Meyers Schwager

Humoreske von Teo von Torn.
in: „Isefjordsposten” vom 13., 14. und 15.3.1902 (unter dem Titel „Meyers Svoger”)
in: „Roskilde Avis” vom 18. und 19.3.1902 (unter dem Titel „Meyers Svoger”)
in: „Naestved Tidende” vom 25. und 27.3.1902 (unter dem Titel „Meyers Svoger”)
in: „Slagelse Posten” vom 19. und 20.8.1902 (unter dem Titel „Meyers Svoger”)
in: „New Orleanser Deutsche Zeitung” vom 27.12.1903


Die x-ten Ulanen waren ein sehr penibles Regiment. Die Avantageure und Einjährigen wurden nicht nur persönlich auf die üblichen Herzen und Nieren, sondern auch auf ihre Abkunft geprüft bis ins dritte und vierte Glied. Eher ging ein Schiffstau durch ein Nadelöhr, als daß Oberst Graf Rastenau einen jungen Kriegsmann mit seinem Offiziercorps in Berührung gebracht hätte, der nicht Klasse Ia und nach jeder Richtung hin tip-top gewesen wäre.

Dafür waren die x-ten Ulanen bekannt, und dafür hießen sie auch in der ganzen Armee das Grafenregiment. Leider hatte dieser hohe Ruf einen Beiklang, der trotzdem und alledem manchen hochgeborenen Papa veranlaßte, seinen Sohn bei einer minder exklusiven Truppe unterzubringen. Die kleine Provinzgarnison war eine sündhaft teure Gegend. Nicht etwa, daß die Fleisch- oder Kartoffelpreise über den durchschnittlichen Marktwert hinausgingen; die Lebenshaltung des Offiziercorps war auf eine Façon zugeschnitten, nach der selbst von den wenigen Berufenen nur wenige Auserwählte selig werden konnten.

Das war ein Sieb mehr — und die x-er blieben hübsch unter sich. Nach den ungezählten Liebesmahlen in dem fürstlich eingerichteten Kasino, wenn die älteren Herren sich verkrümelt und dadurch die Fidelitas freigegeben hatten, pflegte ein junger Prinz, der Sprosse eines ehemals reichsunmittelbaren Geschlechts, das schöne Lied anzustimmen: „Mang uns mang ist keiner mang, der nicht mang uns mang gehört!” Und es war immer sehr fidel

Zum herbstlichen Einstellungstermin war in diese distinguierte Idylle eine empfindliche Störung gekommen. Erst war es wie ein ungläubiges Raunen von Mund zu Ohr gegangen — dann ein Staunen und Entsetzen, die schließlich zu einer Art Panik ausarteten, als es bei der Paroleausgabe offiziell bekant wurde, daß das Unzulängliche Ereignis geworden war: ein Einjähriger Meyer war bei den x-ten Ulanen angenommen!

Im Kasino flogen die Gothaischen Almanache von Hand zu Hand. Einer traute den Augen des andern nicht, auch wenn dieser andre zum zehntenmal festgestellt, daß es weder einen Grafen Meyer, noch einen Freiherrn dieses Namens gab. Es blieben nur noch zwei Möglichkeiten: entweder hieß der Mann schlechtweg von Meyer, oder es war im Wechsel der Zeiten die übrraschende Neueinrichtung getroffen, daß Ostern und Pfingsten von nun ab auf einen Tag fallen solten.

Aber es wurde Weihnachten, ohne daß eine Weltkatastrophe sich angezeigt hätte. Der junge, ehemals Reichsunmittelbare ließ seine Absicht, Cowboy zu werden, fallen, Oberst Graf Rastenau starb nicht an gebrochenem Herzen — und das Kuckucksei, das irgend eine anonyme höhere Gewalt den x-ten Ulanen ins Nest gelegt, hieß wahr und wahrhaftig Emmerich Egbert Meyer.

Und der Mann machte sch im allgemeinen gar nicht übel. Er wohnte wie ein Prinz, hielt sich neben seinem „Putzkameraden” zwei Diener, und wenn er auf seinem wundervollen Lippizaner durch die Stadt courbettierte, dann gab es unter den jüngeren Walküren des Grafenregiments eine ganze Anzahl, die ihm hinter den Stores angelegentlich nachschaute und in dem lebhaft pochenden Herzchen die Exklusivität bedauerten, die dem Einjährigen Meyer gegenüber verabredet worden war.

Namentlich war das der Fall bei der kleinen blonden Komteß Else Rastenau — aber alle Vorstellungen, alles Bitten begegneten bei dem gestrengen Herrn Papa einem maßlosen Befremden, und so fand sie denn auch nicht den Mut, einzugestehen, daß sie auf weiteren Schlittschuhausflügen dem sportfreudigen, eleganten Einjährigen „ganz zufällig” des öfteren begegnet war . . .

Das Offiziercorps versagte den ritterlichen Eigenschaften und sonstigen persönlichen Vorzügen des Einjährigen Emmerich Egbert Meyer im stillen seine Anerkennung nicht. Wenn man sich trotzdem noch nicht entschließen konnte, ihm näherzutreten, so war das seine eigene Schuld. Dieser unglaubliche Mensch pochte ja ordentlich auf seine bürgerliche Abstammung! Namentlich hatte er die merkwürdige Marotte, sich bei jeder Gelegenheit auf seinen Schwager zu beziehen. Was konnte das für eine Verwandtschaft sein, wenn man Meyer hieß! Da war es doch taktvoller, den Mud zu halten.

Meyers Schwager wurde schließlich, ohne daß man etwas von ihm wußte, zu einer Art komischer Figur, die besonders vom Klub der Dachse, deren Mittelpunkt der ehemals Reichsunmittelbare war, nach allen Regeln der Kunst für allgemeine Erheiterungszwecke ausgeschlachtet wurde.

Es war am Tage vor Sylvester. Oberst Graf Rastenau hatte der Kaserne seines Regiments einen Besuch abgestattet und stand nun auf dem Hof im Kreise seiner Offiziere, um die dienstlichen Dispositionen für die bevorstehenden beiden Festtage zu erörtern. Auch die Sylvesterfeier, die im großen Saal des Kasinos gemeinsam begangen werden sollte. Der Herr Oberst verabschiedete sich eben, als der Einjährige Emmerich Egbert Meyer an ihn herantrat und in der gehörigen Distanz Posto faßte.

„Nanu —” sagte Graf Rastenau, indem er sein Kuckucksei etwas erstaunt beaugenscheinigte, „ich denke, Sie sind auf Urlaub, Einjähriger!”

„Zu Befehl, Herr Oberst, ich habe mich jedoch wieder zurückgemeldet, da mein Schwager — —”

Der Einjährige unterbrach sich, weil es den Anschein hatte, als wenn der Herr Oberst hier etwas einzuwenden wünschte. Aber das war nicht der Fall. Der alte Herr machte nur eine etwas krause Nase und fuhr mit dem Zeigefinger an der inneren Seite des Mantelkragens entlang. Dann atmete er tief auf und fragte mit einer gewissen Resignation: „Hm — Ihr Schwager. Also, was ist's mit Ihrem Herrn Schwager, Einjähriger Meyer?”

„Mein Schwager hat mir für morgen Nachmittag fünf Uhr seinen Besuch angesagt.”

„So, so —” stieß Graf Rastenau mit outriertem Interesse hervor, während die andern Offiziere ein Lächeln nicht unterdrücken konnten und die Dachse sich vor Vergnügen an den unmöglichsten Stellen pufften.

„Verwandtschaftliche Rücksichtnahme ist eine sehr schätzbare Eigenschaft, Einjähriger,” bemerkte sodann der Oberst, „aber ich sehe es im allgemeinen nicht gern, wenn einmal getroffene Dispositionen willkürlich geändert werden. Verstanden?”

„Zu Befehl, Herr Oberst.”

„Na — und was wünschen Sie noch?”

„Mein Schwager — —”

Graf Rastenau machte ein Gesicht, als wenn er etwas Schlechtes röche, und fuhr mit beiden Zeigefingern in den Mantelkragen. Dann bohrte er die Hände in die Taschen und warf einen tragikomischen Blick auf sein Kuckucksei und dann auf den Offiziershalbmond, ein Blick, der deutlich fragte: na, was sagt ihr zu diesem ulkigen Karnickel! Die Herren sagten nichts, aber sie freuten sich nunmehr ziemlich ungeniert, und aus der Gegend, wo der Klub der Dachse zusammenstand, klang ein verhaltenes Kichern.

„Also — was ist's mit Ihrem Schwager, Einjähriger Meyer?”

„Mein Schwager läßt sich dem Herrn Oberst empfehlen und den Herrn Oberst sowie das Offiziercorps zu einem Glase Punsch in meiner Wohnung einladen.”

Einige Augenblicke war es still — ganz still. Dann wurde in der äußeren Peripherie des Halbmonds einige Unruhe und Bewegung bemerkbar, wie von Leuten, die sich nicht mehr bändigen können. Aber ein flüchtiger, ernster Blick des Oberst schaffte sofort wieder lautlose Stille. Einen Moment sah der alte Herr prüfend in das unbewegte Gesicht des Einjährigen Emmerich Egbert Meyer, dann sprach er sehr ruhig und fast verbindlich also: „Einjähriger Meyer, bestellen Sie Ihrem Herrn Schwager unsern Dank, zugleich aber auch, daß es weder uns noch Ihnen möglich sein wird, von seiner Einladung zu profitieren. Die Dispositionen des Offiziercorps für den Sylvesterabend sind bereits getroffen, und was Sie anbetrifft, so sind Sie leider unabkömmlich — Sie werden morgen Mittag auf Wache ziehn, und ich hoffe, daß sie die Muße benutzen werden, sich über gewisse Dinge klar zu werden, deren Erkenntnis ich Ihnen auf dienstlichem Wege leider nicht vermitteln kann. Veranlassen Sie, bitte, das weitere, Herr Rittmeister Graf Heiligen. Abtreten, Einjähriger.”

*           *           *

Sergeant Blaschke war mit der Ablösung für die Brückentorwache unterwegs. Der Schnee stob vom Himmel, als wenn der liebe Herrgott Großreinemachen angesagt hätte zu Ehren des neuen Jahres, das heute Nacht um zwölf Uhr anbrechen sollte. Und zwar wurden nicht nur die Betten aufgeschüttelt, sondern anscheinend auch die verstaubtesten Ecken des Himmels ausgefegt. Statt der blühweißen, weichen Flocken sprühten in grauen Wolken Milliarden scharfer Nadelspitzen hernieder, die auf der Haut prickelten und brannten, und vor denen man die Augen schließen mußte, wenn der Wind sie in dichteren Massen aufstäubte.

Das hinderte aber den Sergeanten Blaschke nicht, ein scharfes Auge auf seine Leute zu haben — namentlich auf den Einjährigen Meyer, der als Flügelmann neben ihm hermarschierte und schon wieder den Kopf zwischen die Schultern zog.

„Der Deibel soll Sie holen, Einjähriger,” knurrte er unter dem verschneiten Schnurrbart hervor, „wenn Sie die Kohlrübe nicht aus dem Mantelkragen bringen! Von Ihrem ganzen Schädel ist kaum die Helmspitze zu sehen. Das gibt's nicht. Immer raus mit der Neese! Noch raußer — zum Donnerwetter noch einmal! Die Civilisten sollen mich wohl für 'ne Gouvernante halten, die ein Damenpensionat spazieren führt, he? Lachen Sie nicht, Einjähriger, ich rate Ihnen —”

„Herr Sergeant, der Schnee kribbelt mir so an der Nase,” entschuldigte sich Emmerich Egbert Meyer mit heiligem Ernst.

„Halten Sie das — Mund, Einjähriger! Sonst werde ich Ihnen auch mal kribbeln! Auf das Sprechen im Glied steht die Todesstrafe, Herr; besonders wenn man nicht gefragt ist. Haben Sie übrigens an den Sylvesterpunsch gedacht?”

„Sehr wohl, Herr Sergeant — Ananaspunsch und Sektbowle.”

„Machen Sie keine Witze, Einjähriger, ich rate Ihnen —”

„Nein, nein, Herr Sergeant; es ist so. Der Herr Oberst wird uns nämlich auch auf ein Gläschen die Ehre geben. Ich habe ihn gestern eingeladen. Er wollte zuerst nicht — aber er wird kommen, denke ich.”

„Sie sind verrrr — — pst, Kinder aufgepaßt!” gleich darauf dröhnte das Kommando durch den Wintersturm: „Au—gen rechts!”

Trapps, trapps, trapps, trapps — stampften die nägelbeschlagenen Sohlen in strammem Tritt den hart gefrorenen Boden.

Die militärische Ehrenbezeugung ging an dem Klub der Dachse, der eben von einem ausgedehnten Sylvesterfrühschoppen kam, ziemlich eindruckslos vorüber. Die Herren waren nach dem Kasino unterwegs und achteten der verschneiten Wachtabteilung beziehungsweise ihrer Honneurs nicht. Nur der ehemals Reichsunmittelbare hatte den „Mann mit dem Schwager” bemerkt; und setzte den begeistert zustimmenden Kameraden einen prachtvollen Jux auseinander. — —

Das Mittagsmahl im Kasino war exquisit gewesen, die Weine nicht minder — trotzdem brachen die acht jüngeren Herren, die man als den Klub der Dachse bezeichnete, sofort nach der Tafel auf und fuhren in zwei Droschken in äußerst aufgekratzter Stimmung zur Bahn.

Und eben kamen sie recht. Der Fünfuhrzug fauchte und stampfte in den kleinen Bahnhof. Die Rufe der Schaffner aber und das Geklapper der Türen wurden übertönt durch das Indianergeheul, mit welchem die Herren unter Führung des jungen Prinzen an dem Zug entlangtobten

„Meyers Schwager!! Meyers Schwager!!!” lockte, rief und gellte es in allen Tonarten — immer Zug auf und ab. Die Passagiere steckten erschrocken die Köpfe aus den Fenstern, und die Bahnbeamten standen tatenlos vor Verwunderung.

Eben wollten die Herren zum drittenmal an dem Zug entlangstürmen, als ihnen plötzlich jeder Laut in der Kehle erstarb und sie regungslos auf dem Perron festwurzelten. Aus einem Coupé erster Klasse war der kommandierende General Freiherr von Glaß gestiegen und hatte sich den Offizieren in den Weg gestellt. Mit einem Ruck, dessen Energie in den tödlich erschrockenen Marssöhnen den lebhaften Wunsch nach einem tiefen Erdspalt aufkeimen ließ, setzte der alte Herr sein Glas ein und beschaute sich jeden Einzelnen mit unheimlichem Interesse, dabei jeden nach seinem Namen fragend.

Als der ehemals Reichsunmittelbare sich mit unsicherer Stimme vorstellte, nickte der General besonders interessiert und fragte: „Sie können mir wohl auch Auskunft geben, Durchlaucht, was diese überraschende Ovation zu bedeuten hat, nicht wahr?”

„Excellenz,” stotterte der Unglückliche, „ein kleiner, übermütiger Scherz — wie erwarteten den Schwager eines Einjährigen, um — um ihm mitzuteilen, daß der Einjährige — auf Strafwache ist.”

„Auf Strafwache — so. Ich danke Ihnen sehr, meine Herren, für Ihre freundlichen Bemühungen. Ich hätte allerdings lieber gesehen, wenn mein Schwager, der Einjährige Meyer, mich in etwas minder geräuschvoller Form hätte begrüßen lassen. Aber darauf hat er wohl keinen Einfluß gehabt. Ihnen, Durchlaucht, danke ich speziell — und da Sie sich schon soweit bemüht haben, sind Sie wohl so freundlich, meinen Schwager, den Einjährigen Meyer, davon zu verständigen, daß ich ihn heute Abend auf der Wache besuchen werde. Auch den Herrn Oberst lasse ich gegen zehn Uhr dorthin bitten. Ich danke Ihnen , meine Herren!” —

Acht ausgerissene Winterlevkojen hatten in der nächsten halben Stunde die Anwesenheit Seiner Excellenz in der Garnison bekannt gegeben. Als der Herr Oberst alle näheren Umstände erfuhr, sagte er gar nichts, sondern schrieb an den Verwalter auf Schloß Rastenau, daß dieser die Herrschaftswohnung für dauernden Aufenthalt herrichten möchte. Komteß Else Rastenau aber nahm die Sache nicht von dieser Seite. Sie erzählte ihrem Papa unter Lachen und Weinen eine lange Geschichte von ganz zufälligen Schlittschuhpartien und einem ritterlichen jungen Menschen, den Else Rastenau unmenschlich lieb habe und gegen den Papa doch nichts einwenden werde, da er der Schwager Seiner Excellenz des Herrn kommandierenden Generals sei.

Und der Oberst tobte nicht. In die Resignation seiner Seele stahl sich unter den Eröffnungen seines Töchterleins ein leiser Hoffnungsstrahl — und dieser leuchtete ihm auf dem schweren Gang nach der Wache.

Zunächst war es dort wenig angenehm. Seine Excellenz hatten dem Herrn Oberst unter vier Augen eine ganze Menge zu sagen — namentlich über den Eindruck, den die gesellschaftliche Haltung des Regiments schon seit langem nach oben hin gemacht, über die Tatsache, daß die Kameradschaftlichkeit und der gute militärische Geist eines Offiziercorps keineswegs durch konforme Abstammung bedingt sei, und noch vieles andere.

Nachdem aber der Herr General alles gesagt, was er dienstlich auf dem Herzen gehabt, schlug seine Stimmung fast unvermittelt um. Eigenhändig kredenzte er dem Oberst ein Glas Sektbowle, erwirkte unter Lachen für die acht Dachse Pardon und drückte den Wunsch aus, der Frau Gräfin die Hand küssen, sowie Komteß Tochter kennen lernen zu dürfen . . .

Den Vorschlag des überglücklichen Oberst, den Einjährigen Meyer ablösen zu lassen, lehnte Excellenz aus dienstlichen Gründen entschieden ab — als aber anderthab Stunden später die Glocken dröhnend das neue Jahr verkündeten, ward für Emmerich Egbert Meyer ein Couvert abgegeben, mit einem Zettel, nach dessen Lektüre der Einjährige sich so weit vergaß, seinem direkten Vorgesetzten, dem Sergeanten Blaschke, um den Hals zu fallen.

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