Weihnachts-Humoreske von Teo von Torn.
in: „Badener Zeitung” vom 04.01.1905
Konstantin v. Radommeck, Major a. D. und Rittergutsbesitzer auf Powidlo, saß bereits zwei Stunden in dem dunkelgrünen Ledersessel, in den der Oberst Kienscherf seinen alten Freund und Kameraden, nach der ersten stürmischen Begrüßung gedrückt hatte. Die Erlebnisse von beinahe zwei Jahrzehnten waren schon ausgetauscht, drei Bouteillen schweren Burgunders getrunken, die entsprechende Anzahl Zigarren aufgeraucht — und immer noch saß Konstantin von Radommeck da mit einem Gesichte, als wenn das wichtigste noch zu sagen wäre.
Oberst Kienscherf schielte über des Freundes kolossale Gletscherplatte hinweg verstohlen nach der Wanduhr.
„Wollen wir nicht noch eine Flasche trinken, Radommeck?”
„Nein, nein, um Gotteswillen nicht,” erwiderte der Landwirt, „mir ist schon ein bißchen —”
„Aber, liebster Freund, — — von den paar Flaschen da?”
„Von diesen paar Flaschen nicht. Ich habe mit Rethwisch schon zwei getrunken, und mit Bensberg drei halbe. Allerdings, dieses Tröpfchen hier: À la bonheur. Und damit du nicht etwa glaubst, daß ich ihn nicht ästimiere, können wir ja schließlich noch eine anstechen.”
„Mit Vergnügen, lieber Freund! Es ist nur, — du nimmst mir das nicht übel — ich müßte eigentlich zuerst auf einige Minuten in die Regimentskanzlei.”
Konstantin schaute verdutzt auf.
„Das sagt mir der Mensch jetzt erst,” sagte er, indem er sich schwerfällig erhob. „Da kann ich nun wieder losturnen, ohne die Hauptsache mit dir besprochen zu haben.”
„Aber ich bitte dich! Wenn es sich um etwas Wichtiges handelt, dann müssen die Leute in der Kanzlei eben warten.”
„Also, dann erlaube mir schnell eine Frage: Bei deinem Regimente steht der Oberleutnant Grothe, nicht wahr?”
„Grothe — ganz recht. Bis vor einem Jahre. Jetzt steht er bei den Fünfern, wenn ich nicht irre. Tüchtiger Mensch —”
„Also tüchtig!” rief Konstantin v. Radommeck strahlend. „Du mußt nämlich wissen, Kienscherf, daß dieser Bernhard Grothe mein Neffe ist; der einzige Sohn meiner verstorbenen Schwester Agathe. Sie hat mir den Bengel damals warm ans Herz gelegt — und ich — das heißt — was ich noch fragen wollte: Wie ist er denn sonst?”
Der Oberst zog nachsenklich den Schnurrbart durch die Finger.
„Sonst —? Darin kann ich dir eigentlich keinen rechten Bescheid sagen, lieber Freund. Ich begegne ihm äußerst selten. Mit der Versetzung in ein anderes Regiment ist er in einen entfernten Vorort gezogen und seither für mich fast von der Bildfläche verschwunden.”
„So, so —,” bemerkte Herr v. Radommeck nachdenklich. „Lass' uns übrigens gehen, Kienscherf, wir können unterwegs reden —”
„Wenn's dir recht ist? Die Schreiber und mein Tettenbach wollen zum heiligen Abend auch ein wenig früher nachhause. Etwas fällt mir noch ein bezüglich Grothe: Es ist im Kasino oder irgendwo davon die Rede gewesen, daß er sich mit dem Gedanken trägt, seinen Abschied zu nehmen.”
Konstantin v. Radommeck schaute ganz verstört vor sich hin.
„Donnerwetter — Donnerwetter —,” murmelte er ärgerlich.
Oberst Kienscherf hob die Achseln.
„Das heißt — ich habe keine Ahnung, ob etwas an der Geschichte ist.”
„Es ist etwas dran, du — verlaß dich drauf,” versicherte der Dicke mit kreuzunglücklichem Gesichte. „Wie ich den kenne, macht er die größten Dummheiten — und nicht etwa aus eigenem Spaßvergnügen, sondern nur, um mir einen Tort anzutun. Deshalb war mir in der letzten Zeit auch so unruhig auf Powidlo. Mir hat kein Essen und kein Wein geschmeckt. Und geschlafen habe ich nur mit offenen Augen, wie'n Hase. Dabei ist die Agathe drei Mal im Traum an mein Bett getreten, hat mit dem Finger gedroht und „alter Geizkragen” zu mir gesagt. Das ist aber ein verfluchter Unsinn! Ich bin gar kein Geizkragen. Noch ein Jahr vor der Agathe starb mein Bruder in London. Seine Hinterlassenschaft bestand in einem sündhaften Haufen Schulden und in einer neunzehnjährigen Tochter. Bezüglich der Schulden habe ich mir die englischen Köpfe nicht zerbrochen. Das Mädel hatte ich zu mir genommen — trotz einiger Bedenken. So ein spinöses englisches Plättbrett immer um mich zu haben, ist nicht mein Gusto. Aber ich kann dir nur sagen, ich hatte mit der Konstanze — so hieß sie nämlich, fast wie ich — das große Los gezogen. Ein Prachtmädel. Blond und rosig wie eine frischgepflückte Goldreinette und arbeitsam wie eine Biene. Gleich in den ersten acht Tagen hatte sie es herausgehabt, wie ich zu Hause an allen Ecken und Enden zum besten gehalten wurde. Also, hinaus mit der ganzen Bande aus dem Tempel — und dann hat sie selbst gewirtschaftet. Kienscherf, es war ein Staat! Dabei immer freundlich und rücksichtsvoll und herzig, so daß mich schließlich — zwischen der fünften und sechsten Rippe eine Art Meschuggigkeit überkam. Aber das tut hier nichts zur Sache. Jedenfalls war ich im siebenten Himmel. Was soll ich dir sagen — es war im Herbst vorm Jahr. Gleich nach den Manövern. Wer tanzt an? Bernhard Grothe. Vergnügt und braun wie ein Wüstenaraber. Ich freue mich natürlich riesig — denn im Grunde genommen habe ich den Bengel gern, mußt du wissen — die Konstanze freut sich auch, ihren bisher unbekannten Vetter kennen zu lernen; wir freuen uns alle — und so weit ist die Sache ganz schön. Die acht Urlaubstage sind im Fluge hin. Um eins soll er zur Bahn fahren. Um halb tut sich in meinem Zimmer die Tür auf — mein Bernhard und die Konstanze Hand in Hand bitten um meinen Segen. Ich denke, mir gießt einer siedendes Wasser über den Rücken. „Ihr seid verrückt!” schrie ich. „I wo,” erwidert mir Bernhard Grothe mit seiner eisigen Ruhe, „wir sind nie so vernünftig gewesen wie in diesem Augenblick; — und wenn auch du vernünftig bist, Onkelchen, dann machst du weiter keine Umstände. Also segne nun los!” Da wurde ich aber wütend, und die beiden merken mir auch an, daß ich es bin. Zwischen den Augenbrauen des Jungen zeigt sich die tiefe hartköpfische Falte der Grothes, und die Konstanze angelt im Kleid nach ihrem Schnupftuch. Das macht mich noch wilder. „Ich werde gar nichts tun!” schrie ich, daß mir die Stimme überkiekste. „Das wäre ja noch schöner! Sehen — heiraten! Bums — fertig! Auf diese Art kauft man nicht einmal ein Pferd, geschweige geht man in die Ehe! Die Konstanze hat nichts, du hast nichts — nichts von nichts geht nicht, müßt ihr euch was borgen. Denn von mir gibt's nicht einen roten Heller für so eine Verrücktheit. Ich will acht Tage nichts als Wasser saufen, wenn ihr auch nur einen Heller zum notwendigen Kommißvermögen von mir herausholt!” Das habe ich gesagt — und darauf sind sie gegangen, Hand in Hand, wie sie gekommen waren. Draußen beim Wagen haben sie sich geküßt, daß mir noch wütender ums Herz geworden ist, und dann ist der Bernhard Grothe abgefahren. Was will ich dir sagen — — drei Tage später kommt die Konstanze morgens nicht zum Kaffee. Wie ich schließlich allein trinken will, finde ich in meiner Serviette einen Brief: Sie wäre zu Schiff nach London. Die Schlüssel lägen im Körbchen auf dem Buffet. Besten Gruß — Adieu! Seither ist das bischen Sonnenschein flöten. Die Leute beschwindeln mich wieder — und ich bin ein Kerl geworden, der sich selber nicht gut ist.”
„Geschieht dir recht, Radommeck.”
„Wieso meinst du das —?” fragte der Dicke ganz verdutzt.
„Weil es für einen kompletten Sechziger doch ziemlich gewagt ist, sich in eine neunzehnjährige Nichte zu verlieben.”
Radommeck schwieg eine Weile.
„Es ist auch gar nicht herade freundschaftlich,” knurrte er dann, „einem so brutal vorzuhalten, was man für ein alter Esel geworden ist. Aber es ist richtig, Kienscherf. Glücklicherweise gibt es keine Dummheit, die so groß ist, daß man sie nicht wieder gut machen könnte. Schon seit Monaten regt mich das innerlich auf. Dann kam die Agathe mit dem drohenden Zeigefinger und ihrer Bemerkung „alter Geizkragen” und so — und jetzt muß ich gar hören, daß der Bengel seinen Abschied nehmen will. Hier in der rechten Brusttasche habe ich um dreißigtausend Kronen Goldrente; für die linke Tasche kaufe ich mir einen handlichen Schießprügel. Bleibt er nicht Soldat und schreibt er nicht unter meinen Augen an die Konstanze — er wird schon wissen, wo sie in London steckt — dann gibt es ein Familiendrama: Andernfalls zücke ich die Goldrente und dann mögen sie glücklich werden in drei Teufels Namen: Mehr kann ich doch nicht tun, Kienscherf, was?”
Sie waren vor der Kaserne angelangt. Der Oberst drückte dem Freunde die Hand.
„Zunächst nicht,” sagte er lachend, „oder doch. Ich würde dir empfehlen, die Sache ein wenig zarter anzufassen, als du es beabsichtigst. Der Oberleutnant scheint mir nicht der Mann, auf Hieb und Stich mit sich reden zu lassen —”
„Meinst, daß er mich hinauswerfen wird mit meinen Goldrenten?”
„Das will ich nicht sagen. Immerhin hast du selbst das Gefühl, eine Art Unrecht gut machen zu müssen — und da geht man freundlicher vor — — namentlich am Weihnachts-Heiligenabend. Leb' wohl und gute Verrichtung, Radommeck. Morgen erbitte ich mir Rapport!”
„Ja. Adieu. — — Erlaube noch — noch ein Wort!” rief er dem Davoneilenden nach. „Du — sag' einmal — wenn der Grothe nun an die Konstanze schreibt und ich die dreißigtausend Kronen auf den Tisch lege — bin ich dann als Offizier verpflichtet, acht Tage bloß Wasser zu trinken? Ich hab's doch geschworen damals —”
„Ja, alter Sohn — das mußt du mit deinem Gewissen abmachen!”
* * *
„Vorsichtig, vorsichtig,” ermahnte Konstantin v. Radommeck leise den Dienstmann, der ihm einen Christbaum die Treppe hinauftrug. Der Alte hatte den Baum — fertig aufgeputzt und mit Lichtern versehen — aus dem Schaufenster eines Seifengeschäftes weggekauft. „Vorsichtig, mein Lieber. Wir haben so wie so schon eine ganze Masse Verzierungen unterwegs verloren. — Haaalt! Nun warten Sie noch einen Augenblick —”
Konstantin v. Radommeck zog zunächst die Brieftasche und band sie oben an den Baum. Dann zündete er die Lichter an und lohnte den Dienstmann mit einem harten Taler ab. Eine Minute wartete er noch — lauschend und mit glänzenden Augen — bis er die Haustür zufallen hörte. Darauf nahm er die Mütze ab, räusperte sich furchtbar — und in abgrundtiefem Baß dröhnte es durch den Flur, daß die Scheiben klirrten,
Stille Nacht, heilige Nacht,
Alles schläft, einsam — —
Weiter kam er nicht. Oberleutnant Grothe war aus seiner Wohnung gestürzt. Einen Moment mimte er die Erstarrung von Frau Lot — im nächsten schon hatte er dem frommen Sänger beide Hände vor den Mund gedrückt.
„Onkel! Bist du verrückt?”
Es klang so zwischen Lachen und Schluchzen.
„Wieso — du Bengel, infamer! Ist das verrückt, wenn ich dir trotz deines unschönen Betragens hier eine Ovation bringe? Also, hinein mit dem Baum!”
„Gleich, gleich, Onkelchen! Nur einen einzigen Moment erlaube —”
Er verschwand in der Wohnung. Herr v. Radommeck hörte ein hastiges Flüstern, dann Türenschließen. Der Alte wurde ernst, zog die Brauen hoch und pfiff leise durch dien Zähne.
Als Bernhard Grothe zurückkehrte und den Baum hineintragen wollte, hielt er ihn am Arm zurück.
„Warte doch, mein Junge. Wir wollen hier erst zur Entscheidung bringen, ob ich mit der Bescherung wieder abziehen muß. Da oben in der Brieftasche sind dreißigtausend Kronen Kommißgeld zum Heiraten. Willst du die Konstanze nehmen? Sag's kurz — ja oder nein!”
„Natürlich will ich!” sagte der Offizier und lachte über das ganze Gesicht.
„Und du hast keine andere am Bändel?”
„Nicht die Spur!”
„Na also — dann hinein mit dem Baum!”
In dem kleinen, aber wohnlichen Zimmer — anscheinend die Arbeitsstube des Neffen — fügte er noch hinzu:
„Und das sage ich dir, es wird nicht lange gefackelt, sondern schleunigst geheiratet. Der arme Wurm wird sich da nett abquälen in London zwischen den fremden Menschen. Binnen drei Monaten seid ihr Mann und Frau. Dein Wort darauf!”
„„Noch früher, Onkelchen, viel früher!”
„Erlaube — — viel früher wird das wohl kaum gehen —”
„Aber gewiß. Da das Kommisvermögen da ist, sind wir mit einer Geschwindigkeit verheiratet, über die du staunen wirst. Sind's wirklich dreißigtausend?”
„Vierperzentige Goldrente!”
Bernhard Grothe führte den maßlos Verblüfften ins Nebenzimmer, wo bereits ein anderer Lichterbaum brannte. Eine kleine Frau — blond und rosig wie eine frisch gepflückte Goldreinette — legte die Arme um den Hals des Alten.
„Die Konstanze — hol mich dieser und jener! Es ist wahrhaften Gott die Konstanze! Kinderchen, wie — wie habt ihr das gemacht — ohne Geld — ohne euren alten Esel von Onkel!”
„Mit Pump, Hunger und Liebe,” erklärte der Offizier und seine Augen feuchteten sich. „Sie hat tapfer alles mit durchgehalten.”
„Laßt mich erst setzen. Ich habe ein Reißen in beiden Knien. So eine Unverfrorenheit! Heiratet die Gesellschaft frech hinter meinem Rücken! Wie lange spielt die Geschichte schon?”
„Gestern war's ein Jahr,” lächelte die junge Frau und schmiegte sich an den Arm, den der Gatte um ihre Schulter gelegt.
„O diese Rastelbande! Ich reiße euch die Ohren ab — morgen. Und wenn du nun noch deinen Abschied nimmst, auch die Nase! Heute aber, Kinder, heute gebt mir jeder einen Kuß, und dann laßt uns zusammen singen:
O du fröhliche, o du — — ”
Diesmal legte die kleine Frau Oberleutnant dem Oheim die Hand auf den Mund.
„Ach nicht, bitte,” hauchte sie unter heißem Erröten. „Es könnte aufwachen — — ”
„Ein ,es' ist auch schon da?” schrie der Alte. „Dann, Kinder, fühle ich mich unter keinen Umständen an meinen Schwur gebunden! Acht Tage habe ich auf Wasser geschworen. Diese Stunde aber umfaßt ein Jahr. Und das genügt. Eine Flasche Rotwein, Bernhard — auf daß ich die Augen klar kriege, um mir ,es' anzusehen! —”
— — —