Humoreske von Teo von Torn
in: „Rostocker Zeitung” vom 28.8.1904
in; „Trierische Landeszeitung” vom 2.9.1904
in: „De Preanger-bode” vom 20.9.1907
in: „Het nieuws van den dag voor Nederlandsch-Indie” vom 24.10.1908
in: „Baltische Post” vom 24.5.1912
Man kann im allgemeinen ein höflicher Mensch sein, zuzeiten aber keine Stimmung haben, das zu betätigen.
Es war knapp 5 Uhr morgens, als der Salondampfer bei Harwich die grauen Gestade Englands anlief, um noch einige Passagiere für die Vergnügungsfahrt nach dem Norden an Bord zu nehmen. Nur ein par passionierte Frühaufsteher waren an Deck, um den Zuwachs der Reisegesellschaft zu begutachten.
Zu diesen Neugierigen gehörte Leutnant v. Kreuß nicht. Für ihn war Vergnügen stets das genaue Gegenteil vom Dienst. Da er im Dienst meist sehr früh aufzustehen hatte, so stand er zu seinem Vergnügen sehr spät auf — namentlich nach einer solchen strammen Sitzung, wie sie gestern im Rauchzimmer stattgefunden hatte. Er hatte überhaupt keine rechte Ahnung, wie er zu Bett gekommen war. Nur soviel schwebte ihm noch dunkel vor, daß Graf Mylimg und der zu allen Dummheiten aufgelegte Rittmeister Schlobach ihn in die Kabine begleitet und fürchterlich gelacht hatten. Wahrscheinlich wegen der Schlingerbewegung des Dampfers, die der Einfahrt durch die schmale Kabinentür bedeutende Schwierigkeiten entgegengestellt hatten.
All das war kaum drei Stunden her. Da durfte kein Mensch verlangen, daß man sich erhob. Im übrigen: Was konnte von England gutes kommen? Graf Myling hatte es zwar fertig gebracht, sich kurz vor seiner Abreise durch Vermittlung von Verwandten telegraphisch mit einer englischen Dame zu verloben, die er nie gesehen. Einer Deutsch-Engländerin zwar, aber doch einer Engländerin. Leutnant v. Kreuß war das unverständlich. Er hatte gegen England nicht nur die allgemeine, sozusagen standesgemäße Abneigung, sondern noch eine spezielle persönliche, welche mit dieser Reise zusammenhing.
Zwei Tage war er in seiner Kabine Alleinherrscher gewesen. Ein idealer Zustand. Er hatte keinerlei Rücksicht zu nehmen gehabt — keine jener ungezählten Rück- und Vorsichten, die man einem Kabinengenossen gegenüber im Wachen ebenso wie im Schlafe zu beobachten hat. Das zweite Bett war ihm eine willkommene Ablagerungsstätte gewesen für allerhand Sachen, die hart im Raume sich zu stoßen pflegen. Das würde nun anders, ganz anders werden — ein Engländer sollte mit ihm die Kabine teilen. Nach alledem, was Volkmar v. Kreuß über reisende Engländer gehört, bereitete er sich auf einen zähen Kampf um seine nationalen und persönlichen Rechte vor — und er war entschlössen, auch nicht die leiseste Konzession zu machen.
So kann man also im allgemeinen ein höflicher Mensch sein, zu Zeiten aber keine Stimmung haben, das zu betätigen.
Als Leutnant v. Kreuß Schritte nahen hörte, zog er — obwohl es stockdunkel in der Kabine war — den Vorhang am Kopfende seines Lagers zu und markierte seinen gesündesten Schlaf. Er war fest entschlossen, sich durch niemand und durch nichts stören zu lassen.
Schon in der nächsten Minute wurde er mit diesem Vorsatz auf eine harte Probe gestellt. Gleich nachdem die Tür sich geöffnet, wurde Gepäck hineingetragen. Plötzlich fühlte er seine unteren Extremitäten durch einen schweren Gegenstand bedrückt — einen Koffer, eine wohlgefüllte Handtasche oder dergleichen. War es zu glauben, daß dieser Englishman gleich beim Entree sein Gepäck auf den Füßen eines königlich preußischen Leutnants verstaute?
Der Offizier lehnte den Koffer ab, so daß er polternd zu Boden fiel. Das Ding hatte aber noch nicht ganz ausgetrudelt, als es schon wieder hinaufgestellt wurde — diesmal mit mehr nachdruck und in Begleitung noch eines zweiten, ziemlich harten Gepäckstückes, das den Schläfer gerade an der Stelle seines linken Fußpes bedrückte, die er wegen einiger Hornhaut zu seinen empfindlichsten zählte. Volkmar von Kreuß suchte unter seinen englischen Vokabeln nach einer Uebersetzung für „Unverschämtheit” und „Das verbitte ich mir”. Da er nicht gleich das passende fand, wollte er sich eben auf gut Deutsch äußern, als ein fürchterlicher Schrei ihm den Atem verschlug.
So empfindlich auch das Gepäck auf ihm lastete, er lag mucksstill und rührte kein Glied.
Man sprach — und zwar nicht jenes gekaute, aus alten Backentaschen hergeholte Gouvernantenidiom, sondern deutsch, und dieses Deutsch wurde nicht von einem Engländer geradebrecht, sondern kam fließend von den Lippen zweier — Damen.
„Wir sind hier recht?” fragte eine muntere, glockenhelle Stimme.
„Sehr wohhl, gnädiges Fräulein,” erwiderte ein anderes, mehr auf Alt gestimmtes Organ. „Kabine Numero 17. Befehlen Sie, daß ich Licht mache?”
Der unglückliche Leutnant, dem bei Nennung der Kabinennummer ein Verdacht zur schrecklichen Gewißheit geworden war, fühlte kalte Tropfen auf seiner Stirn. Die Bande hatte ihn heute früh nicht in seine, sondern in die gegenüberliegende fremde Kabine geführt. Wenn jetzt das elektrische Licht angedreht wurde, dann war der Kladderadatsch fertig. Aber — Gott sei Dank — die Katastrophe schien sich noch zu verzögern.
„Lassen Sie nur,” wehrte die hellere Stimme ab. „Wir wollen gleich wieder an Deck. Der Steward muß zunächst lüften. Es ist eine entsetzliche Atmosphäre hier. Sogar nach Weindunst und Zigarren riecht es. Kommen Sie. Ich brenne übrigens vor Neugier, mir diesen Herrn Grafen, dem man mich so meuchlings anverlobt hat, einmal anzusehen. Sie nicht auch, Hanna?”
„Gewiß, aber — — es wäre besser gewesen, Sie hätten dem Vorschlage Ihres Herrn Oheims zugestimmt, den Herrn Grafen nach Pillsbury kommen zu lassen. Diese Reise ist doch etwas abenteuerlich, gnädiges Fräulein — —
„Sie ist die Bedingung für meine Zustimmung. Einen Menschen, der sich so unbesehen verlobt, muß man in Freiheit dressiert beobachten, um zu erkennen,ob er ein smarter Kerl, ein Schafskopf oder ein Glücksritter ist. Halten Sie sich also streng an unsere Verabredung, Hanna. Wer sind Sie?”
„Ich bin die Tante des gnädigen Fräuleins —”
„Das ist Unsinn, Hanna. Man ist nie die Tante eines gnädigen Fräuleins, sondern die Tante einer Nichte, einer ganz gewöhnlichen Nichte. Wir sind also nicht Miß Maud Reimers aus Pillsbury nebst Gesellschafterin, sondern —”
„Mrs. Webster und Nichte aus London.”
„Außerdem sprechen und verstehen wir nicht eine Silbe deutsch —”
„Keine Silbe.”
„All right! Walk on —!”
Die Damen waren bereits außer Hörweite, und es lag die Grefahr vor, daß der Steward kam und mit der „entsetzlichen Atmosphäre” auch den Eindringling hinauslüftete. Leutnant v. Kreuß brauchte aber noch eine volle Minute, um die mit Maulsperre verbundene Lähmung zu überwinden, in die der erste Schreck und die Ueberraschung ihn versetzte. Dann weckte er seine Beine, welche unter der doppelten Belastung friedlich eingeschlafen waren, und machte Licht. Mit einer Geschwindigkeit, die er sich nie zugetraut, ordnete er flüchtig das Lager, suchte seine Sachen zusammen und sprang mit einem gewaltigen Hops über den schmalen Gang in seine Kabine.
Hier hatte er zunächst seinen richtigen Kabinengenossen — einen jungen Belgier — der ob der plötzlichen und seltsamen Erscheinung entsetzt flüchten wollte, wieder einzufangen und zu beruhigen. Der junge Mann verstand zwar von der Räubergeschichte, die Herr v. Kreuß ihm in seinem Kadettenfranzösisch vortrug, nicht eine Silbe. Da er aber nicht gemordet wurde, gab er sich schließlich zufrieden.
Der Trompeter von Freßlingen — zu den Mahlzeiten an Bord wird stets durch Hornsignale gerufen — hatte längst seine Fanfare geschmettert. Das Frühstück war bereits im Gange, als Volkmar v. Kreuß sich mit gemischten Empfindungen zum Speisesaal aufmachte. Zweierlei hatte ihn aufgehalten. Einmal eine besonders gewählte Toilette, die er sogar ein wenig parfümiert, um auch den leisesten Hauch von Weindunst und Zigarren zu beseitigen; zum anderen hatte er einen schweren Kampf gekämpft. Sollte er den ahnungslosen Myling informieren? Eigentlich war das wohl seine Pflicht. Andererseits aber — hatte ihn der ruchlose Mensch nicht in die gräßlichste Situation gebracht? In eine Situation, bei deren Erinnerung sich ihm jetzt noch die Haare sträubten, so daß er immer wieder mit der Taschenbürste darüberfahren mußte. Leutnant v. Kreuß war entschlossen, die Dinge ihren Lauf gehen zu lassen.
Schon auf der Treppe, welche in den Speisesaajl hinunterführte, bemerkte er, daß der Tisch, an welchem er mit dem Rittmeister Schlobach und Graf Myling bisher allein gesessen, Zuwachs erhalten hatte.
Zwei Damen — eine ältere, so zwischen die vierzig und fünfzig, aber noch gut erhalten — und eine jüngere: ein zierliches Figürchen mit schmalen Schultern und Kinderhänden. Sie war keine Schönheit im landläufigen Sinne; dennoch hatte das Gesicht in seiner Umrahmung von lichtem, kornblondem Haar einen feinen, pikanten Reiz. Um den Mund, dessen Oberlippe ein wenig vorgeschoben war, spielte leise ein ironischer Zug. Die Augen dagegen blickten so gleichmütig und langweilig, als interessierte sie nichts — am allerwenigsten die beiden Herren, welche ihr gegenüber saßen, und der dritte, der sich soeben vorstellte.
Leutnant v. Kreuß hatte seinen Namen genannt, sich höflich verbeugt und Platz genommen. Daß er heftig errötet war, lag einmal an der Erinnerung, die ihn unwillkürlich wieder nach seiner Haarbürste zucken ließ, und an der ungenierten Heiterkeit, mit der die beiden Banditen ihn empfingen.
„Stürzen Sie sich den Damen gegenüber nicht in Unkosten, Kreuß,” lachte der Graf. „Die alte Spinatwachtel und ihr Küken — — Mensch, kneifen Sie mich nicht; wenn Sie wegen der Schlafstelle mit mir abrechnen wollen, so machen Sie das nachher — — die große und die kleine Wachtel also verstehen keinen Ton deutsch. Haben wir schon ausbaldowert. Zunächst dachten wir, sie wären taub. Aber das nicht. Bloß englisch. Schlobach hat vom Steward 'n Lexikon holen lassen, um sich mit ihnen zu unterhalten. Nicht zu machen. Als Schlobach anfing, haben sie sich angesehen, wie zwei Miezekatzen, die donnern hören, haben dann bedauernd die Köpfe geschüttelt und nicht pips gesagt. Nette Nachbarschaft, was?”
Der Leutnant hatte sich schon zum drittenmal an seinem Tee verschluckt. Nachdem ihm Myling freundschaftlich aufs Kreuz geklopft und er sich zurechtgehustet, würgte er angestrengt hervor: „Ich — — ich finde — im Gegenteil — — die Damen scheinen sehr liebenswürdig — —”
„Liebenswürdig hat er gesagt, Schlobach,” quiekte der Graf. — „Nicht pips und dabei liebenswürdig! Ja, Menschenskind, haben Sie denn Ihr bißchen Urteilsfähigkeit schon zu Anfang dieser Erholungsreise eingebüßt? Ich glaube, Sie sind imstande und verlieben sich in den kleinen Strohhalm! — Zum Donnerwetter, kneifen Sie mich doch nicht ewig! Haben Sie denn wirklich so schlecht geschlafen auf Nummer 17? — Auuuu —!!”
Kreuß wußte nicht mehr, was er mit dem Unglücksmenschen anstellen sollte. Wie erlöst atmete er auf, als die Damen, die ihr Frühstück inzwischen beendet, Miene machten, sich zu erheben.
„Na, Gott sei Dank —” sagte auch der Graf. „Die stumme Familie verläßt den Tempel. Ich bin gespannt, ob sie wenigstens zum Abschied einen Ton sagen werden —”
Beide Damen waren aufgestanden. Während die ältere kaum merklich den Kopf neigte und davonging, verharrte die jüngere noch eine Sekunde, richtete die graublauen Augen fest auf das verdutzte Gesicht des Grafen und sagte trocken: „Blockhead —”
Alsdann neigte auch sie das Köpfchen, was aber sichtlich nur Kreuß galt, und folgte ihrer Gesellschafterin.
„Was hat sie gesagt?” fragte Myling, etwas bekniffen. „Blockhead? Haben Sie eine Ahnung, Kreuß, was Blockhead heißt?”
„Nein.”
„Und Sie, Schlobach? Sie haben doch ein Lexikon —”
„Ich seh schon nach — — warten Sie mal 'n Augenblick. Gleich werden wir's haben. Block — to blockade — — aha, hier ist's schon: Blockhead — heißt — — — au verflucht!”
„Na los! Was heißt's denn!?”
„Blockhead — hm — heißt nicht mehr und nicht weniger wie — — Schafskopf.”;
Als der Dampfer am nächsten Tage in Bergen vor Anker ging, wurden zwei Telegramme nach Pillsbury in Endland aufgegeben. In dem einen teilte Graf myling seinem Vetter mit, daß er hier die Reise abbreche und nichts sehnlicher wünsche, als ihm den Hals umzudrehen. Ob er denn nicht gewußt habe, daß Miß Maud Reimers mit demselben Dampfer gen Norden gefahren sei!;
In dem anderen drahtete Miß Maud Reimers an ihren Onkel und Vormund, daß es ihr sehr gut gehe und daß sie sich über kurz oder lang wahrscheinlich auch verloben werde — — aber mit einem andern.
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