Schwester, sondern auch als soziales Bindeglied zwischen dem Theater und den Spitzen der Gesellschaft, welche Herrn v. Röckmers als einzigen Schauspieler in ihre Kreise zogen.

Weggraulen oder dergleichen gab es also nicht. Der Mann saß so fest, daß eine offene Aggressive [recte wohl: Aggression. D.Hrsgb.] sehr leicht auf den Angreifer zurückfallen konnte.

Die allgemeine Ratlosigkeit trieb die Empörungen auf die Spitze. Und den Durst auch. Der Theaterwirt sah mit Befriedigung, daß er demnächst ein neues Fäßchen anstecken mußte. Er folgte den Auseinandersetzungen mit lebhaftem Interesse — denn die Sache ging ihn noch nach einer anderen Richtung etwas an.

Er war nämlich wütend auf Dr. Brandt, den Verfasser des seit Wochen mit großer Spannung erwarteten Dramas „Sokrates”, und er haßte auch den Schauspieler v. Röckmers. Ersterer hatte in einer seiner Lokalplaudereien das Theaterrestaurant als eine Vorstadtdestille letzter Ordnung bezeichnet. Und der Baron hatte das Lokal tatsächlich noch nie betreten. Hier bot sich einmal eine Gelegenheit, mit beiden zugleich abzurechnen — und der Wirt hatte auch schon einen Plan.

„Meine Herren!” riuef er plötzlich in den lärmenden Chor, „überlassen Sie die Rache mir!”

„Aber Mensch, wie wollen Sie denn —!”

„Das ist meine Sache — und Sie werden zufrieden sein. Nur zwei Bedingungen habe ich, meine Herren!”

„Reden Sie, edler Fliegenwirt!”.

„Erstens schweigen — vorher und nachher.”

„Wird gemacht!”

„Ferner müssen Sie sich sämtlich verpflichten, auch bei mir zu verkehren, wenn Sie Geld haben —”

„Das ist zwar nie der Fall, aber wir schwören!”

Zwei Dutzend Hände erhoben sich feierlich — dabei auch ein paar linke, die bekanntlich zu nichts verpflichten, und der Theaterwirt ließ schmunzelnd ein neues Fäßchen anstecken.

— — —

Das vieraktige Drama „Sokrates” von Erich H. Brandt hatte einen kolossalen Erfolg. In den beiden ersten [in der Trier. Landesztg.: ersten drei — D.Hrsgb.] Akten wenigstens. Der vierte konnte jedoch nichts mehr verderben. Er war der wirksamste. Den ganzen Akt hindurch nippte Sokrates, der dem Tode Geweihte, an seinem Schierlingsbecher — ruhig, gefaßt, mit der lächelnden Weltverachtung des Philosophen. Und während er trank, wie man seinen Brunnen trinkt oder Medizin einnimmt, pflanzte er tiefe Weisheitslehren in die blutenden Herzen seiner Schüler, welche von Zeit zu Zeit mit klingendem Pathos ihn bestürmten, sein und ihr Heil in der Flucht zu suchen.

„Der Philosoph flieht nicht den Tod. Er stirbt in Achtung der Gesetze, die ihn verurteilen.” Also sprach Sokrates mit lächelndem Munde.

Dieses Lächeln aber hatte etwas Verzerrtes. War es doch eine Todesangst? Dr. Brandt zitterte in seiner Loge. Sollte der Künstler wider alle Abrede eine Konzession des Philosophen an den schwachen Menschen markieren wollen? Das wäre realistisch — und falsch, grundfalsch! — Um Himmelswillen — es wird immer schlimmer — — —

Und tatsächlich. Je länger der Sokrates des Herrn v. Röckmers an dem Schierling nippte, desto entsetzer und qualvoller wurde sein Gesichtsausdruck. Nach jedem Trinken zeigte sich sogar etwas wie ein Aufstoßen, das zwar mit übermenschlicher Kraft niedergerungen wurde, sich aber doch recht unliebsam bemerkbar machte.

Jetzt setzte er sich sogar — setzte sich, gerade wo er hochaufgerichtet den wundervollen Monolog sprechen sollte von der Fortdauer des Lebens nach dem Tode. Und er setzte sich nicht nur, sondern preßte auch die Hände gegen den Leib und krümmte sich mit geradezu verblüffendem Realismus.

Dr. Brandt schäumte. Wie ein Wilder stürmte er aus seiner Loge hinter die Koulissen. Aber er war dort noch nicht angekommen, als die Katastrophe ihn und sein Stück bereits erreicht hatte . . . . .

Auf die letzte Beschwörung seines Lieblingsschülers, den Becher nicht weiter zu leeren, sondern zu fliehen, schien Sokrates von einer unbezwinglichen Lebenslust erfaßt zu werden. Mit einem unartikulierten Laute stieß er die ihn umringenden Jünger von sich und verschwand.

Die Schauspieler standen mit offenem Munde — das Publikum saß mit offenem Munde — — Sokrates blieb verschwunden — und der Vorhang fiel über einem meuchelgemordeten Drama.

— — —

„Mensch —!” rief der Charakterdarsteller Bartholdy eine Stunde später, indem er den Theaterwirt jauchzend ans Herz drückte. „Wie haben Sie das angestellt?”

„Ssst — ganz einfach,” raunte dieser mit einem Banditenschmunzeln, „ein Drittel Sherry — zwei Drittel Rizinus.”

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