Tüt's Pfingsturlaub

Humoreske von Teo von Torn
in: „Bielefelder General-Anzeiger” vom 30.05.1903


Dieselben Eigenschaften des Verstandes und des Gemüts, welche den kleinen dicken Titus von Falkenhayn gezwungen hatten, seine Gymnasialstudien mit der — na sagen wir schon Reife für Unterprima abzuschließen, hatten sich auch seiner militärischen Laufbahn bisher wenig förderlich erwiesen.

Die Fähnrichprüfung hatte er durch eine Verkettung vieler günstiger Umstände glücklich bestanden. Ob er wirklich gewußt, was man ihn gefragt hat oder ob man ihn nur gefragt, was er gewußt hat — es ist das ein wesentlicher Unterschied — jedenfalls hatte er bestanden.Und fast überraschender noch als diese Tatsache war für alle, welche „Tüt” kannten, der Umstand, daß er während der sechs Tage des Examens nicht ein einziges Mal um Urlaub eingekommen war!

Es ist ein weitverbreiteter psychologischer Irrtum, daß die gemütvolle Anlage eines Menschen sich in allen seinen Lebensbetätigungen äußert. Namentlich in der Jugend ist das durchaus nicht der Fall. Der mitleidsvolle Sechser, welchen man einem blinden Drehorgelspieler darreicht, schließt die Neigung nicht aus, einen Ringelaffen in den Schwanz zu kneifen — und durch die Tränen der Rührung, welche man bei einer eindrucksvollen Sonntagspredigt vergießt, läßt sich immer noch mit Interesse beobachten, ob und wie ein Brummer sich auf drei Beinen bewegt. Das jugendliche Gemüt hat also seine Spezialitäten. Die Spezialität von Tüt Falkenhayn war das Heimatgefühl.

Schon von klein auf hatte er gewissenhaft jeden Gedanken zwischen den unregelmäßigen Verbis und der selbstangelegten Karnickelhecke auf Schloß Erba geteilt; zwischen dem schwierigen Brückenbau-Kapital [wohl recte: Kapitel. D.Hrsgb.] in Caesars de bello gallico und den neunen Fohlenkoppeln, von denen die Schwester ihm kürzlich geschrieben, zwischen den verschiedenen Beweisen des Pythagoräischen Lehrsatzes und dem heimatlichen Park, dessen lockendes Rauschen ihm selbst auf der Schulbank in die etwas abstehenden Ohren tönte.

In der Sexta war er einmal mitten aus der lateinischen Stunde hinweg zur Bahn gepilgert, um auf Grund eines richtig gelösten Perronbillets „erster Klasse nach Erba” zu fahren. Derartige aussichtslose Scherze machte er in späteren Jahren natürlich nicht mehr — aber wie als Gymnasiast, so drehte sich auch als Fahnenjunker all sein Dichten und Trachten um den Begriff Urlaub.

Man muß das alles wissen, um ermessen zu können, was für ihn ein Zwischenfall bedeutete, der sich drei Tage vor den seit Ostern schon sehnlichst erwarteten Pfingstferien abspielte.

Tüt Falkenhayn war auf Kriegsschule und lernte Ulan. Was man so in den ersten zwei Monaten lernen nennt — und dazu unter besonders ungünstigen Umständen. Auf der Kriegsschule gibt es vier sogenannte Inspektionen und dementsprechend vier Hörsäle, welche nach den ersten Buchstaben des Alphabets bezeichnet werden: Im Hörsaal A sitzen die Auserwählten, in B die Beanlagten, in C die Kadetten und in D die Dummen. Das ist nun zwar nicht ganz so wörtlich zu nehmen, wie der Fähnrichwitz es hier ausdrückt — aber ein Körnchen Wahrheit steckt immerhin darin; speziell was den Hörsaal D betrifft, welchen auch Titus von Falkenhayn mit ebenso wenig Begeisterung als Erfolg frequentierte. Es besteht ja ein gewisser Unterschied zwischen Dummsein und Dummheiten machen; aber die Inspektion D vereinigte beide Talente in so glücklicher Weise, daß sie ihren traditionellen Ruf ohne jede Einschränkung gut und ehrlich verdiente. Der Inspektionsoffizier, Oberleutnant von Kammler, flocht täglich als achte Bitte in sein Gebet, der liebe Gott möge die schwere Prüfung dieses Kommandos von ihm nehmen — er würde gern nach Timbuktu gehen und sich dort der mißachteten, aber ersprießlichen Beschäftigung des Hundeflöhens unterziehen.

Drei Tage vor den Pfingstferien wollte es ein tückischer Zufall, daß des Abends in der gesamten Anstalt das elektrische Licht versagte. Ein weiterer Zufall fügte, daß gleich darauf elf Fähnriche der Inspektion D mit brennenden Talgfunzeln in Prozession durch die düsteren Korridore zogen. Als sie ihren Offizier heranfluchen hörten, löschten sie zwar die Fackeln und verkrümelten sich unter dem Schutz der Dunkelheit lautlos — aber sie waren doch zum größten Teil erkannt worden.

Der folgende Tag brachte des Himmels Strafgericht. Beim Mittagsappell ließ Oberleutnant von Kammler die elf Prozessionsbrüder sich melden und vortreten. Nachdem er ihnen einen längeren Vortrag gehalten über das Strafbare des Mißbrauchs einer Königlichen Beleuchtungsanlage, über die Gefahren des Umgehens mit offenem Licht und über das Unmilitärische des Auskneifens auf Anruf eines Vorgesetzten, resümierte er sich also:

„Ihre Studia sind ohnehin nicht gesegnet, meine Herren. Das wissen Sie selbst. Der gestrige Unfug würde in Verbindung mit dem, was die meisten von Ihnen vorher schon ausgefressen haben, nachgerade Ihre Rücksendung an die Regimenter rechtfertigen. Es soll aber diesmal — das letzte Mal! — noch von dem Aeußersten abgesehen werden. Sie werden sämtlich bis Pfingsten auf die beiden abendlichen Freistunden verzichten und um einen Urlaub zum Fest nicht einkommen. Ein solches Gesuch ist eo ipso abschlägig beschieden. Danke. Abtreten.”

Zehn Fahnenjunker machten den unerläßlichen, aber mißglückten Versuch, die Miene einer gekränkten Leberwurst unter einem Dienstgesicht zu verbergen und traten ab. Der elfte blieb. Die runden blauen Augen mit einem Gemisch von Flehen und Eigensinn auf das Antlitz des Offiziers gerichtet, rang der kleine Ulan sichtlich nach einem Wort.

Der Oberleutnant betrachtete ihn ernst und abweisend, obwohl ihm eigentlich gar nicht so zu Mut war. In einer verborgenen Ecke seines Herzens hatte er aus der eigenen Fähnrichszeit volles Verständnis für einen übermütigen Scherz; und in einer andern, ebenso verborgenen Ecke desselben Herzens sprach noch etwas anderes für den kleinen dicken Sünder. Davon ahnte dieser natürlich nichts. Er wußte wohl, daß Herr von Kammler gelegentlich einer Generalstabsübungsreise im vorigen Herbst drei Tage auf Schloß Erba in Quartier gelegen hatte und dann im Winter auch mal zur Jagd geladen war. Das hatte man ihm gelegentlich erzählt. Im übrigen hatte Tüt seinen Inspektionsoffizier bisher für einen netten Kerl ästimiert, weil er sich immer so liebenswürdig und angelegentlich nach „zu Hause” erkundigt. Jetzt wünschte er das Scheusal in die Wolfsschlucht.

„Nun, Fähnrich von Falkenhayn, Sie haben noch 'was auf dem Herzen —”

„Zu Befehl, Herr Oberleutnant — ich — — ich möchte gehorsamst um Pfingsturlaub bitten!”

„Sie haben natürlich nicht wieder hingehört, Fähnrich, als ich vorhin deutlich und ausdrücklich erklärt habe —”

„Sehr wohl. Ich bitte aber den Herrn Oberleutnant, mich anders bestrafen zu wollen. Schicken mich der Herr Oberleutnant in Arrest, oder, wenn's sein muß, auch ans Regiment zurück. Nur um den Pfingsturlaub bitte ich diesmal.”

„Mensch —,” hauchte der Offizier konsterniert, „sind Sie besessen? Halten Sie militärische Strafen für Flundern — zum Aussuchen? Da hört denn doch alles auf! Zum Regiment zurück! Wissen Sie auch, daß das gleichbedeutend ist mit dem Verlust jeder Anwartschaft auf die silbernen Achselstücke?”

„Zu Befehl, Herr Oberleutnant.”

„So. Dann will ich Ihnen mal 'was sagen, Fähnrich. Wenn Sie mir nicht hier auf der Stelle eine ganz stichhaltige und plausible Erklärung für ein so verrücktes Ansinnen geben können, dann fliegen Sie vom Fleck weg in den Kasten. Dasselbe tritt ein, sobald Sie Ihrem Herrn Papa zum zweiten Male in den zwei Monaten Ihres Hierseins einen Geburtstag andichten — auf den ersten bin ich, beiläufig bemerkt, richtig mit einer Gratulation hineingefallen! — oder wenn Sie gar eine Tante sterben lassen. So viel Tanten, wie Sie schon totgelogen haben, gibt es gar nicht. Also bitte —”

Einen Augenblick schimmerte es Tüt von Falkenhayn grün, gelb und jämmerlich vor den Augen. Wenn ihm jetzt nichts einfiel, war er verloren. Dann mußte er brummen, und mit den herrlichen Pfingsttagen auf Erba war es vollends Essig. Da — eine Idee!

„Herr Oberleutnant — — ein größeres Familienfest — die Verlobung meiner Schwester.”

Tüt hatte das Bedürfnis, sich einen Kuß zu geben ob dieses gloriosen Einfalls und seiner prompten Wirkung. Letztere war allerdings zunächst etwas befremdlich.

Der Offizier rückte auf, als wenn ihn ein Schlag getroffen hätte. Einige Sekunden starrte er den Fähnrich wie geistesabwesend an. Das frische energische Gesicht war bleich geworden, und die Lippen bewegten sich, ohne daß er einen Laut herausbrachte. Endlich würgte er hervor:

„Eine Verlobung — das ist etwas anderes — natürlich. Fräulein Hertha — nicht wahr?”

„Zu Befehl, Herr Oberleutnant.”

„Bestellen Sie meinen Glückwunsch, bitte. Ich werde Ihre Beurlaubung beantragen.”

*           *           *

In der Dämmerstunde am Tage vor Pfingsten. Kein Heiligabend ist so weihevoll wie dieser. Namentlich auf dem Lande. Alles ist so feierlich still, wie in atemlosen Erwarten des großen Brausens, des göttlichen Wunders, der Pentekoste. Nur in den Syringen- und Fliederbüschen schlagen die Nachtigallen ihre verträumten Soli.

Im Dorfe unten keine Hütte, die nicht den sattgrünen Schmuck der Birke oder Linde trägt. Die Türen des Kirchleins stehen weit offen. Mädels sitzen davor und flechten Guirlanden für die Altäre und das Muttergottesbild, welches morgen mit in Prozession getragen wird. Andere binden Sträuße und heften sie an die Fahnenspitzen. Festfreude leuchtet aus aller Augen — aber nur ganz vereinzelt hört man ein halblautes Scherzwort, ein unterdrücktes kichern. Es ist Heiligabend.

Auch die Freitreppe, welche zu der von wildem Wein und Klematis dicht umrankten Loggia des Schlosses Erba führte, war von frischen Birkenstämmen flankiert. In einer Ecke des veranda-artigen Einbaus war der Abendtisch gedeckt, an welchem Tüt mit glühendem Eifer nachexerzierte. Eigentlich schon seit zwei Stunden zu Hause, hatte er sich doch erst vor kurzem angefunden. So pflegte er es immer zu machen. Zunächst mußte er alles ansehen und begrüßen. Die Räume des Hauses, die Ställe, den Gemüsegarten, die Fasanerie und alle vertrauten Winkel des Parks. Dann erst war er richtig zu Hause — und Tüts rundes Apfelgesicht strahlte im Glanze eines schier überirdischen Behagens. Es war eben nirgends auf Gottes weiter Welt so wunderschön wie zu Hause. — — —

Und die Klinge, die er dann beim Essen schlug! Er kaute, daß sich ordentlich die Ohren bewegten — was sein Schwesterchen Lizzie, das zwölfjährige Nesthäkchen der Familie, mit Begeisterung konstatierte.

„Verkorkst Dir nicht den Magen, mein Junge,” mahnte der alte Kammerherr von Falkenhayn, indem er die Zeitung bei Seite legte und seine Cigarre frisch in Brand setzte „Es wäre doch schade, wenn Du zum Fest wieder krummliegen müßtest, wie Ostern. Reich' ihm mal die Cigaretten herüber, Hertha. Und dann erzählst Du endlich was, Junge.”

„Gott, laß den armen Kerl doch essen,” schmollte Frau von Falkenhayn, deren Augen zärtlich auf ihrem Verzug ruhten.

„Nee, Mütti, — nu kann ich wahrhaftig nicht mehr!” ließ Tüt sich endlich vernehmen, indem er aufstöhnend in den Korbsessel zurückfiel und die Serviette von sich warf. „Anderseits weiß ich aber auch nicht, was ich erzählen soll. Was passiert denn auf Kriegsschule! Das ist 'ne Penne, wie jede andere, bloß in Uniform und deshalb noch ein bißchen strenger. Ich habe faktisch Schwierigkeiten gehabt, diesmal Urlaub zu bekommen.”

„Das kann ich mir wohl denken,” erwiderte der alte Herr, „nachdem Du in zwei Monaten schon dreimal zu Hause gewesen bist.”

„Da hat wohl Herr Oberleutnant von Kammler ein gutes Wort für Dich eingelegt, nicht wahr, Tüt?” fragte Frau von Falkenhayn mit einem lächelnden Seitenblick auf ihre ältere Tochter, welche sich mit Cigaretten und Feuerzeug näherte. Das schlanke, blonde Mädchen errötete sehr heftig und hatte es sehr eilig, den Bruder zu bedienen.

„Na, das ist nur soso,” bemerkte dieser mit seinem listigen Gesicht. „Wenn ich ihn nicht so glänzend angekohlt hätte, dann wäre ich wohl schwerlich davongekommen. Vielen Dank, Hertha — ich soll Dir übrigens eine Gratulation ausrichten — nee, gib mal her das Streichholz, Du hast einen Tatterich. Eine Gratulation von Kammler —”

„Eine — Gra — tulation — —?”

„Na ja — zu Deiner Verlobung! Ich habe Dich nämlich meuchlings verlobt, mußt Du wissen!”

„Tüt!!!”

„Anders war's nicht zu machen. Aber was habt Ihr denn mit einem Male! Herrje — ist denn das so was Schlimmes?”

Hertha von Falkenhayn hatte mit einem lauten Aufschrei die Hände vor das Gesicht geschlagen und war davon geeilt. Die Mutter ihr nach. Der Kammerherr erwischte zwischen Aerger und Lachen eins der handlich abstehenden Ohren seines maßlos erstaunten Stammhalters und zwang ihn zu einer genauen Beichte.

Nach derselben fand eine lange Familien­konferenz statt, zu welcher Tüt nicht hinzugezogen wurde. Er fand das ebenso befremdlich wie ungemütlich — namentlich auch, da Klein-Lizzie, welche man bei ihm zurückgelassen, sich das Vergnügen machte, immer Schafskopf zu ihm zu sagen.

Sein Unbehagen und seine Verständnis­losigkeit stiegen aber auf das höchste, als er schließlich den gemessenen Befehl erhielt, ein Pferd satteln zu lassen und in aller Nacht zur Station zu reiten mit einem Telegramm an den Oberleutnant von Kammler.

*           *           *

Tüt hatte sich den ganzen Pfingstvormittag im Park herumgedrückt. Er war sehr traurig. Daß es nach der Aufdeckung des Schwindels mit seiner militärischen Karriere wahrscheinlich aus war, das berührte ihn weniger, — aber daß man ihn da oben jetzt an seinen Offizier verriet, das wollte ihm bei seinem Familien- und Heimatgefühl nicht in den Sinn.

Erst als die Mittagsglocke ihn zum zweiten Mal gerufen, sein Magen zum dritten Mal geknurrt — und die Wunder der Festtagstafel sich vor seinem geistigen Auge malten, entschloß er sich zu dem Gang nach dem Eisenhammer.

Schon drei Zimmer weit hörte er Lachen und Gläserklingen. In der Tür wurzelte er vorschriftsmäßig fest und harrte seiner Vernichtung. Aber nichts von alledem.

„Ah — unser Fähnrich!” rief Oberleutnant von Kammler so aufgekratzt, wie Tüt ihn nie gesehen. „Wozu also haben Sie Urlaub erbeten, Fähnrich?”

„Zur — zur Verlobung meiner Schwester.”

„Sehr richtig! Und es ist Ihr Glück, Fähnrich, daß Sie die Wahrheit gesagt haben! Dafür wollen wir uns von heut an außerdienstlich duzen, Prost Tüt!”

In des kleinen Fähnrichs Antlitz malten sich eine Reihe verschiedenartiger Empfindungen — unter anderem auch ein gewisser Zweifel: Feierte man heute eigentlich Ostern oder Pfingsten? Oder fielen gar beide auf einen Tag? Erst als die strahlenden Augen der Schwester ihn wie eitel Pfingstsonne anleuchteten, da fand er sich wieder im Kalender zurecht. Es war das „Fest der Freude” — er war zu Hause und — — durfte nun sorgenfrei essen.

— — —