Manöver-Humoreske von Teo von Torn.
in: „Coblenzer Zeitung” vom 05.09.1900,
in: „Leipziger Tageblatt” vom 06.09.1900,
in: „Prager Tagblatt” vom 08.09.1900, Seite 17 und
in „Stralsundische Zeitung, Sonntagsblatt” vom 09.09.1900
Als der liebe Gott die Welt geschaffen hatte, sah er, daß sie gut war, und er ruhte am siebenten Tage. Später aber bemerkte er, daß noch Etwas fehlte. Er sah eine Menge Menschen, mit bunten Röcken angethan, wochenlang über Stoppeln hopsen, durch Gräben waten und dafür angeschnauzt werden. Das that dann dem lieben Gott leid — und er schuf den Ruhetag im Manöver.
Mit diesem Ruhetag ist es aber gerade wie mit „Rindfleisch und Plummen”. Es ist sehr schön, wenn man ihn hat; aber manchmal hat man ihn und hat ihn doch nicht. Im Einzelnen ist das Pech, im Allgemeinen aber liegt der Grund darin, daß man beim Militär etwas ganz Anderes unter Ruhe versteht wie beim Civil. Es erhellt das schon daraus, daß der Civilist in dem Commando „Stillgestanden!” nach dem allgemeinen Sprachgebrauch eine Aufforderung zur Ruhe erblicken kann, was bekanntlich nicht zutrifft, denn keine soldatische Thätigkeit ist so schwer wie das Stillstehen. Mancher lernt es nie, und dann auch noch unvollkommen. Der militärische Ruhebegriff ist — „Rührt Euch!”
Die königliche Zweite aber hatte einen Ruhetag, und zwar einen wirklichen. Wie sich das gefügt hatte, war dem Hauptmann von Budde schleierhaft, aber er lehnte es ab, darüber nachzudenken. Derselbe unerforschliche Rathschluß, welcher ihn mit seiner Compagnie in das links von der Geographie gelegene Nest versprengt und seine strategischen Qualitäten für vorläufig vierundzwanzig Stunden außer Betrieb gesetzt, derselbe mußte ihn da auch wieder herausholen. War es nicht richtig, daß er da lag — und beim Militär ist in zehn Fällen immer elf Mal nicht richtig, was gemacht wird — so bekam er Etwas auf den Hut, aber der Herr Major würde dann wanhrscheinlich auch Eins auf den Hut bekommen, vielleicht sogar der Herr Oberst — und das ist ja immer eine gewisse Beruhigung. Solamen miseris socios habuisse malorum.
Hauptmann von Budde hatte es sich in seinem Quartier, einem ganz ansehnlichen, netten Gasthofe, so bequem gemacht, als das vorübergehend überhaupt möglich ist. Während seine Unterthanen die köstlichen Stunden der Ruhe mit Sachenreinigen, Minne, Ansichtspostkarten und sonstigen friedlichen Erholungen frei nach Wahl ausfüllten, saß er am Stammtisch des „Blauen Beils” und setzte den Honoratioren von Nieder-Schidlowitz die taktische Situation auf dem europäisch-chinesischen Kriegsschauplatze auseinander. Und er hatte die Freude, an einer allgemeinen Maulsperre das dankbare Verständniß für seine kühnen Darlegungen constatiren zu können. Nur ein einziger der Herren, ein emiritirter Professor, wollte sich den Anschein geben, im Reiche der blumigen Mitte besser informirt zu sein — bloß daraufhin, daß er sich sechs Jahre studienhalber dort aufgehalten. Aber was ist ein Professor? Nach der bekannten Definition ist das ein Mann, der anderer Meinung ist. Darauf war also nicht viel zu geben. Immerhin legte der Herr Hauptmann Werth darauf, auch diesen Einwandsmenschen zu überzeugen. Er bestellte sich ein neues „Helles”, stützte die Arme breit auf den Tisch und wollte eben geistig ausholen, als eine Ordonnanz in der Thür erschien.
„Eine Estafette, Herr Hauptmann.”
„Alle Wetter — pardon, meine Herren! Nun, was gibt's?!” fragte er draußen.
„Ein schriftlicher Befehl nach Ober-Schidlowitz,” meldete der Reiter auf schaumbedecktem Rosse.
„Ja, Kind, was soll ich denn damit!” replicirte der Hauptmann, indem er zögernd das Couvert in Empfang nahm. „Hier ist seit undenklichen Zeiten Nieder-Schidlowitz.”
„Zu Befehl, Herr Hauptmann! Habe aber nur Ordre bis zur nächsten Etappe, und das ist hier. Der Befehl ist dringend, Herr Hauptmann.”
Die nöthigen Formalitäten wurden erledigt, der Mann ritt ventre à terre ab, und Hauptmann von Budde sah sich mit einem Befehl allein, der schleunig war. Militärische Befehle sind ja immer schleunig, aber ein solcher, bei dem das noch besonders bemerkt war, erheischte die Geschwindigkeit eines geölten Blitzes — und mit dieser mußte nun die Ordre nach Ober-Schidlowitz weiterbefördert werden.
Einen Moment sah der Hauptmann rathlos in die trübe Oelfunzel, welche vor dem Gasthofe als einzige Laterne des Ortes brannte und dann in das noch weniger erleuchtete Gesicht der Ordonnanz. Das relativ schnellste Beförderungsmittel war ja ein Pferd. Aber woher nehmen! Was man am Tage von diesen Säugethieren im Orte gesehen hatte, das ähnelte mehr einem Kleiderhaken, als einem Rosse. Und des Herrn Hauptmanns eigene Lolo? Abgesehen davon, daß das edle Thier die seltsame Eigenschaft hatte, sich im Dunkeln zu graulen, war es auch von jeher mehr für Reputirlichkeit vor der Front als für besondere Fixigkeit gewesen. Galopp war Etwas, das Lolo nur im äußersten Nothfalle riskirte, und dann auch nicht lange. Plötzlich kam dem Häuptling eine Idee.
„Der Einjährige Helmers soll sich sofort bei mir melden — aber dalli ein bißchen!” rief er der enteilenden Ordonnanz nach. Er selbst stürmte in die Honoratiorenstube zurück mit der Frage:
„Es gibt doch Fahrräder hier am Orte, meine Herren?”
„Na und ob!” erscholl es ihm aus der Tafelrunde fast entrüstet entgegen. „Sogar drei Stück!”
„Ich selbst habe eins!” rief der Apotheker und erhob sich diensteifrig.
„Würden Sie die Güte haben, dasselbe für ein paar Stunden in königlichen Dienst zu stellen?”
„Aber mit dem größten Vergnügen, Herr Hauptmann. Es ist nur etwas älterer Construction — und man muß das Schwergewicht mehr auf das linke Pedal legen — —”
„Ich bitte Sie, das ist ja ganz gleich,” erwiderte der dienstnervöse Compagniechef, „wenn das Ding nur überhaupt geht!”
Der Apotheker lief und Helmers, der Knabe kam. Die Ordonnanz hatte ihn gleich in dem großen Gastzimmer des „Blauen Beils” aufgestöbert, wo er seinen Schleifstein, den Sergeanten Solecki, begoß. Nicht, daß dadurch dem „Schleifen” irgend welcher Eintrag geschah — im Gegentheil; der Sergeant hatte die üble Eigenschaft, seinen Kater immer auf den nachwirken zu lassen, der ihn bezahlt hatte. Aber es war doch nicht ohne Reiz, mit Jemand, der die Berechtigung hatte, Einen „krummer Hund” zu schimpfen, ein paar Stunden einträglich zusammenzusitzen und ihn, wenigstens temporär, seiner Ueberlegenheit zu entkleiden.
Gerade begann die Würde und Höhe sich etwas zur Verträglichkeit zu neigen, als die Abberufung kam und Helmers, der sich in der Gesellschaft des gestrengen Vorgesetzten bereits zu fühlen begann, mit einem Schlage ganz klein machte. Denn gerufen ist so gut wie angehaucht, und auf dem Kerbholz hat schließlich Jeder Etwas. Aber die Lebensgeister des entsetzten Einjährigen hoben sich, als der Hauptmann ihn vertraulich an einem der nicht allzu blanken Knöpfe faßte.
„Sie fahren Rad, nicht wahr?”
„Zu Befehl, Herr Hauptmann — ich bin Professional.”
„So, sehr schön! Dann werden Sie jetzt sofort nach Ober-Schidlowitz fahren.”
„Zu Befehl, aber —”
„Sie werden dem Herrn Hauptmann von Werkenthin diese Ordre abgeben,” fuhr der Chef mit erhobener Stimme fort. „Hier kommt ein Rad und nun los! Aber ein bischen plötzlich, wenn ich bitten darf!”
„Nun weiß der nicht mal, wo Ober-Schidlowitz liegt! Es ist unglaublich! Wo liegt denn Ober-Schidlowitz, Herr Apotheker?”
„Immer der Nase nach — Sie können nicht fehlen. Wenn der Herr Einjährige aber den ersten Fußweg links abbiegt, so kann er einen Viertelstunde Weges sparen.”
„Verstanden, Helmers?”
„Zu Befehl, Herr Hauptmann.”
Der Einjährige machte sich mit einem eleganten Hopser stahlberitten und sauste davon. Was man so sausen nennt. Der Unglückliche bemerkte bald, daß die Maschine zu jenen Species gehörte, die in Sportkreisen mit dem unästhetischen Namen „Hämorrhoiden-Chaise” bezeichnet und als Fortbewegungsmittel nur bei Vorspann von zwei starken Pferden zu gebrauchen ist. Aber was half's! Er trat, daß der Karren ordentlich aufquietschte — — im nächsten Moment saß er zwischen der Maschine und dem abgebrochenen rechten Pedal auf dem Pflaster.
„Donnerwetter!” schrei der Hauptman, welcher mit der Corona von Honoratioren der Estafette nachgesehen hatte, „Einjähriger halten Sie sich nicht auf! Was ist denn los?”
„Ich habe das Pedal verloren!” stöhnte dieser zurück, indem er sich aufrichtete und befühlte. „Wenn ich um ein anderes Rad bitten dürfte —”
Ein anderes Rad! Zwei der dienstwilligen Bürgersleute stürmten davon und nach wenigen Minuten kamen beide fast gleichzeitig mit ihren Maschinen zurück. Mit Kennerblick wählte der Einjährige die zuverlässigste und zog nun flott ab, daß der Hauptmann mit seinem civilistischen Stabe beruhigt zum Schoppen zurückkehrte.
Man sprach zuerst noch Einiges vom Radfahren, kam dann aber wieder auf den europäisch-chinesischen Krieg; und der Hauptmann legte eben eine scharfe Lanze gegen den obstinaten Professor ein, als ihm — es mochte wohl eine halbe Stunde vergangen sein — der Einjährige Helmers gemeldet wurde.
„Nanu! Sind Sie schon wieder da? Das ist ja wohl nicht möglich!”
„Zu Befehl, nein, Herr Hauptmann.”
„Aber so reden Sie doch, Herr! Es handelt sich um einen eiligen Befehl!! Was ist denn schon wieder passirt?!”
„Ich habe zwei Gänse todtgefahren, und da hat mir der Bauer die Maschine confiscirt. ich wollte den Schaden bezahlen, aber er ließ sich nicht darauf ein.”
„Mensch! Sie sollen nach Ober-Schidlowitz und nicht auf die Gänsejagd! Es ist ein eiliger Befehl — was soll nun werden!”
„Wenn ich um ein anderes Rad bitten dürfte — —”
Ein anderes Rad! Den letzten der Mohikaner! Etwas kleinlaut machte der Steuer-Controleur darauf aufmerksam, daß seine Maschine noch draußen stände.
„Also raus, Herr!” pfauchte Hauptmann von Budde, „und kommen Sie mir unverrichteter Sache nicht wieder vor die Augen!”
Leider geschah das schon in der nächsten Minute, denn soweit man auch spähet und blicket — das dritte Rad von Nieder-Schidlowitz war fort — — gestohlen!
* * *
Es war nichts Anderes übrig geblieben. Da Niemand in der weiten Welt sich mit des Herrn Hauptmanns „Lolo” auf eine Distanz von 12 Kilometer Galopp geeinigt hätte, hatte er selbst es unternommen. Zuerst war es furchtbar gewesen. Bei jeder Hilfe hatte Lolo Quiek gemacht und noch 'was Anderes und hinten ausgeschlagen. Schließlich aber war das Schlachtroß in Schuß gekommen — und, ohne gerade einen Weltrecord geschaffen zu haben, traf man in Ober-Schidlowitz ein.
Im „Hahn” war die Situation fast genau so, wie sie im „Blauen Beil” gewesen, ehe der Störefried mit der eiligen Meldung eingeritten war. Den Hauptmann von Budde ergriff so Etwas wie Schadenfreude, als er durch die erleuchteten Fenster den Cameraden beim „Hellen” sitzen und anscheinend ebenfalls über China dociren sah. Der sollte schon mobil werden! Sicher handelte es sich um eine Marschordre oder sonst 'was Schönes.
„Herrje, Budde — wo kommen Sie her! I, das ist aber nett!” rief Hauptmann von Werkenthin. „Gestatten die Herren — Herr Hauptmann von Budde — Herr Kataster Inspector — — —”
„Pardon, einen Moment,” wehrte Herr von Budde dienstlich ab, indem er sich leicht verneigte. „Hier ein schriftlicher schleuniger Befehl, Herr Camerad.”
„Barmherziger! Was kann das — — — aber Liebster, das ist ja gar nicht für mich!”
„ Nicht — für — —?”
„Nee!”
„Ist denn hier nicht Ober-Schidlowitz?!”
„Allerdings, aber adressirt ist doch an den Hauptmann und Compagniechef der zweiten Compagnie des etc. etc., Herrn von Budde!”
Der Hauptmann der königlichen Zweiten tastete zuerst nach einem Stuhl und dann mit dem Fuße nach einem mitleidigen Erdspalt. Zwölf Kilometer war geritten, um zu erfahren, daß er sofort zu allarmiren und bei Herzfelde — vier Meilen nach der anderen Seite hin — zur ersten Compagnie zu stoßen habe.
Auf dem düsteren Heimwege war dem Geknickten nur das Eine absolut klar, daß er nämlich Eins auf den Hut bekommen würde, und aus diesem Hut dürfte dann wahrscheinlich ein Cylinder werden — aber der Herr Major, der sich im Ort geirrt, würde wahrscheinlich auch eins auf den Hut bekommen, vielleicht sogar der Herr Oberst — — und das ist ja immer eine gewisse Beruhigung.
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