Texas Jack

Manöver-Humoreske von Teo von Torn
in: „Neue Hamburger Zeitung” vom 05.09.1903,
in: „Bielefelder General-Anzeiger” vom 05.09.1903,
in: „Montags-Revue aus Böhmen” vom 07.09.1903


Diejenigen Menschen, welche von allem etwas können, werden es im Leben immer besser haben wie die, welche nur ein einzelnes, dieses einzelne aber gut können. Wir sehen das schon an dem Beispiel, das die Wissenschaft gibt: wer es verstanden hat, sich aus all ihren Gebieten je einige Kosthäppchen anzueignen, der ist ein gebildeter Mensch und wird als solcher sein Fortkommen finden; wer sich aber in ein enges Spezialgebiet verbohrt — sei es, daß er nur für die Keramik zur Zeit des Perikles lebt oder sein ganzes Gehirnschmalz auf die Erforschung der Wunder eines rechten Fliegenauges aufwendet — den heißt man einen Gelehrten, und ein solcher wird in den weitaus meisten Fällen die Zähne in die Wand schlagen und den Magen draufhängen. Außerdem kommt er in die Witzblätter.

Ganz ähnlich liegen die Verhältnisse bei dem Militär. Wer in allen Disziplinen des weiten soldatischen Erziehungsgebiets einigermaßen Bescheid weiß, ohne im einzelnen hervorzuragen, der kann es zum Major und — wenn er Glück oder wenigstens kein Pech hat — sogar zum Oberst bringen; ist er dagegen in der einen oder anderen Spezialität des königlichen Dienstes ein großes Licht, in den übrigen aber talentlos, so wird er angeschnauzt werden auf allen seinen Wegen, und es wird ihm gerade so schlecht gehen wie dem Leutnant von Kleefoth bei den Gardeschützen.

Hans Melchior von Kleefoth konnte zweierlei: Schwimmen und schießen. In diesen Fächern tat es ihm keiner gleich; er hatte es da zu einer Künstlerschaft gebracht, die im Bataillon sprichwörtlich und vorbildlich geworden war. Man nannte ihn nicht anders wie den Texas Jack. Mit diesem Ehrentitel waren allerdings nicht nur seine außerordentlichen Fähigkeiten, sondern auch die wildwestliche Ungebundenheit angedeutet, welche er gegenüber allen andern soldatischen und gesellschaftlichen Tugenden erwies.

Als die Residenz, in welcher das Bataillon residierte, einmal von einem Zirkus heimgesucht wurde, hatte Leutnant von Kleefoth es sich nicht nehmen lassen, mit einem dort auftretenden Kunstschützen öffentlich in Konkurrenz zu treten. Angetan mit einem Räubercivil, das an sich schon eine Sehenswürdigkeit war. schoß er zwar den verblüfften Professional in Grund und Boden — als Siegespreis aber erhielt er dreimal vierundzwanzig Stunden Stubenarrest. Das hinderte ihn jedoch nicht, einige Wochen später mit „Melusine, der Wasserfee” um die Palme zu ringen. Während das weibliche Amphibium nur annähernd drei Minuten unter Wasser aushielt, brachte es Leutnant von Kleefoth auf vier, und im Anschluß daran auf zehn Tage Stubenarrest — bei welcher Strafbemessung es erschwerend ins Gewicht fiel, daß Texas Jack, nur mit einer einfachen Badehose bekleidet, ins Bassin gestiegen war und dadurch öffentliches Aergernis erregt hatte.

Wurde ihm solchermaßen schon zu gewöhnlichen Zeiten die Entfaltung seiner Talente erschwert, so fühlte er sich im Manöver erst recht aufgeschmissen.

Was nutzte ihm alle Schießfertigkeit, wo nur mit Platzpatronen geknallt wurde? Eine übertriebene Vorsicht hatte diesen Patronen sogar den Holzpfropfen genommen, mit dem man früher doch gelegentlich einen Vogel oder ein im Gelände verirrtes Häslein hatte erlegen können. Und nun gar das Schwimmen! Die Ausdauer und Gewandtheit einer Seerobbe waren völlig belanglos, wenn man sich nur über staubige Chausseen oder Sturzäcker fortzubewegen hatte — und zwar nach den Gesetzen des Felddienstes, von denen Hans Melchior von Kleefoth nur schemenhafte Begriffe hatte.

So kam es denn, daß die engeren Freunde unter seinen Kameraden vor jedem Manöver sich zu einem Abschieds-Liebesmahl mit ihm vereinigtem — in der trüben Voraussicht, daß Texas Jack die trauten Schießstände der Garnison nicht wiedersehen, sondern zu seinem Onkel und Vormund hinreisen werde, um die Landwirtschaft zu erlernen und eine ältliche Cousine zu heiraten. Beides war ihm angedroht für den Fall, daß er sich als Offizier nicht würde halten können.

Dank dem Umstande, daß die Manöver meist nur höheren Truppenführern gefährlich werden, hatte Herr von Kleefoth diese Klippe bereits viermal glücklich umschifft — allerdings nicht, ohne einen Hauptmann und zwei Majors, welche höheren Orts für seine Greueltaten verantwortlich gemacht worden waren, unter den Cylinder zu bringen. Da aber Vorgesetzte im allgemeinen keine opferfreudigen Menschen sind, so war es beim Kompagniechef wie auch bei dem Bataillonskommandeur beschlossene Sache, es so einzurichten, daß Leutnant von Kleefoth diesmal selbst auszulöffeln hatte, was er sich bezw. dem Bataillon eingebrockt.

Es war an einem der ersten heißen Schlachttage der diesjährigen Manöver. Das Bataillon hatte einen nächtlichen Eilmarsch hinter sich, war dann in der Nähe des Feindes auseinandergezogen worden und verkrümelte sich in aufgelöste Schützenlinien. Da aber der Feind oder das, was man aller menschlichen Berechnung nach dafür gehalten, auch angesichts dieser äußerst drohenden Haltung kein Lebenszeichen gab, so war eine kleine Kunstpause eingetreten, die der Kommandeur durch eine sorgvolle Beratung mit seinen Häuptlingen ausfüllte. Es war so sicher wie ausgeknobelt, daß man hier auf den Feind hätte stoßen müssen — und zwar unter den Augen des Höchstkommandierenden. Aber weder dieser, noch der Feind war vorhanden.

Das Resultat war, daß Hauptmann Lechfeldt sich von der Gruppe ablöste und dem von Texas Jack geführten Zuge sich näherte.

„Herr Leutnant von Kleefoth!”

Dieser hatte sich eben in sehnsüchtigen Gedanken vertieft, wie herrlich es wäre, nach solch einer Nacht mit einem doppelten Saltomortale in ein Gewässer zu tauchen. Er sprang auf und salutierte mit seinem Schwerte — was bei aufgelöster Schützenlinie bekanntlich weder nötig noch angebracht ist.

„Herr Leutnant von Kleefoth — bei aufgelöster Schützenlinie wird mit der Waffe nicht Honneur gemacht!”

„B'fehl, Herr Hauptmann!”

Gleichzeitig senkte er abermals den Degen.

„Herr!” keuchte der Kompagniechef. „Ich sage Ihnen, daß Sie in diesem Falle nicht zu salutieren haben!”

„B'fehl, Herr Hauptmann!”

Und wiederum neigte sich sein Flamberg mit elegantem Schwunge.

Der Kompagniechef machte ein Gesicht, als wenn er nicht übel Lust zu einem kleinen Mordanfalle hätte. Aber er beherrschte sich, in der Erwägung, daß der eigensinnige Mensch dann außer stande sein würde, den ihm zugedachten Auftrag auszuführen.

„Herr Leutnant von Kleefoth — Sie werden mit Ihrem Zuge das Wäldchen drüben passieren und jenseits des Bahndammes Feldwache beziehen. Sie kennen Ihre Aufgabe und deren Verantwortlichkeit?”

„B'fehl, Herr Hauptmann!”

Der Kompagniechef wandte sich ab, um wegen des wiederum grüßenden Schwerts nicht aus der Haut zu fahren und überließ Texas Jack seinem Schicksal, das diesmal besiegelt war, wenn es überhaupt eine Gerechtigkeit auf der Welt gab.

Leutnant von Kleefoth und Feldwache! Das war gerade so, als wenn man ihn von Mittwoch auf Donnerstag zum Kommandanten eines Hochsee-Torpedoboots oder zum Direktor eines zoologischen Gartens gemacht hätte.

Auf alle Fälle war er sich der verzwickten Situation voll bewußt und steifte die Ohren, so gut er irgend konnte. Das bestand in der Hauptsache darin, daß er sich auf den lieben Gott und seinen Sergeanten verließ, welche die Sache wohl machen würden. Im übrigen nahm er sich vor, mit dem größten Schneid aufzutreten — bekanntlich immer noch das beste Mittel, eine Dummheit in Elan umzukahren.

Zunächst erwies er sich auch so umsichtig, daß er beim Passieren des niedrigen Buschholzes im Wäldchen sogar die Nationalkokarden von den Czakos nehmen ließ, damit sie nicht verloren würden. Mit derselben Sorgfalt und Unterstützung des Sergeanten Blaschke richtete er auch die Feldwache am Bahndamme ein, von wo man die Aussicht auf einen ziemlich hohen Hügel und auf einen hart an dem Fuße desselben gelegenen Mühlenteich hatte. Nachdem die Patrouillen verteilt und auch alle anderen Vorkehrungen getroffen waren, ließ er den Rest seiner Leute die Gewehre zusammenstellen.

Alsdann harrte Texas Jack der Dinge, die da kommen sollten. Und er hatte nicht lange zu warten.

Seine Seele versenkte sich gerade in allerhand träumerische Wünsche, als der Ruf des Sergeanten ihn aufschreckte!

„Herr Leutnant! Herr Leutnant! — Der Feind!!”

„Alle Wetter!” er sauste auf, wie von der Tarantel gestochen. „Wo —!

„Dort auf dem Hügel!”

Und tatsächlich. Aufblitzende Helmspitzen — Uniformen — — —

Jetzt oder nie! Das war eine Gelegenheit, sich auszuzeichnen, wie sie schwerlich wiederkommen würde. Sie durfte also nicht ungenutzt vorübergehen.

„Marsch, marsch — hurra!” brüllte er mit einem Stimmaufwand, der das Schlachtgeheul der alten Germanen in den Schatten stellte. Gleichzeitig schwang er wütend seinen Degen und stürmte vor,

Die Mannschaften stutzten einen Moment und waren im Zweifel, ob sie ihrem heldenhaften Führer ohne Gewehre folgen sollten, denn die entsprechenden Kommandos hatte der Leutnant in seinem rasenden Kampfeifer leider vergessen! Aber das Zaudern währte nur einen Moment — dann stürmten sie mit verdoppelter Wucht nach, und zwar mit solcher Wucht, daß der Stab des kommandierenden Generals vom Hügel herunter in alle Richtungen der Windrose auseinandergesprengtt wurde.

Aber damit nicht genug. Das Pferd Sr. Exzellez hatte einen solchen Schreck bekommen, daß es augenscheinlich den unrühmlichen Tod des Ertrinkens einem Massacre durch wahnsinnig gewordene Jäger vorzog. Es hüpfte in den Teich — und der Höchstkommandierende wäre ertrunken, wenn Texas Jack ihn nicht gerettet hätte.

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Vorgesetzte sind undankbare Menschen. Die Manöver sind noch nicht einmal zu Ende und Leutnant Hans Melchior von Kleefoth ist bereits „wegen Krankheit” beurlaubt. Er weilt auf dem Gut seines Oheims und Vormunds, wo er die Landwirtschaft erlernt und sich an seinen jungen Brautstand gewöhnt. Sein einziger Trost ist die Hoffnung auf die Rettungsmedaille am Bande.

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